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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 20.10.2013

Predigt zu Johannes 15:9-12 (13-17), verfasst von Mira Stare

 

Liebe Glaubende,

wieder sind sechs Arbeitstage vergangen, an denen die meisten von uns sehr beschäftigt waren sowohl am Arbeitsplatz als auch mit Arbeiten zuhause. Wir sind täglich mit der Logik des Markts und der Konkurrenz konfrontiert. Nicht für jede und jeden ist eine Arbeitsstelle da. Wie oft müssen sich einige Menschen bewerben, bevor sie wirklich einen Platz bekommen. Markt, Vergleich, Selektion usw. setzten uns Menschen oft unter Druck oder können in uns auch Ängste auslösen. Man ist um sich selber besorgt, man hat Angst um die eigene Existenz oder um die eigene Karriere. In solchen Situationen, die unsere Zeit begleiten, bleibt kaum noch der Raum für andere Mitmenschen und die Gemeinschaft mit ihnen. Fast alles ist kalkulierbar und muss Gewinn bringen. Wir fühlen uns oft von anderen Menschen eher bedroht. Dies bringt bereits der folgende lateinische Spruch zum Ausdruck: Homo homini lupus (= Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf).

Konträr zu diesem Trend steht das heutige Evangelium. Es geht um einen Abschnitt aus dem Johannesevangelium, nämlich aus den Abschiedsgesprächen Jesu mit den Seinen unmittelbar vor seiner Passion. Angesichts der Todesgefahr ist es verwunderlich, dass Jesus als Mensch nicht resigniert. In den ganzen Abschiedsgesprächen kümmert er sich nicht um sich selber, sondern um die Seinen. Er wird nicht von Angst überfallen und gelähmt. Umgekehrt, er versucht auch die Seinen von Angst zu befreien. Er gibt ihnen wichtige Hinweise für ihr Zusammensein. Obwohl Gewalt und Bedrängnis bereits vor der Tür stehen, ermutigt Jesus die Seinen zu einem andern Verhalten.

„Bleibt in meiner Liebe!" (Joh 15,9).

Das Bleiben in seiner Liebe konkretisiert sich im Halten seiner Gebote. Diese fasst Jesus in dem Liebesgebot zusammen, indem er sagt:

„Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe." (Joh 15,12)

Die Seinen haben bereits die Liebe von Jesus erfahren. Sie sind eingeladen in diesem Raum seiner Liebe zu leben und zu bleiben. Dadurch sind sie befähigt, einander nach dem Beispiel Jesu zu lieben. Ihre Liebe kann man als die Antwort auf die Liebe Jesu begreifen.

Dort, wo die Liebe gelebt wird, wandeln sich auch die Beziehungen. Jesus sagt den Seinen:
„Ihr seid meine Freunde ... Ich nenne euch nicht mehr Knechte:" (Joh 15,14-15)

Das Verhältnis zwischen Jesus und den Seinen ist nicht das Herr-Sklave-Verhältnis, sondern ein Freundschaftsverhältnis. Er begegnet den Seinen auf der gleichen Augenhöhe. Noch mehr, er teilt ihnen alles, was er vom Vater gehört hat, mit. Menschlich unbegreiflich ist er bereit, sogar sein Leben für seine Freunde hinzugeben. Die Ethik Jesu hat nicht den Herrschaftscharakter, sondern ist eine Freundschaftsethik bis zur letzten Konsequenz. Obwohl sich Jesus in dieser Stunde von den Seinen verabschiedet und anschließend in seine Passion hineingeht, zeigt sich seine Trennung und Distanz von den Seinen nur äußerlich. Tatsächlich bleibt Jesus noch weiter mit den Seinen verbunden, sogar stärker als vorher, was seine Bezeichnung „meine Freunde" für die Seinen zum Ausdruck bringt.

Die Gemeinschaft Jesu mit den Seinen verstärkt sich noch einmal nach der Auferstehung Jesu. Am Ostertag erscheint er Maria Magdalena. Sie bekommt von ihm einen Sendungsauftrag für die Seinen:

„Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen:
Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater,
zu meinem Gott und zu eurem Gott." (Joh 20,17)

Die Seinen sind für Jesus noch mehr als Freunde. Er nennt sie „meine Brüder". Sie gehören zu seiner Familie. Sie haben denselben Vater. Der Vater Jesu ist auch ihr Vater, sein Gott ist auch ihr Gott. Jesus eröffnet den Zugang zum Vater, er lässt uns Menschen an seiner eigenen Beziehung zu Gott teilhaben.

Liebe Glaubende, im heutigen Evangelium macht uns Jesus bewusst, dass wir einen bleibenden Vorschuss der Liebe von Jesus haben. Wir sind von Anfang an von ihm und dem Vater geliebt. Diese Liebe wird uns nie entzogen werden. Sie kann uns aus unseren Sorgen um die eigene Existenz oder um die eigene Karriere befreien. Seine Liebe macht unsere Ängste wirkungslos. Hier zeigt sich eine Weisheit, die auch die moderne Psychologie bestätigt. Man kann lieben, erst wenn man selbst geliebt wird. So macht uns die Liebe Jesu fähig, andere zu lieben. Sie macht unsere Augen für unsere Mitmenschen auf, sie löst unsere Verkrampfungen und Lähmungen und Ängste. Erst in der Gewissheit, dass wir geliebt sind und dass uns die Liebe Gottes nie entzogen wird, bekommen wir Schwung und Atem, zu anderen Menschen zu gehen und ihnen wirklich zu begegnen.

Jesus lädt uns heute weiter ein, nachzudenken, wie unser Zusammenleben ausschaut. In welchen Verhältnissen leben wir in der Familie, im Beruf, in der Gemeinde? Wo leben wir noch in den Herr-Knecht-Verhältnissen? Wo dies noch der Fall ist, zeigt uns Jesus den Weg zur Freundschaft und zur Geschwisterlichkeit. Diese Wandlung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen kann aber nur dann geschehen, wenn wir uns von der Liebe Gottes und Jesu getragen wissen und nicht mehr von den Sorgen und Ängsten des Alltags gelähmt sind. Das bedeutet nicht, dass wir ohne Probleme in dieser Welt stehen. Unsere Situation unterscheidet sich nicht von der Situation anderer Menschen. Aber wenn man sich von der bleibenden Liebe Gottes getragen weiß, dann bleiben wir nicht in unseren Problemen verhaftet. Durch seine Liebe sind wir vielmehr ermutigt und bewegt, zu unseren Mitmenschen zu gehen und auch ihnen die Größe der Liebe Gottes und die Gemeinschaft mit Jesus und dem Vater zu verkünden und ihnen die Worte Jesu weiter zu sagen:

„Ihr seid meine Freunde..." (Joh 15,14)

 



Dr., Senior Scientist und Pastoralassistentin, Mira Stare
A-6020 Innsbruck
E-Mail: mira.stare@uibk.ac.at

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