Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Buss- und Bettag, 20.11.2013

Die Gnade lässt sich nicht besitzen
Predigt zu Lukas 13:22-30, verfasst von Reiner Kalmbach



Die Gnade Gottes unseres Vaters, die Liebe Jesu unseres Herrn und die lebensspendende Kraft des Heiligen Geistes seien mit uns allen. Amen.

Je länger ich in Südamerika lebe und arbeite, desto wichtiger wird mir der Buss-und Bettag. Eigentlich existiert er hier gar nicht, kaum jemand weiss von ihm. Und bei uns in Argentinien wird er auch nur in wenigen Gemeinden unserer kleinen protestantischen Minderheitenkirche begangen.

Wir sind aufgerufen, eingeladen uns neu zu besinnen.., auf was?, als ob es da nicht genug gebe...! Ich brüte über dieser Predigt und gleichzeitig flimmern die Schreckensbilder aus den Philipinen über den Bildschirm..., hat das denn gar nichts mit uns zu tun?, mit unserem Lebensstil? Gestern schrieb ich einen Rundbrief an alle unsere Gemeindeglieder: „...keine Sorge, wir schaffen es!, wir müssen uns nicht mehr viel anstrengen..., sie hängt schon über dem Abgrund, diese Welt...¡möge Gott uns vergeben!"

Und dann lese ich in den Zeitungen, dass die Europäische Gemeinschaft mehrere Millionen Euros an Soforthilfe bereitstellt..., habe ich mich „verlesen"?, oder sind die Medien falsch informiert worden...?, ich kann es einfach nicht glauben!: da werden den Banken Milliarden in den Rachen geworfen, um sie vor dem selbstverschuldeten Kollaps zu retten, die verantwortlichen Banker mit hunderten von Millionen in den Ruhestand entlassen..., in den Philipinen sterben Zehntausende und Hunderttausende haben alles verloren, und der superreiche Teil dieser Welt (und Hauptverantwortliche für den Klimawandel!) „hilft" mit ein paar Millionen. Und die Kirchen dieser Länder?, sagen nichts..., wie immer!

Ich verstehe diese Welt schon lange nicht mehr, aber das ist ein anderes Thema.

Da ist das für heute vorgeschlagene Wort Wasser auf meine Mühlen, ein hartes und strenges, ein äusserst unbequemes Wort.

Textlesung

Und es ist Wasser auf die Mühlen der Weltuntergangsprediger, von denen es bei uns wimmelt, es ist Wasser auf die Mühlen derer, die ihre Mitmenschen fein säuberlich in Erwählte und Verdammte trennen, es ist Wasser auf die Mühlen der Moralprediger, für die diese Welt ein einziger Sündenpfuhl ist.

Falsch!, diesmal läuft das Wasser von unten nach oben, unsere Mühlen bleiben stehen, sie drehen sich nicht mehr, alles ist still...

Lukas bringt alles durcheinander, das verstehe wer will..., „wir" kennen „ihn" doch, unseren Herrn, „ich" kenne ihn, ich bin doch hier, in der Kirche, sogar auf der Kanzel!, ich, wir sind doch alle getauft auf Seinen Namen, ich, wir haben an seinem Tisch gesessen und Abendmahl gefeiert..., ich, wir sind doch Christen und Protestanten noch dazu...Und jetzt schlägt er mir, uns die Türe vor der Nase zu.

Das waren meine ersten Eindrücke, nachdem ich den Abschnitt gelesen hatte. Denn, dass es um mich, um uns geht, die wir „ihn" kennen, das habe ich gleich begriffen. Ganz besonders erschreckt hat mich der letzte Vers, denn, wenn die Letzten die Ersten sein werden, sind die Ersten im Visier, also alle die wir hier beieinander sind...Nicht war: wir zählen uns doch zu den Ersten, wir sind doch Seine Gemeinde. Und um das einmal klar zu stellen: daran ist auch gar nichts falsch!

Warum geht Jesus so hart mit mir, mit uns ins Gericht? Haben wir nicht vor wenigen Tagen, als wir das Reformationsfest feierten, (neu) gehört und erfahren, dass wir zu unserer Rettung nichts beitragen können, dass es ausschliesslich der Glaube ist, der uns „hinüberrettet"? Man könnte fast meinen, hier steht die Theologie eines Paulus, und die eines Luthers und unserer ganzen Kirchengeschichte, gegen die Strenge des Nazareners...Klar, Jesus lebte vor Paulus, er hatte somit nicht die Gelegenheit von ihm zu lernen...Luther hat es auch erst im XVI. Jahrhundert begriffen. Denn in unserem Abschnitt sagt Jesus ganz deutlich und mit aller Härte: „Ringt darum (eigentlich heisst es: kämpft!), dass ihr durch die enge Pforte hineingeht..."

Nun hat „ringen" und „kämpfen" nichts mit unserer Vorstellung von Glauben zu tun. Luther hatte, vor seiner Bekehrung, mit sich gerungen und gekämpft, er hat mit allen Mitteln versucht, seinem Gott ein guter Christ zu sein, seinem Gottesbild gerecht zu werden. Und eben, solange er (mit sich) rang, konnte er keinen Frieden finden, keinen Frieden machen, weder mit sich selbst, noch viel weniger mit Gott.

Man hätte gerade mal Lust mit der Faust auf den Tisch zu schlagen!, Jesus bohrt mit dem Finger in unserer Wunde. Wenn es tatsächlich so ist, dass wir ihn so hören sollen, als ob er zu mir, zu uns jetzt und an diesem Platz spricht, dann..., ja dann...

„Herr, tu uns auf!"..."Ich kenne euch nicht...", „aber wir gehören doch zu dir!, wir hören doch auf dein Wort, hier, jeden Sonntag..., na ja, ab und zu..., aber heute sind wir hier, siehst du...?" „!Nein, nein und nochmals nein!, weg mit euch!"

Was habe ich, was haben wir falsch gemacht?

Jesus erklärt es uns nicht, wie er es eigentlich sonst tut. Aber dass es ihm ernst ist, das ist klar, dass er um mich, um uns ringt, gar keine Frage! Denn ich, wir kennen ja unseren Herrn, er will ja gar nicht, dass wir draussen bleiben. Mehr noch: er will, dass alle hineinkommen, kein einziger soll draussen bleiben. Es ist ja kein Zufall, dass gerade Lukas uns in seinem Evangelium die Geschichte vom verlorenen Schaf erzählt. Und gleich darauf folgt die Geschichte vom verlorenen Sohn.

Also irgendwie müssen wir in diese Richtung weitergehen, und dann stolpern wir gerade über den letzten Vers unseres Abschnitts: Letzte, die werden die Ersten sein, und Erste, die werden die Letzten sein.

Könnte es sein, dass Jesus auf eine Gefahr hinweisen will, in der wir alle stehen, ich, wir...?, könnte es sein, dass Jesus sieht, und deshalb weiss, dass es an unserem Taufschein liegt, an unserer Kirchenmitgliedschaft, die ja irgendwie automatisch ist? Vielleicht „glauben" wir ja, wir hätten dadurch das Paradies schon in der Tasche?, vielleicht liegt gerade in dieser „Gewissheit", in dieser Sicherheit die Gefahr..., überheblich zu werden, hartherzig..., wie der zuhausegebliebene Erbe, der es nicht erträgt, dass der zurückkehrenden Versager vom Vater mit einer Umarmung empfangen wird. Vielleicht haben wir uns in unserem Glauben so bequem eingerichtet, dass wir gar nichts Neues mehr erwarten..., vielleicht wollen wir ja auch, dass alles so bleibt, wie es ist..., vielleicht wollen wir ja gar keine Veränderungen...

...keine Veränderungen, weder in meinem Leben als Mitbürger dieser Gesellschaft und noch viel weniger in meinem Leben als Christ, nein!, ich bin ja gar kein gewöhnlicher Christ, ich bin nämlich Protestant!, und darauf bin ich stolz...

Der Glaube ist die bequeme Matratze die zu einem anständigen Leben in der Wohlstandsgesellschaft dazugehört. Und diese Matratze wird mir von der Kirche frei Haus geliefert: ich bin nun also stolzer Besitzer der Gnade Gottes. Nun kann mir, was meinen Eintritt ins Paradies betrifft, nichts mehr passieren.

Denken Sie jetzt nur nicht, ich würde mit dem Finger aus dem idyllischen Patagonien ins ferne Deutschland zeigen: wir sind überall gleich, wir stehen überall in der selben Gefahr: wer sich zu den Ersten zählt, kann leicht zu den Letzten gehören, in anderen Worten, es gibt auch für die Gnade Gottes ein zu spät. Sie lässt sich nicht besitzen..., wurde sie mir gestern noch geschenkt, fliegt sie heute zu einem andern.., warum?, weil ich hochmütig geworden bin, hartherzig vielleicht, weil mein Glaube nur noch „funktioniert", aber schon lange keine Berge mehr weghebt.

Wem es, angesichts dessen was in dieser Welt passiert, keine Tränen des Zornes oder der Hilflosigkeit in die Augen treibt, der sollte sich von seiner bequemen Matratze erheben und nachprüfen warum in seiner Mühle die Räder alle still stehen..., vielleicht ist der Bach ja längst ausgetrocknet, oder „jemand" hat ihn umgeleitet und seine Wasser treiben jetzt die Räder eines anderen an.

Dabei ist es doch so einfach, die Sache mit dem Glauben und der Gnade Gottes: ich frage mich, wo kommt Gott in mir zum Zuge, wo kommt er zu seinem Recht?, wo und wann zeugt mein Leben, mein tägliches Leben, von der Liebe Gottes zu allen Menschen?, können andere Menschen in meinem Verhalten, in meinen Worten und Gesten, sehen und hören, ja spüren wessen Geist in mir lebt?, wessen „Geistes Kind ich bin"?

Der Buss-und Bettag fordert dazu auf uns diesen Fragen auszusetzen, in aller Offenheit, uns selbst und der ganzen Welt. Er ist gewiss kein Festtag, in dem wir unseren Glauben „pflegen" und uns auf dieser so bequemen Matratze räkeln dürfen..., heute zieht Jesus sie uns weg, mit seinem scharfen Wort, wir plumpsen auf die harte Wirklichkeit. Nun sind wir gezwungen aufzustehen..., denn nur wer aufsteht und seinen Blick schweifen lässt, wird wirklich sehen können.

Es ist genau das, was ich mir, was ich uns hier und jetzt wünsche, das ist mein Gebet!


Amen.




Pfarrer Reiner Kalmbach
8370 San Martin de los Andes (Provinz Neuquén) Patagonien – Argentinien –

E-Mail: reiner.kalmbach@gmail.com

(zurück zum Seitenanfang)