Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

14. Sonntag nach Trinitatis, 09.09.2007

Predigt zu Lukas 17:11-19, verfasst von Peter Skov-Jakobsen

Sie waren starr vor Entsetzen über die Aussätzigen. Hier hatte man mit einer Krankheit zu tun, die Schrecken verbreitete. Niemand wusste, woher sie kam - alle wussten, dass sie nicht zu heilen war. Es gab nur eine Form des Umgangs mit der Krankheit: die Isolation.

             Vielleicht ist es ja gar nicht so verkehrt, dass man denjenigen isoliert, der an einer ansteckenden und unheilbaren Krankheit leidet. Aber heute wird man gewiss auch bedenken, dass die Isolation, in die wir oft Menschen treiben, nicht immer nur wegen einer ansteckenden Krankheit erfolgt. Was man nicht versteht, isoliert man oft. Wer auf irgendeine Art und Weise an einer Tragödie trägt, an einem Schicksal, einem Leben, das man nicht versteht, zu dem hält man Abstand.

             Manche Menschen erinnern uns daran, wie schwierig es in Wirklichkeit ist, einander in die Augen zu sehen. Vielleicht ist es so schwierig, weil der Blickkontakt wie nichts anderes enthüllt, dass der andere nicht bloß ein kranker Körper, ein gebrochener Arm, ein hässlicher Mensch, ein an Leib und Seele Verkrüppelter ist. Im Blickkontakt - im Augenblick - sieht man das, was man sehr wohl wiedererkennt: einen Menschen.

             Es ist nicht einfach nur eine Diagnose, eine Zahl in der Sozialstatistik, ein Phänomen für den Kulturforscher, was wir sehen; sondern ein Mensch, der im Bild Gottes geschaffen ist. Man kann nicht auf Abstand bleiben, man kann nicht seine Fassung bewahren, wenn man sich gegenseitig in die Augen sieht. Es ist, wie wenn der Blickkontakt auch ein Mitgefühl hervorruft.

             Die einzige Art und Weise, wie man sich von den andern isolieren kann, besteht darin, dass man ihren Blick vermeidet. Ist es nicht so, dass die meisten von uns das kennen, wenn man mit gesenktem Blick an einem Bettler vorbeigeht? Man fühlt sich all den Gedanken einfach nicht gewachsen, die sich, wie man weiss, beim Anblick einstellen. Man kann Mitgefühl nicht aufbringen. Man kann all die Fragen nicht aushalten, wie es wohl dazu gekommen ist. Man ahnt Tragödien um sich herum und isoliert sie, um der Verzweiflung in seinem Leben keinen Platz zu gewähren.

             Und man kann es auch nicht über sich bringen, seinem Gegner, seinem Feind in die Augen zu sehen. Man will lieber neben ihnen sitzen und so tun, als ob es sie nicht gäbe. "Sie sehen sich nicht in die Augen," sagen wir von Menschen, die einander nicht ertragen können, und wir meinen, dass sei einander verabscheuen und einander in dieser Auffassung bewahren.

             Wir leben in einer Welt, in der wir uns unablässig von den andern isolieren, von denen, vor denen wir Angst haben, denen wir das Schlimmste zutrauen, zu denen wir kein Vertrauen haben, die wir nicht verstehen.

             Solange wir sie außerhalb unseres Blickfeldes halten können, können wir sie uns auch aus dem Sinn forthalten. Sollte jemand Lärm machen und sich uns in den Weg stellen, dann können wir den Blick senken, ihn übersehen oder einfach durch ihn hindurchsehen.

             Sie sahen Jesus und riefen ihn an. Sie sahen einen Menschen und baten darum, gesehen zu werden. Sie baten darum, aus ihrer Isolation herauszukommen und zu Menschen zu werden, vor denen man nicht zu erschrecken brauchte.

             "Erbarme dich!", hatten sie gerufen. Ein wunderbarer phyischer Ausdruck, den wir auch heute noch kennen: das dänische "knuselske" bedeutet "zugleich umarmen und lieben". Wer sich erbarmt, liebt und umarmt wirklich seinen Mitmenschen und drückt ihn an seine Brust - und das heißt in Wirklichkeit an sein Herz.

             Wir reden also davon, dass Gott alle Vorbehalte beiseite legt und sich dem Menschen nähert, um ihn menschlich zu machen. Jesus macht die Menschen nie blind füreinander. Im Gegenteil, er bringt sie dazu, einander wiederzuerkennen. Hätten wir sie denn jemals gesehen, wenn er nicht unsere Augen geöffnet hätte, d.h. diejenigen, die niemand anzusehen wagt, ansehen will, die Zöllner, die Unmoralischen, die Fremden, die Armen, die Herabgewürdigten? Er hat uns für eine Herzlichkeit disponiert, die wir seitdem nicht wieder haben verlassen können. Er befreite uns zur Menschlichkeit und zur Barmherzigkeit.

             Es gibt eine Güte unter Menschen, die durch ein göttliches Eingreifen unser Leben verändert und die uns aus der Isolation herausreißt, in der wir uns auf so vielerlei Weise verbergen, um nicht zu verkommen. Es gibt eine Güte, die sich in herzliche Taten umsetzt und uns mit einer Hoffnung für die Welt zurücklässt. Vielleicht sollten wir daran denken, uns gegenseitig von diesen Taten zu erzählen, vor allem, weil wir dabei sind, uns hinter Vorbehalten und Schrecken zu isolieren. Wir sollen uns gegenseitig an diese befreienden Taten erinnern in einer Welt, die von dem Entsetzen, das uns ergreifen kann, wie gelähmt ist.

             Die Herzlichkeit befreit uns aus der Isolation. Da gibt es die Geschichte von dem jungen Schwarzen, der sich daran erinnert, dass er mit seinen Eltern in ein weißes Viertel zog. Er schlich sich jeden Tag davon und wagte nicht, in dem Viertel bei sich selbst zu sein, aber einige Tage nach dem Einzug der Familie kam der Nachbar und lud die ganze Familie zum Essen ein, und von da an war die Familie dort zuhause. Wir sollen uns gegenseitig erinnern an das Paar jüdischer Eltern, die ihr Leben dem versöhnenden Gespräch zwischen Palästinensern und Juden gewidmet haben - und dass sie es getan haben wegen der Trauer über den Tod ihres Sohnes durch einen Selbstmordattentäter - aber die Trauer des Hasses war schlimmer als das Gespräch der Versöhnung.

             Die Jesusgeschichte zwinkert uns manchmal zu, wenn Menschen uns gegenüber menschlich sind und sich uns zu Herzen nehmen. Man kann Menschlichkeit als eine Selbstverständlichkeit auffassen wie die neun von den Aussätzigen und völlig vergessen, welch eine Befreiung es ist, Menschlichkeit zu zeigen; aber man kann auch versuchen, die Perle zu sehen, die die Liebe, die Milde, die Treue, die Freude, der Friede, die Geduld ist. Aber vielleicht muss man die Erfahrung gemacht haben, dass man genauso unbeliebt ist, dass man völlig ausgeschlossen und fast so verhasst ist, wie es der Samariter war, ehe man ihren Wert zu schätzen vermag. Amen



Sognepræst Peter Skov-Jakobsen
København
E-Mail: pesj@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

Text der dänischen Perikopenordnung


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