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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Erntedanktag, 06.10.2013

Predigt zu Matthäus 6:19-23, verfasst von Jennifer Wasmuth

 

 

Liebe Gemeinde,

für unseren heutigen Erntedankgottesdienst ist ein biblischer Text vorgeschlagen, der ganz unscheinbar daherkommt, aber es in sich hat. Es handelt sich um wenige Verse aus der berühmten Bergpredigt, Sätze, die Jesus mit der ganzen Autorität seiner göttlichen Sendung gesprochen hat:

19 Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen.
20 Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen.
21 Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.
22 Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.
23 Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein?

Dieser Text hat es in sich, denn er stellt unser Denken und Handeln im Großen wie im Kleinen in Frage: Unser ganzes System in Wirtschaft und Gesellschaft ist ja darauf ausgerichtet, »gewinnorientiert« zu sein. Das erklärte Ziel ist es gerade, die eigenen Güter zu vermehren, also Schätze auf Erden zu sammeln, und desto mehr wir davon haben, umso besser ist es.

Besitzend, vermögend zu sein, das ist bei uns keine Schande, im Gegenteil, wer materielle Güter angehäuft hat, Wohlstand vorweisen kann, der gilt als erfolgreich, hat etwas erreicht in seinem Leben.

Ganz anders dagegen Jesus in seiner Rede: Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden! Ihr sollt euch anders orientieren, euren Blick in eine ganz andere Richtung lenken, nicht hinunter zur finsteren Materie, sondern hinauf zum lichten Himmel!

Für diese radikale, an die Wurzel unserer gewohnten Lebensweise gehende Forderung gibt Jesus eine Begründung - und es ist diese Begründung, die aufmerken, die erst so recht nachdenklich werden lässt. Denn Jesus erinnert an eine schlichte, einfache Tatsache: Reichtum ist vergänglich.

Wer aber könnte das nicht bestätigen? Die Motten kommen und fressen unsere Kleider; der Rost bemächtigt sich unserer Autos; Diebe brechen in unsere Eigenheime ein, sie stehlen uns das Geld, das wir gut verwahrt auf der Bank glaubten.

Reichtum ist vergänglich, Besitz ist nichts, was auf ewig hält.

Auf diese Tatsache, die doch gerne verdrängt wird, bin ich selbst gestoßen worden, als vor einigen Jahren hier in Heiligendorf eine kleine Gruppe gebeten worden war, sich das noch im Rohbau befindliche Seniorenheim anzuschauen. Wir erhielten eine Führung auf dem Gelände, das damals noch eine große Baustelle war. Die Mauern standen schon, Treppen führten uns zu den verschiedenen Stockwerken; uns wurden die Teeküchen und Aufenthaltsräume gezeigt, schließlich auch ein fast fertiges Apartment.

Als wir uns als Gruppe da hinein gedrängelt hatten, wurde uns im Einzelnen beschrieben, wie die sanitären Anlagen aussehen und wo das Bett und der Schrank stehen würden. In diesem Zusammenhang fiel ein Satz, der mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist: »Selbstverständlich dürfen unsere Kunden auch persönliche Gegenstände mitnehmen.«

Ja, haben wir uns in der Gruppe gleich gefragt: Was würde das denn wohl sein können? Ein kleiner Sessel vielleicht, ein Kerzenhalter, ein Bilderrahmen? Und ich ging im Geiste durch unser schönes großes Pfarrhaus und überlegte mir mit nicht geringem Unbehagen, wie schwierig eine solche Wahl fallen dürfte und was unter dieser Vorgabe alles zurückbleiben müsste.

Reichtum ist vergänglich, irdische Schätze haben nur einen sehr bedingten Wert. Jesus ist da ganz nüchtern: wer sein Leben auf äußeren Besitz baut, geht am Ende leer aus.

Was aber sind dann die Schätze im Himmel, von denen in der Bergpredigt die Rede ist? Was lässt unseren Leib licht werden und hält die Finsternis fern?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir zunächst einmal verstehen, was in unseren Versen eigentlich mit »Himmel« gemeint ist. Denn das scheint heutzutage überhaupt nicht mehr klar zu sein, im Gegenteil: Der Himmel ist, wie ein Journalist vor Kurzem geschrieben hat, »von allen Religionsworten das überholteste. Himmel - das ist der komplette Kinderglaube, Mittelalter, ein mythologisches Weltbild, in dem die Erde eine Scheibe ist, darunter im Höllenabgrund der Teufel sitzt und obendrüber die Engel durch den Äther fliegen.«1

Was also ist der »Himmel«, von dem in der Bergpredigt die Rede ist, und warum kann in dem »Himmel«, wie der eben erwähnte Journalist meint, tatsächlich ein »Schlüssel zu Menschenfreiheit und Menschenwürde« liegen?

Mit der Bergpredigt wird uns, liebe Gemeinde, eine großartige Hoffnung verkündet: die Leidtragenden sollen getröstet werden; die Sanftmütigen das Erdreich besitzen; es sollen Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden herrschen. Verkündet wird uns Gott als Schöpfer, der sich um uns sorgt, Gott als unser Vater im Himmel, an den wir uns voller Vertrauen wenden können.

Mit »Himmel« ist also gar nicht ein fester Raum gemeint, ein Ort irgendwo »oben«. Mit »Himmel« ist vielmehr die Erfahrung gemeint, dass Gott sich unser annimmt: dass wir uns als seine Geschöpfe begreifen können, egal ob wir reich oder arm, gesund oder krank, mehr oder weniger gebildet sind. Das aber bedeutet: Von Gott her erfahren wir eine Würde, die unantastbar ist, eine Würde, die vor allen Bewertungen und Zuschreibungen gilt, denen wir in Familie, Gemeinde und Gesellschaft immer wieder ausgesetzt sind.

Erfahren wir uns aber in dieser Weise als Geschöpfe Gottes, so können wir uns von überzogenen Selbstansprüchen lösen: von den Fesseln, die wir uns selbst auferlegen, weil wir meinen, wir müssten so oder so sein - die perfekte Hausfrau und Mutter, der Tag und Nacht verfügbare Mitarbeiter, der voll durchtrainierte Sportstyp...

Eine solche Erfahrung kann uns zugleich aber auch freimachen, auf andere zuzugehen, anderen beizustehen, sich von anderen helfen zu lassen. Denn gerade da geschieht ein Stück Himmel, wo wir einander so annehmen, wie Gott uns angenommen hat.

Unsere Band hat gerade das Lied »Another Day in Paradise« für uns gespielt.

Geschrieben wurde das Lied von Phil Collins und Hugh Padgham; sie wollten damit aufmerksam machen auf die extreme Elendssituation von Obdachlosen, wie sie besonders in den Vereinigten Staaten anzutreffen ist.

Das Lied handelt von einem Mann, der an einer Frau vorübergeht. Da ruft die Frau den Mann an: »Mein Herr, können Sie mir helfen? Es ist kalt und ich habe keinen Schlafplatz. Kennen Sie einen Ort, wo ich hingehen kann?«

Der Mann aber läuft einfach weiter, tut so, als ob er sie nicht gehört hätte. Dabei kann er sehen, so in dem Lied weiter, dass die Frau geweint hat, dass sie Blasen an ihren Fußsohlen hat, nicht laufen kann.

In die Schilderung dieser kalten, menschenverachtenden Situation hinein erklingt der Refrain, er ist wie ein Weckruf: »Oh, denk mal nach! Denn dies ist nur noch der Tag für dich, dich und mich im Paradies.«

Der Mann, der achtlos an der Frau vorbeigeht, er wird hier immer wieder und eindringlich ermahnt: Wende dich der Frau zu, hilf ihr! Das ist nicht nur ihre, sondern auch deine Rettung: »Oh, denk mal nach! Denn dies ist nur noch der Tag für dich, dich und mich im Paradies.«

Liebe Gemeinde, das Paradies, der Himmel: das ist Gottes Gabe an uns. Und deshalb, liebe Gemeinde, wenn wir heute Erntedank feiern, dann lasst uns den Dank an Gott, diesen großen Geber großer Gaben, in den Mittelpunkt stellen: den Dank für ein Leben, das sich in seiner gütigen Hand weiß, einer Hand, die uns nicht allein lassen, die uns zueinander führen und uns mit den Schätzen versorgen will, die wir für unser Leben brauchen.

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 



Dr. theol. Jennifer Wasmuth
38444 Wolfsburg
E-Mail: Jennifer.Wasmuth@rz.hu-berlin.de

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