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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Michaelistag, 29.09.2013

Predigt zu Matthäus 18:1-6.10 "Der liebe Gott sieht alles", verfasst von Gert-Axel Reuß


 

Breit aus die Flügel beide,
o Jesu, meine Freude,
und nimm dein Küchlein ein.
Will Satan mich verschlingen,
so laß die Englein singen:
»Dies Kind soll unverletzet sein.«"
(Paul Gerhardt - EG 477, 8)

 

Liebe Gemeinde,

wenn ich diese Liedzeilen singe oder höre, werde ich in Gedanken zu einem kleinen Kind. Ich bin bei meinen Großeltern zu Besuch, sie bringen mich zu Bett. Wir singen und beten. Dann lassen sie mich allein, aber ich fühle mich bei ihnen geborgen. Im Kinderbett bei meinen Großeltern ist es warm und sicher.

Ich erinnere mich daran, dass mein Großvater den Teufel für eine ziemlich reale Macht hielt. Es mag sein, dass dies mit seinen Kriegserlebnissen zusammenhing. So genau habe ich das damals nicht wissen wollen und begriffen. Denn es bekümmerte mich nicht. Die Glaubensbotschaft meiner Großeltern war: „Habe keine Angst, Gottes Engel beschützen dich."

„Der liebe Gott sieht alles!" - Für mich drückt dieser Satz vor allem Schutz und Geborgenheit aus. „Der liebe Gott sieht mich!"

Dass dies auch ganz anders wahrgenommen werden kann, erfuhr ich als junger Erwachsener durch Tilmann Mosers schockierendes Buch „Gottesvergiftung". Dort wird eine Szene beschrieben, die mir nicht unvertraut ist. Schokolade, Bonbons oder irgendwelche anderen Süßigkeiten liegen an einem bestimmten Platz in der Speisekammer. Wir Kinder wussten genau, wo das „Versteck" war, und die Verlockung, sich ungefragt zu bedienen, war groß. Uns hinderte die Angst vor der Entdeckung durch die Eltern. Bei Tilmann Moser wird diese Angst gesteigert zu dem Satz: „Der liebe Gott sieht alles!" Für ihn hat Gott alle Liebe verloren und ist durch die repressive Erziehung seiner Eltern zu einem Kontrollfreak geworden.

 

Liebe Gemeinde,

wie kann man das zusammendenken und zusammen glauben: Ein Leben unter dem Schutz Gottes und ein Leben in freier Selbstentfaltung? Wie können die konträren Erwartungen, die wir mit dem Glauben an Gott verbinden, zusammenkommen? Schutz oder Liebe? Der Konflikt, der sich hier zeigt, durchzieht die ganze Bibel, weil Freiheit eben auch die Möglichkeit einschließt, sich von Gott abzuwenden.

„Der liebe Gott sieht alles!"

Was folgt daraus, wenn Selbstmordattentäter ein Einkaufszentrum in Nairobi, Kenia, stürmen, um möglichst viele Menschen in den Tod zu reißen? Was folgt daraus, wenn irgendwelche Kommandeure in Syrien den Einsatz von Giftgas anordnen? Was folgt daraus, wenn Unschuldige sterben müssen?

Der Philosoph Max Horkheimer hat in einem späten Interview im SPIEGEL einer vagen Sehnsucht Ausdruck verliehen, dass der Tod des Unschuldigen nicht ungesühnt bleiben und der Mörder nicht über sein Opfer triumphieren möge. Mit vielen anderen teile ich diese Hoffnung, obwohl ich in einer abschreckenden Strafaktion gegen das syrische Regime gerade keine Lösung des Konflikts, keinen Schritt zum Ende des Bürgerkrieges erkennen kann.

Immer wieder haben Menschen in großen Notlagen von einem Strafgericht Gottes geträumt, welches die Feinde hinwegfegt und das erlittene Unrecht vergilt. Die Psalmen sind voll solcher Stoßgebete. Jesus nimmt auf diese Sehnsucht in einigen Gleichnissen Bezug und bestätigt sie.

Dies gilt es, ernst zu nehmen und Unrecht nicht nur beim Namen zu nennen, sondern aktiv zu bekämpfen. Aber die Gleichung „Frohe Botschaft für die Armen, schlechte Nachrichten für die Reichen" ist falsch. Im Sinne des Evangeliums müsste sie heißen: „Gute Nachrichten für die Armen, für die Kleinen, für die Opfer sind am Ende auch gute Nachrichten für alle!"

Das allerdings setzt einen Umdenkungsprozess voraus, der beiden Seiten nicht leicht fallen wird. Opfern und Tätern. Ein Umkehrungsprozess, für den Jesus mit seinem Leben bürgt.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Der 22. Psalm, den Jesus am Kreuz betet, ist ein Vertrauenspsalm! Er verharmlost nicht, was manche Menschen einander antun. Was Menschen erleiden müssen. Das wird nicht weggewischt: „Alles halb so schlimm, Gott wird's schon richten". Das gerade nicht, sondern das menschliche Leid wird ausgesprochen und klagend abgeschritten, vor Gott gebracht mit allen Einzelheiten.

Man könnte meinen: Gott sieht es doch sowieso. Und so ist es doch auch, daran glauben wir. Warum tun wir es dennoch, klagen wir Gott unser und anderer Menschen Leid?

Vielleicht hoffen wir auf ein Wunder. Wer will das ausschließen, dass ein amerikanischer Präsident, Träger des Friedensnobelpreises, seine Kriegsdrohungen suspendiert.

Wir tun es vor allem aber für uns selbst. Wir tun es, um unser Vertrauen in Gott zu erneuern, das erschüttert ist. Wir tun es auch, um unsere Wahrnehmung zu schulen. Damit Gottes Barmherzigkeit und Liebe unser Handeln bestimmen.

„Der liebe Gott sieht alles!"
Ja, so ist es! Aber die Frage ist, was und wie wir sehen.

 

Liebe Gemeinde,

noch ein Gedanke zum Kreuz Jesu. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Hören wir Jesus einen Vertrauenspsalm beten? Oder packt uns die Angst, Gott könnte Jesus in seiner bittersten Stunde, im Sterben allein gelassen haben?

Ja. Es ist schwer zu glauben, dass Gott da ist in solcher Not. Keine Rettung in letzter Minute, keine Begnadigung durch Pontius Pilatus. Das Kreuz Jesu zwingt uns, Abschied zu nehmen von der Hoffnung, dass doch noch ein Wunder geschieht. An solch einen „ohnmächtigen" Gott sollen wir glauben? Der das Leid einfach zulässt?

Ja, liebe Gemeinde! Diesem Gott vertrauen wir im Leben und im Sterben. Gerade das ist die Rettung. Auch wenn dies bedeutet, dass wir unsere Vorstellungen von Macht und Ohnmacht, von „klein" und „groß", dass wir auch unsere Vorstellungen vom Leben und vom Tod aufgeben müssen, um zu glauben. Weil unsere Vorstellungen - wie wir selbst - gebunden sind an diese Welt.

Wenn ich nun sage: „Gott ist größer!" dann meine ich damit keine Steigerung unserer Vorstellungen von Größe, sondern etwas ganz anderes. Etwas, das unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Welches das „Kleine" einschließt, ohne dass damit einfach nur die Vorzeichen umgekehrt wären.

Vor Gott reicht es gerade nicht aus, dass die Arme erhöht und der Reiche erniedrigt würde, so sehr wir - wenn wir denn „unten" stehen - uns nach einem solchen Ausgleich sehnen. Das schwer zu begreifende Geheimnis des Reiches Gottes besteht darin, dass arm und reich, oben und unten, klein und groß an Aussagekraft verlieren, weil ihre Gegensätzlichkeit nicht mehr besteht. Sogar der Gegensatz von „gut" und „böse" wird aufgehoben.

Dietrich Bonhoeffer formuliert in seinem Glaubensbekenntnis, dass Gott aus allem, auch dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Er hat in seiner Gefängniszelle noch hinzugefügt: Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Solch ein Umdenken, wie Bonhoeffer es beschreibt, ist möglich und ist geschehen. Oft sind es die Opfer selbst, nicht die Täter, die den ersten und entscheidenden Schritt tun. Den Deutschen ist nach den unvorstellbaren Gräueltaten während der Nazidiktatur die Hand zur Versöhnung gereicht worden. Unser Volk konnte zurückkehren in die Familie der Völker. Ich habe es nicht selbst erlebt, weder Krieg noch Schuld. Aber ich und meine Generation haben profitiert davon, dass eine schreckliche Vergangenheit die gemeinsame Zukunft nicht mehr verdunkelt.

Ein zweites Beispiel. Es ist noch nicht so lange her. In Südafrika wurde nach dem Ende der Apartheid, als die Menschen nicht mehr eingeteilt wurden nach der Farbe ihrer Haut, 1996 eine Wahrhheits- und Versöhnungskommission eingesetzt, um die Macht der Vergangenheit brechen, um schuldhafte Verstrickungen aufzulösen und einen neuen Anfang zwischen Schwarzen und Weißen zu ermöglichen. Die Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela, die selbst Mitglied der Kommission war, meinte dazu:

„Gerichte ermutigen Menschen, ihre Schuld zu bestreiten. Die Wahrheitskommission lädt sie ein, die Wahrheit zu sagen. Vor Gericht werden Schuldige bestraft, in der Wahrheitskommission werden Reuige belohnt."

 

Liebe Gemeinde,

die Frage ist, was und wie wir sehen. Gott braucht Menschen, die die Welt mit seinen Augen sehen. Wir brauchen Menschen, die uns mit den Augen Gottes sehen.

„Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein," dichtete Rudolf Otto Wiemer, „die Engel." Botinnen und Boten Gottes leben unter uns. Schutzengel, wenn man so will. Weil sie uns vor Leichtsinn bewahren und Unachtsamkeit. Weil sie uns immer wieder den Weg Gottes zeigen.

Wir selbst werden zu Botschaftern des Evangeliums, wenn Gottes Liebe und seine Barmherzigkeit unser Denken und Handeln bestimmen. Dazu gehört - daran erinnert uns R. O. Wiemer - gelegentlich auch ein kräftiges „Nein". Ein Nein zu blinder Vergeltung und ein Ja zu der Hoffnung, dass Gott aus allem Gutes entstehen lassen kann und will, wenn wir uns seinem Weg und Willen anvertrauen.

Amen.

„Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.
Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
oft sind sie alt und hässlich und klein,
die Engel.

Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand,
die Engel.
Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand,
oder er wohnt neben dir, Wand an Wand, 
der Engel.

Dem Hungernden hat er das Brot gebracht,
der Engel.
Dem Kranken hat er das Bett gemacht,
und hört, wenn du ihn rufst, in der Nacht,
der Engel.

Er steht im Weg und er sagt: Nein,
der Engel.
Groß wie ein Pfahl und hart wie ein Stein -
Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel."

Rudolf Otto Wiemer

 



Domprobst Gert-Axel Reuß
23909 Ratzeburg
E-Mail: gertaxel.reuss@ratzeburgerdom.de

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