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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Michaelistag, 26.09.2013

Predigt zu Matthäus 18:1-6.10 „Wenn ihr nicht werdet wie die Kleinen“. Risiken und Nebenwirkungen, verfasst von Dörte Gebhard


Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen, Amen.

 

Liebe Gemeinde,

wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ...
Weil es Kinder immer ganz genau nehmen:
Wenn ihr nicht werdet wie die Kleinen, ... werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.

 

Die heutige Predigt widmet sich den Risiken und Nebenwirkungen dieses Satzes Jesu, der eine unerwartet starke Medizin ist - je älter das Kind Gottes wird, um so kräftiger könnte sie wirken. Aber dazu darf man nicht jede scheinbar schon bekannte Pille unzerkaut schlucken.
Hören wir zuerst den Zusammenhang, also die Packungsbeilage dieses Satzes im Evangelium, wie ihn Matthäus im 18. Kapitel aufgeschrieben hat:

In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus und sagten: Wer ist nun der Grösste im Himmelreich? 2 Da rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte 3 und sprach: Amen, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen. 4 Wer sich also zu den Geringen zählt wie das Kind hier, der ist der Grösste im Himmelreich. 5 Und wer ein Kind wie dieses in meinem Namen aufnimmt, nimmt mich auf.

6 Wer aber einen dieser Geringen, die an mich glauben, zu Fall bringt, für den wäre es gut, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres versenkt würde. 10 Seht zu, dass ihr nicht eins dieser Geringen verachtet! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel schauen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel. Mt 18, 1-6.10

 

Liebe Kinder - liebe grosse Kinder Gottes,
die Jünger Jesu streiten, gar sehr kindisch, wer der Beste, der Grösste, überhaupt der Sagenhafteste ist. Es ging also genau so zu, wie es bis heute unter grossen, nach Altersjahren erwachsenen Kindern üblich ist: 12 Männer in den besten Jahren sind viel Konkurrenz, wahrscheinlich gibt es auch nicht wenig Gründe zum Neid, zur Eifersucht, zu Kränkungen, zu Beleidigungen aller Art.

Stellen Sie sich insgesamt 13 Männer Ihrer Wahl vor, die einen komplizierteren Auftrag haben als nur Fussball spielen oder einen Stammtisch gründen. Im Bibelgesprächskreis haben wir jedenfalls gelacht, wir Weiber, überwiegend, als wir uns diese Männer-Streitereien lebhaft ausmalten.

Seit dem 20. Jahrhundert haben sich selbstverständlich kluge Frauen gefragt, ob Jesus mit mehr Frauen im engeren Sympathisantenkreis mehr Glück, mehr "Erfolg" gehabt hätte. Ich habe diese Frage für mich schon früh verneinen müssen. Bis jetzt sind mir 12 brauchbarere (!) Frauen noch nicht begegnet. Es gibt insgesamt keinen Grund zu feministischen Grössenwahnsinnigkeiten.

Da ruft Jesus ein kleines (!) Kind herbei.
Er ruft kein besonders braves, artiges, liebreizendes Kind herbei. Keines, wo alle rundrum „Jö!" und „Herzig!" rufen. Aber das hätte manchen der späteren Leserinnen natürlich sehr, sehr gut gefallen!
Wenig erstaunlich haben die Interpreten dieser Stelle immer gelesen, obwohl das wirklich nicht dasteht:
Wenn ihr nicht werdet wie die braven, wie die artigen Kinder ...

Das ideale Kind wandelte sich mit den Jahrhunderten, aber keusch, sanftmütig, unschuldig und naiv, das hat sich lange durchgehalten: So sollten Kinder sein oder man glaubte, so seien Kinder früher auf jeden Fall gewesen. Wenn man selbst dieser rückwärts gerichteten Hoffnung keinen guten Grund geben konnte, dann waren die Kinder eben noch viel früher viel besser, viel frömmer, viel harmloser gewesen.

Aber Jesus geht es gerade nicht um Artigkeiten, er war ja selbst auch nicht gerade ein Lieber. Vor allem war er kein Vater, schon gar nicht DER Vater, sondern ein Sohn, das hat er immer betont. Deshalb pfeift er für seine streitenden Jünger auch kein Kind heran, das sich danebenbenommen hat, das hätte auch zu viele Rechthaber und Rechthaberinnen bestätigt und beglückt.

Denn diese Sicht der Dinge und vor allem der Kinder hat sich ebenso prominent erhalten. Kinder, so glaubte man damals auch, sind von vornherein ungeformt, müssen aufgerichtet werden, müssen begradigt, müssen also erzogen werden. Sie kommen übel auf die Welt und müssen sofort gebessert werden. Kinder seien frech und anstrengend, launisch und laut, triebhaft und eifersüchtig, neidisch und unvernünftig und überhaupt, so meinte der große Kirchenvater (!) Augustin, lieber den Tod erleiden als nochmal zur Schule gehen! Er war bei diesem entscheidenden Gedanken nicht auf Lehrstellensuche, sondern 62 Jahre alt.
Sein himmlischer Vater hat diesen mehr als kindischen Wunsch respektiert, Augustin wurde 76 Jahre alt und ging bis zuletzt nicht mehr zur Schule.

Liebe Gemeinde,
Jesus geht also zwei gewaltige Risiken ein, wenn er uns die Kinder als Vorbilder hinstellt. Die Nebenwirkungen der Missverständnisse sind bis auf den heutigen Tag gegenwärtig.
Die einen denken an brave Kinder und die anderen an solche, die wirklich Erziehung nötig haben. Beide sind nicht gemeint. Jesus redet von kleinen Kindern, also solchen, die machtlos sind gegen die Willkür und die Gewalt der grossen Kindsköpfe.

Jede Menge Unsinn und Gewalt mussten Kinder erdulden, weil sich manche Leute für allwissende Erwachsene hielten - und es gar nicht waren. Sie hatten manches vergessen, vor allem aber, dass sie auch mal klein waren. Ich beschränke mich auf ganz wenige Beispiele:

Kleinstkinder wurden jahrhundertelang engstmöglich eingewickelt, weil man fürchtete, sie würden sich sonst ihre eigenen Ohren abreissen, sich ihre eigenen Augen ausstechen oder Knochen verrenken, wenn sie sich denn bewegen würden. Statt Nuggi/Schnuller gab es Lutschbeutel mit Mohn, das sollte die Kinder schläfrig und pflegeleicht machen. Man stopfte in sehr guten Zeiten sehr viel Essen in sie hinein, damit sie Hungersnöte besser überstehen sollten. Die Engel mit ihren dicken Pausbacken und fetten Schenkeln in Barockkirchen legen von dieser Tradition heute noch beredtes Zeugnis ab.

Kinder wurden in der Weltgeschichte entsetzlich gequält. Dostojewski verzweifelt darüber an der Güte Gottes. Er schreibt in seinem Roman „Die Brüder Karamasow": „Ich rede nicht von den Leiden der Grossen. Die haben den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen und zum Teufel mit ihnen, aber die Kinder, die Kinder." Wenn der Weg ins Himmelreich über Kinderleichen und Kinderqualen gehen muss, dann will Iwan Karamasow von diesem Himmel nichts wissen: „Nicht Gott lehne ich ab, Aljoscha, sondern ich gebe ihm nur ehrerbietig die Eintrittskarte zurück."

Ich breche die Erzählung der grossen und kleinen Quälereien hier ab im Gedenken an alle Kinder dieser und vergangener Zeiten, die unvorstellbar furchtbare Kindheiten erlitten haben und in der Gegenwart noch erleiden. Ich kehre zurück zu Jesus, der allen Kindern das Himmelreich verheisst, ganz gleich, was sie erleben und erleiden müssen.

Jesus stellt kein liebes und kein schlimmes, sondern ausdrücklich ein kleines Kind in die Mitte. Die Kindheit vor 2000 Jahren war übrigens sehr kurz, nur ungefähr sieben Jahre lang. Wer Waisenkind war - und es gab viele - war ab dem 7. Geburtstag auf sich allein gestellt, musste verantwortlich für sich sorgen, sich durchs Leben schlagen.

Jesus braucht einfach eines der Kleinen für seine grossen Kinder als Lehrperson, da ist es völlig uninteressant, wie sich das kleine Kind aufführt!
Das hat immer schon manche Lehrerinnen aufgeregt und Eltern sowieso, aber Jesus ist für alle Menschen da, nicht nur für die sogenannten Erziehungsberechtigten oder die sich dafür halten, sondern wirklich für alle. Und nur eines sind wir wirklich alle, alle und für immer: Kinder. Es kann sein, dass wir diese Gemeinsamkeit manchmal übersehen, weil wir auf die weissen Haare schauen oder auf die Glatze, weil uns schon lange niemand mehr daran erinnert hat, dass wir alle inzwischen bloss gross geworden sind. Aber wir sind und bleiben grosse, riesige - Kinder!

Jesus stellt ein Kind in die Mitte zwischen die streitenden Jünger, in der antiken Gesellschaft der Inbegriff eines machtlosen Wesens. Kinder galten als unfertig und kraftlos, eigentlich als völlig bedeutungslos. Niemand feierte einen Kindergeburtstag, aber alle schauten, wann eines groß genug war, um zu arbeiten! Bei den Buben wurde noch zusätzlich geprüft, wann sie militärisch brauchbar wurden.
Ein Kind wird als Vorbild vorgestellt, das ist eine eigentliche Beleidigung, besonders auch für die damaligen Juden: "Schlaf am Morgen, Wein am Mittag, Schwatzen mit Kindern und Sitzen in Versammlungen von Unwissenden, das ist es, was aus der Welt bringt."1 So war die damalige Tonlage und Stimmung.

Ein Kind zur Zeit Jesu konnte gar nichts machen - niemand kann heute etwas „machen", um ins Himmelreich zu gelangen.
Ein Kind bei Jesus kann nichts fordern, nichts durchsetzen, nichts herbeizwingen, es muss alles erhoffen - und uns allen bleibt nur die Hoffnung, aber die mit der Riesenkraft, die Kinder für ihre Wünsche haben können, sogar noch für die damals hoffnungslosen Wünsche.

Liebe Gemeinde,
die angedrohte Strafe klingt wie purer Horror: Wer aber einen dieser Geringen, die an mich glauben, zu Fall bringt, für den wäre es gut, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres versenkt würde. Aber das war wohl normal - für neugeborene, missgebildete Kinder, die auf diese Art aus der Welt geschafft wurden. Die Methoden waren harsch, was nicht geraten schien, wurde kurzerhand umgebracht.

Nun aber endlich das Himmelreich! Darum geht es, die Jünger und alle, alle wollen hinein. Die gute Nachricht: Es kann sogleich beginnen, wenn wir wieder werden wie Kinder.
Wie werden wir wieder wie Kinder?
Jesus sagt nun erstaunlich banale Dinge:
Wir werden wie Kleine, wenn wir die vielen Kleinen aufnehmen und nicht verachten.

Wenn wir die Sorgen und Nöte der Kleinen nicht verachten, sie mögen uns gering erscheinen, aber für ein kleines Kind ist ein kleines Leid gross. Und kleine Menschen können gewaltiges Leid erleben.

Wenn wir den Kleinen unser Interesse nicht verweigern, wenn wir ihre Fragen aushalten, die meistens etwas zu schwer für uns sind. Z.B.
„Mama, warum bin ich auf der Welt?"
„Wo ist der Erwin jetzt, wo er tot ist?"2
„Ist Gott durchsichtig?"

(Zu diesen Fragen ist hier in der Gemeinde ein Eltern- und Grosselternabend geplant, zu dem ich Sie schon jetzt herzlich einlade.)

Wenn wir einsehen, dass wir selbst auch immer noch ziemlich klein sind, dass wir einander nötig haben, dass wir darauf angewiesen sind, aufgenommen und nicht verachtet zu werden.

Wenn wir uns nicht mit Macht dümmer anstellen als wir ohnehin sind, sondern neugierig bleiben, das Staunen nicht verlernen und vor allem die Herzenswünsche und die Hoffnung nicht aufgeben.

Dazu helfe uns Jesus Christus, der es riskierte, als Kind auf die Welt zu kommen, der die Kleinen liebte und nie vergass, dass wir alle Menschenkinder sind und bleiben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere ‚kinderliche' Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.

 



Pfarrerin Dr. Dörte Gebhard
CH-5742 Kölliken/Schweiz
E-Mail: doerte.gebhard@web.de

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