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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Michaelistag, 29.09.2013

Predigt zu Matthäus 18:1-6.10 Sein Engel, ist immer dabei", verfasst von Jochen Riepe

 

I

Ein Kind kommt niemals allein . Mag die Mutter fehlen oder auch der Vater , aber ein Engel, sein Engel, ist immer dabei. ‚Seht zu , daß ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet‘.

II

Es war in Arles in Südfrankreich . Der Junge , etwa acht, neun Jahre alt, ließ nicht locker. Er verfolgte uns. Wenn ich seinen Blick beschreiben sollte : keck, herausfordernd, aber auch bittend , erwartungsvoll. ‚Monsieur, Madame, un‘ aumone‘... ein Almosen , eine Spende. Wir zögerten. Der Bettler waren in dieser Gegend nicht wenige und sie galten als aggressiv oder lästig. Dieser Junge ! Diese Augen ! Der Schriftsteller Peter Handke fragt in seinem Reisetagebuch nach einen Verb für die Augen der Kinder und er findet : ‚Kommen entgegen. Verläßlich überall auf der Welt, fast‘*.

III

Sehet zu , daß ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet.‘ Daß Kinder zu Jesus kamen oder daß sie zu ihm gebracht wurden, das hören wir immer wieder , liebe Gemeinde, im sog. Kinderevangelium. Teilhabe an Jesus - Teilhabe an seinem Segen , an seinen heilenden Kräften! Daß aber darüber hinaus , Kinder Jesus ‚entgegenkamen‘ und auch bei ihm oder von den Jüngern aufgenommen werden wollten, das ist uns eher unbekannt **. Galiläa war zur Zeit Jesu ein armes Land und es kam nicht selten vor , daß Eltern ihre Kinder nicht ernähren konnten oder zum Abarbeiten von Schulden in die Schuldsklaverei verkauften . Liefen diese Kinder von ihren Herren fort , lebten sie anscheinend auf der Straße oder der Landstraße. ‚Straßenkinder‘, Bettelkinder würden wir heute sagen ; Kinder, die sich durchschlagen mußten , die getreten , gefürchtet und verachtet waren.

IV

War Jesus mit seinen Worten und Taten ,mit dem Ruf gleichsam, der ihn umgab oder vorauseilte, nicht gerade für diese vogelfreien ‚Kleinen‘ äußerst anziehend ? ‚Selig sind die Armen, denn sie sollen Gottes Kinder heißen‘, hatte er gepredigt und diese Botschaft haben nicht nur erwachsene Frauen und Männer gehört , sondern eben auch die ‚Kleinen‘. Allerdings : Wenn Kinder dabei sind, werden die Dinge schwieriger. ‚Sie können nicht bleiben‘, werden die Jünger gesagt haben . ‚Was sollen wir mit ihnen anfangen? Sie müssen zu essen haben , sie machen sich schmutzig; sie müssen schlafen , sie sind langsam , sie sind eine Last und manchmal sind sie nervig oder unberechenbar ... und sie klauen!‘ ‚Die Jünger aber fuhren die an , die sie trugen‘ heißt es im Kinderevangelium . Entsprechend scharfe Reaktionen lassen sich auch in direkter Weise denken : ‚Macht , daß ihr weg kommt!‘

V

Ein Kind kommt niemals allein ... Sein Engel ist immer dabei ! Diese großen, dunklen , wirklich entgegenkommenden Kinderaugen! In Arles haben wir -ehrlich gesagt- nicht an Engel gedacht. Die Frauen in der Gruppe hielten ihre Handtasche fest und ich griff nach meinem Portemonnaie. Ein kecker , herausfordernder Blick , ein Blick aber auch bittend , erwartungsvoll , alle Beschützerinstinkte weckend. Ja, dieser Junge bereitete uns wahrhaft gemischte Gefühle. Er bettelte . Vielleicht gehörte er sogar zu einer Bettlerbande ! Aber gerade diese erwartungsvolle Bedürftigkeit , diese bittende Kleinheit tat ihre machtvollen Wirkungen. Was auch immer sein Gedanke, sein Ziel, seine Absicht gewesen war -entscheidend war in dieser Augen-begegnung sein Sein . Sein offenes und darin öffnendes , an-rührendes Sein. Ich weiß : Das kann schnell kitschig werden , aber auch der Kinderkitsch lebt und zehrt von der Wahrheit , die in diesen Kleinen uns anruft oder eben : an-sieht.

VI

Sehet zu, daß ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet‘. Jesus warnt die Jünger; er warnt die spätere Gemeinde, denn die Verachtung dieser Kleinen - wie der Armen überhaupt - ist anscheinend bei den Christen eine naheliegende Gefahr. Warum eigentlich ? Kinder sind doch niedlich; sie ‚kommen uns entgegen‘ ... wir lieben es , sie zu erziehen und zu formen ... Verachtung -mit den Füßen treten ? Man kann jetzt an Straßenkinder in Brasilien z.B. denken , deren Leben äußerst gefährdet ist; man kann auch an die Kinder denken, die zu Kindersoldaten abgerichtet und traumatisiert wurden; man kann jetzt aber auch an unsere Kinder denken, an die Opfer sexuellen Mißbrauchs oder an die ‚Kleinen‘, die in ganz normalen Familien an hehren Erziehungszielen, hochgesteckten Erwartungen und Idealbildern buchstäblich zu tragen haben . Und wehe , wenn sich dann der kindliche Eigen-Sinn, der Widerstand oder die Bosheit regt ! ‚Haben wir nicht alles für dich getan!‘ Verachtung hat viele Gestalten und Motive - Raub, Gewalt , aber auch die Enttäuschung von ehrgeizigen Erziehern.

VII

‚Bei euch soll es so nicht sein!‘ sagt Jesus und steigert dann die kindliche Offenheit und Verletzbarkeit , ja, dieses ‚Entgegenkommen‘ der Kinderaugen zu einem himmlischen Entgegenkommen und Dabeisein . Kinder kommen niemals allein. Ihre Engel sind immer bei ihnen und diese Engel, sagt Jesus ‚‘ sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel.‘ Daß jedes Kind einen Schutzengel hat, ist für manchen ein schönes, tröstliches Bild; für andere eher ein frommes Märchen . Aber vielleicht darf ich die Poesie des Evangeliums schlicht und staunend wiederholen : Diese vor Gott stehenden Engel sind gleichsam Gottes Augen und Spiegel ,mit denen er die Augen der Kinder sieht. Gott erwidert ihren Blick , gebrochen im Engels-Blick, der Gott, den Jesus seinen ‚Vater im Himmel‘ nennt , und in diesem Blick zeigt er sich als Vater und Schutzherr dieser Kinder : ‚Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf‘.

VIII

Ein Kind kommt niemals allein. Sein Engel ist bei ihm und manchmal ist sogar Michael, der oberste der Engel , bei ihm und schärft der Gemeinde Jesu dieses Wort ein. Kämpferisch .Engagiert. Das Gegenteil von Verachtung ist - Anerkennung, Aufnahme ‚der Kleinen‘ - manchmal in Freude , manchmal auch in Ärger , möglichst immer aber in Geduld ... Aufnahme dieser offenen, verletzbaren , schutzbedürftigen und dennoch eigensinnigen oder eigenwilligen Wesen. Kinderkitsch oder Jugendwahn - alles das kann nicht bestehen, aber im Begleiten der ‚Kleinen‘ , im Eintreten für ihre Bedürfnisse ,im Respekt vor ihrem Eigensinn und auch in der Toleranz ihres ‚Schmutzes‘ - kurz : im Mit-Ihnen-Sein, im Gespräch mit ihnen , darin könnte das Besondere der Gemeinde Jesu im Leben mit Kindern und Jugendlichen bestehen.

IX

‚Monsieur, Madame, un'aumone... ein Almosen ... eine milde Gabe...‘ Diese Kinderaugen ... ‚kommen entgegen überall auf der Welt‘ und öffneten unsere Hände in Arles in Südfrankreich.

 



Pfarrer Jochen Riepe
44137 Dortmund
E-Mail: Jochen.Riepe@gmx.net

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