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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 23.09.2007

Predigt zu Lukas 7:11-27, verfasst von Rolf Wischnath

Mitleidenschaft

7,11 Und danach geschah es, dass Jesus in eine Stadt mit Namen Nain zog; und seine Jünger und eine große Menge zog mit ihm. 7,12 Als ER sich dem Stadttor näherte, siehe, da wurde ein Toter herausgetragen, der einzige Sohn seiner Mutter, und sie war eine Witwe. Und eine stattliche Zahl von Leuten aus der Stadt war bei ihr. 7,13 Und als sie der Herr sah, hatte ER Mitleid („Mitleidenschaft") mit ihr und sprach zu ihr: Weine nicht! 7,14 Und ER trat herzu und fasste den Sarg an. Da blieben die Träger stehen, und ER sprach: Jüngling, ich sage dir: Steh auf! 7,15 Und der Tote richtete sich auf und begann zu reden. Und ER gab ihn seiner Mutter wieder. 7,16 Furcht packte alle, und sie priesen Gott und sagten: Ein großer Prophet ist auferweckt worden unter uns, und: Gott hat nach seinem Volk geschaut.

(Zürcher Bibel 1996)

 

"Und danach geschah es, dass Jesus in eine Stadt mit Namen Nain zog" (11) so beginnt die Geschichte vom Jüngling zu Nain. „Es geschah" sagt der Evangelist. Es wurde Ereignis, Geschehen, Fakt. Ein Ort wird genannt, „eine Stadt", klein wie kleine westfälische Dörfer: Brockhagen, Marienfeld, Friedrichsdorf oder Avenwedde - in unserer Nähe. Nain ist kaum zu finden auf der Landkarte, aber existent: noch heute ein Flecken von 200 Einwohnern, 2 1/2 Stunden Fußweg von Nazareth an der Straße von Samaria nach Jerusalem. Dort, so versichert Lukas, geschah es. Und er erzählt seine Geschichte gleichsam „mit Straße und Hausnummer", um deutlich zu machen:

Es geht bei der Auferweckung dieses Toten durch Jesus nicht um eine Idee oder eine zeitlos schöne Bilderbuchgeschichte, sondern um Jesus von Nazareth: einen jüdischen Menschen zu bestimmter Zeit an bestimmtem Ort. Unser christlicher Glaube hat Anfang und Anhalt zunächst im Unscheinbaren: in der Lebensgeschichte eines Menschen, der sich durchweg unter kleinen Leuten aufgehalten hat. ER kannte weder Horaz noch Homer noch Aristoteles, weder Athen noch Rom, vielmehr verbrachte ER die wichtige Zeit seines Lebens in kulturell und geistesgeschichtlich unbedeutenden, lausigen Nestern. Und seine Wanderstraße führte unaufhaltsam nach Jerusalem, zur Stadt des Gottes Israels und seines Volkes. In ihr wird ER nicht in Weisheit glänzen, sondern in Schande sterben. Schon damals waren sein Auftreten und sein Anspruch ein einziger Widerspruch. "Ist ER nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns?" (Markus 6,3), mokierten sich seine Zeitgenossen, "Heißt seine Mutter nicht Maria?", fragen die, was ja damals ein Allerweltsname war.

Diesem Wanderprediger laufen die Menschen aus den Nestern nach; „Seine Jünger und eine große Menge zog mit ihm" (11), heißt es hier. Die wissen nicht, wohin sie gehen. Die wissen nicht, was am Ende seines Weges steht. Und als der, dem sie nachgelaufen waren, auf der Schädelstätte in Jerusalem am Kreuz zwischen Verbrechern stirbt, da ist keiner mehr dabei. Am Karfreitag waren sie weggelaufen - von ihm. - Aber dann am Ostermorgen beginnt eine neue Geschichte mit ihm - und ihnen: Es geschah, dass das Grab leer gefunden wurde. Und es geschah, dass die leeren, traurigen Herzen und Sinne der Jüngerinnen und Jünger Jesu selber völlig gewandelt, auferweckt wurden. Jesus wird von ihnen - und nicht nur von ihnen - erlebt als der vom Tod Errettete und Auferstandene. ER sammelt seine verlaufenen Nachzöglinge wieder ein. ER schenkt ihnen mit neuem Glauben und neuem Mut das Leben wieder. Und ER sendet sie aus, damit sie die Erzählungen vom Leben und vom Sieg über den Tod weitersagen.

Aber zurück zur Geschichte vom Jüngling: Zu Nain begegnen sich zwei Menschenzüge: der Zug des Lebens und der Auferstehung hinter Jesus her - und der Zug des Todes, hinter einer Leiche her. "Als Jesus aber sich dem Stadttor näherte, siehe, da wurde ein Toter herausgetragen" (12).

Es ist nicht zufällig, dass es zu dieser Begegnung draußen vor dem Tor der Stadt kommt. Denn das war damals so wie heute: Der Tod muss aus den Augen! Weg aus der Mitte der geselligen Gesellschaft. Wir ertragen ihn nicht in unserer Mitte, sondern allenfalls am äußersten Rande unseres Lebens. Wir selber denken ungern ans Sterben. Und selbst dem Sterben nächster Angehöriger versuchen viele Menschen auszuweichen. Die vom Tode Gezeichneten und erst recht die Gestorbenen werden meist rasch aus den Häusern gebracht, weil man unfähig geworden ist, den Tod auszuhalten, ihr Sterben zu ertragen und es ihnen durch die eigene Gegenwart zu erleichtern. Man muss nicht Christ sein, um zu erkennen, dass menschenwürdiges Sterben da, wo es voraussehbar ist, nur in der Gemeinschaft derer ermöglicht wird, mit denen der Sterbende sein Leben geteilt hat. Man kann aber wohl kaum Christ sein, wenn der Glaube an den Sieger von Ostern nicht einmal dies zur Konsequenz hat: dass ich die Courage aufbringe, bei einem sterbenden Menschen auszuhalten, der auf seinem Weg zum Tod auf meine Nähe angewiesen ist.

Der Sterbefall allerdings, dem Jesus hier zu Nain begegnet, hat etwas von dem, was man "eine besondere Tragik" zu nennen pflegt: „...der einzige Sohn ... seiner Mutter, und sie war eine Witwe" (12). Ein Junge wurde hier weggerafft. Wie alt er wurde, steht nicht da: vielleicht nur sechs Jahre wie mein Vetter Friedhelm, der bei einem Autounglück auf der Herzebrocker Straße zu Tode kam. Oder der „Jüngling zu Nain" - auch das ist möglich - war so alt wie Armin, siebzehn Jahre, der gute, von unser ganzen Familie geliebte Freund unseres ältesten Sohnes Mathis. Er hat sich erschossen und wir mussten ihn fassungslos „aus der Stadt" zum Grab tragen.

Das Alter des Jünglings zu Nain ist ungewiss. Gewiss ist: Er war nach den damaligen sozialen Gegebenheiten die letzte Stütze seiner Mutter. Als deren Mann gestorben war, hatte sie ihren Schutz verloren. Jetzt, wo ihr einziger Sohn tot ist, hat sie auch noch ihren Versorger und zugleich ihren Rechtsvertreter verloren. Mithin ist es aus mit ihrer sozialen Zukunft. Vor ihr steht der gesellschaftliche Tod, das soziale Aus.

Und es kommt für sie die Glaubensnot, die Verzweiflung an Gott hinzu: der religiöse Tod, das Aus der Hoffnung. Kinder galten in Israel als Gabe Gottes, und der Verlust der Kinder als Strafe, als Rücknahme der Gnade. Und überhaupt: Leiden von Kindern zählt doppelt, weil es ganz wehrlos ist und sprachlos. Und der Tod eines Kindes stellt alles in Frage. Ja, Tod und Tod ist ein Unterschied. Der Tod eines Kindes, der Tod eines jungen Menschen ist schlimmer, viel schlimmer als der Tod eines Altgewodenen, der die Fülle des Lebens erfahren hat. Und die ferner stehenden Verwandten oder Freunde einer Mutter oder eines Vaters, die das eigene Kind verloren haben, ahnen oft nichts von den Abgründen der Einsamkeit und der Verzweiflung, die der Tod eines Kindes auftut. (Für unsere Väter und Mütter bleiben wir übrigens alle „Kind", auch wenn wir selber es lange nicht mehr sind.) In unserer Gesellschaft gibt es im allgemeinen weder Zeit noch Sinn für ernsthaftes Mitleid. Das zeigt sich schon an der sprachlichen Öde und Monotonie mancher so genannter "Beileidsbezeugungen" oder an den an Geschmacklosigkeit ja oft gar nicht zu überbietenden Anzeigen, Floskeln, Karten oder Kränzen, mit denen wir meinen, uns der Teilnahme entledigen zu können.

Einem solchen sozial und religiös entwurzelten, tief gebeugten Leid, das sich da in Gestalt der Witwe - ohne Sohn und Stütze - an der Spitze des von viel Volk‘s begleiteten Leichenzuges an den Rand der Stadt drängte, stellt sich Jesus entgegen: "Und als der Herr sie sah, hatte ER Mitleid mit ihr" - d.h. es ergriff ihn schieres Entsetzen und Erbarmen mit der Witwe zu Nain. „Mitleid" ist eigentlich zu wenig. Wollte man das griechische Wort zutreffender ins Deutsche fassen, müsste man ein neues Wort erfinden. „Mitleidenschaft" würde ich es nennen: ein Wort, in dem Mitleid und Leidenschaft eine Einheit bilden. Denn Jesus nähert sich der traurigen Frau nicht einfach nur mitleidig, sondern auch leidenschaftlich, d.h. mitgepackt von ihrem Elend.

Es ist ein kleiner, aber wichtiger Zug in dieser Erzählung, dass Jesus hier von niemandem gerufen wurde und wir auch nichts über das Leben des Verstorbenen und seiner Mutter hören. Voraussetzung für das Erbarmen Jesu ist also nicht, dass sich Menschen schreiend nach ihm ausstrecken oder dass sie gar irgendwelche "frommen Leistungen" erbringen, um Gottes Zuwendung zu erreichen. Nicht selten ist ja gerade die Stunde der Betroffenheit auch die Stunde der Ohnmacht, in der Menschen sich so leer fühlen, dass sie von sich aus den Schritt etwa ins Gebet einfach nicht finden können. „Not lehrt beten", sagt der Volksmund. Mein Gott, es kann auch anders sein: „Not lehrt schweigen - vor Gott." Denn was kann den Glauben an die Liebe und Allmacht Gottes schlimmer erschüttern als ein unerwarteter, mit menschlicher Schuld behafteter Tod eines Kindes? Was kann den Glauben stärker durcheinanderbringen als ein trotz aller Gebete und Kämpfe dennoch eingetretener Tod eines Menschen, den ich liebe. Gerade hier ist es tröstlich zu hören, dass niemand von sich aus das Erbarmen, die Mitleidenschaft Jesu herbeizurufen braucht. Denn seine Zuwendung zu uns hat ihren Grund in sich selber, in seiner „Mitleidenschaft" - für uns verlorene und vom Tod gezeichnete Menschen.

In der Erzählung vom Jüngling zu Nain jedenfalls kommt Jesus ungebeten herzu, weil ER die Lebensleere und Hoffnungslosigkeit der Frau, der Witwe nicht erträgt. Die Evangelisten bezeugen den Mann aus Nazareth immer wieder als den, der sich bedingungslos auf die Seite der Armen und Leidenden stellt und an ihrer Ohnmacht und Bedrängnis vorbehaltlos teilhat. - Es werden hier allerdings keine Gefühlsregungen ausgemalt, sondern das Wort, das im Griechischen die Mitleidenschaft Jesu charakterisiert, ist zugleich das Wort für die Barmherzigkeit Gottes. Jesus erscheint mithin nicht als sentimentaler Psychologe und tränenreicher Beileidskollege, sondern: als der noch verborgene Gesandte Gottes, der Messias, in dem die göttliche Barmherzigkeit und Mitleidenschaft gegenwärtig ist - ja, in dem Gott höchst selbst dem Tod entgegen und an die Seite der kummervollen Witwe tritt.

In dieser Vollmacht wird der Zuspruch möglich: "Weine nicht!" (13). - „Weine nicht", sagt Jesus. Entspränge der Satz lediglich aus matter Teilnahme - „herzliches Beileid" pflegen wir routiniert zu sagen -, wäre er eine Geschmacklosigkeit. Denn Trauernde haben ein Recht darauf zu weinen. Und es wird in unserer deutschen „Alltagskultur" eher zu wenig als zu viel geweint. Man könnte auch sagen: Zur deutschen „Leitkultur" gehört: Geweint wird nicht! Dafür sind wir Deutschen stärker im Jammern als im Weinen.

Aber hier sagt Jesus nun „Weine nicht!"; und in seinem Mund ist es etwas völlig anderes als unser hilfloses „Weine doch nicht .....", mit dem wir die Peinlichkeit von Tränen beenden wollen. „Weine nicht!" - das muss man mit einem Ausrufezeichen hören. Es ist der Verheißungsruf des Herrn über Leben und Tod, gegründet im Wort des ewigen Gottes, das der Erfüllung vorauseilt und das die Kraft hat zu bewirken, was es befiehlt. "Weine nicht!" - in dieser Aufforderung spiegelt sich die große Verheißung wieder, die wir auch eben in der Epistel (Offenbarung 21) gehört haben: dass Gott einmal abwischen wird die Tränen - alle Tränen - von den Augen der Menschen und dem Leid - allem Leid - ein Ende machen will.

Ja, das gehört unaufgebbar zur Hoffnung des Glaubens über den Tod hinaus, dass unsere Augen klar werden und nicht mehr verschwommen sind durch die Tränen. Und ich wage es, diese Hoffnung einmal persönlich auszusprechen, auch wenn die Worte und Bilder für sie immer unvollkommen bleiben: „Jawohl, ich werde dann wieder leben, neu leben und anders: Vor Gott in Christus, den ich dann sehe. Und mit den Menschen werde ich einst leben, mit denen ich gelebt habe und die ich dann wiedersehe - auch mit Armin, dem guten Freund des ältesten Sohnes, der so jäh von uns gegangen ist. Und mit Friedhelm, den vor vielen Jahren von uns Gerissenen. Ja, auch diese beiden Toten in meiner Lebensgeschichte" - und die anderen auch, deren Leben und Tod ich nur vom Hörensagen kenne - die werde ich dann auch sehen, wiedersehen. Ja, wir alle werden uns sehen. Und ohne Tränen. Und unsere Augen werden sehen und unser Herz wird es dann verstehen, warum wir so waren, wie wir waren, und warum uns diese begrenzte Zeit Lebens geschenkt war und nicht mehr. Und wir werden dann nichts mehr fragen. Weil der ewige Gott nichts unbeantwortet lässt und uns sehen lässt, was wir geglaubt haben, und so Antwort gibt auf die Frage des Todes und seiner Schrecken. Denn wie heißt es in der Geschichte vom Jüngling zu Nain?:

"Jesus trat herzu ......" - „herzu"- darin ist das Befehlswort enthalten: „Kommt her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen!". Aber zu Nain tritt der, der befiehlt: „Weine nicht!", selbst herzu, um einen Toten, der nicht mehr von sich aus kommen kann, anzugehen: „ ..... und fasste den Sarg an; da blieben die Träger stehen." (Lukas 7,14) Da steht der Todeszug. Und geht nicht weiter. Sein Laufen ist abgebrochen. Im Stillstand des Leichenzuges wird vorweggenommen, was Gott mit der Welt noch vorhat und was zu hoffen der Glaube nur um den Preis seiner selbst aufgeben könnte: Gott will dem Tod entgegentreten -, auch dem Tod des Menschen, an den Du mein hörender Mitmensch heute und jetzt am intensivsten denkst; und auch deinem Tod will und wird ER in den Weg treten; ER wird auch deinen Zug heraus aus der Stadt des Lebens stoppen. Denn Gott will dem Tod, dem Berserker, diesem Feind des Lebens, nicht überlassen, was er sich genommen hat - das Leben.

Es ist eine unbeschreibliche, in unseren menschlichen Bildern und Erzählungen immer nur unzureichend auszusprechende Hoffnung. Aber von dieser Hoffnung leben wir als Christen und darum müssen wir, so vorläufig das auch immer klingen mag, von ihr reden, brauchen wir für unser tägliches Leben nichts so sehr wie eine lebendige Sprache der Hoffnung:

Und es ist die Sprache der Hoffnung, wenn es in dieser Erzählung heißt: „Und Jesus trat herzu und fasste den Sarg an", eigentlich müsste man noch schärfer übersetzen: „Er packte den Sarg an ...." Der Genfer Reformator Johannes Calvin deutet dieses „Zupacken" in seiner Auslegung vor bald fünfhundert Jahren zupackend so:

"Durch das Anrühren des Sarges jenes Jünglings zu Nain wollte der Herr vielleicht zeigen, dass er jedenfalls in keiner Weise vor Tod und Grab zurückschrecken werde, um uns das Leben zu gewinnen, Und ER würdigt uns nun wirklich nicht nur einer Handberührung, um uns Tote lebendig zu machen, sondern ER steigt selbst ins Grab hinab, um uns in den Himmel empor zu tragen" (J. Calvin, Evangelienharmonie z. St.).

Ja, er, Jesus, der sich nicht scheute seine Hand auf diesen toten Jüngling zu legen und sich damit (in den Augen seiner jüdischen Mitmenschen) aufs Schwerste zu verunreinigen, er geht am Ende seines Weges selber in den Tod, um ihn zu besiegen. Und in der Kraft des Gekreuzigten und Auferstandenen spricht Jesus hier - den Ostermorgen vorwegnehmend - das entscheidende Wort: "Jüngling ich sage dir, stehe auf" (V.14). Und weil der Tod vor dem Wort diesen Herrn sofort zu Boden stürzt und keinen Bestand hat, darum heißt es: "Und der Tote richtete sich auf und begann zu reden."

Und nun spätestens fragen manche Zuhörer: „Stimmt das denn? War das so?" Vor allem Kinder, denen man diese Geschichte erzählt, fragen das sofort. Und das ist keine kindische, sondern eine notwendige Frage: Und was antwortet der Erzähler? „Und ER gab ihn seiner Mutter wieder. Und Furcht packte alle." Das heißt diese Frage „Stimmt das denn? War das so?" kann man in der Bibel nicht abstrakt stellen, und nicht mit einem einsilbigen Ja oder Nein beantworten. Man kann diese Frage eben nicht beantworten losgelöst von der Beziehung, die ein Mensch zu seinen Mitmenschen, vor allem aber zu Gott hat. Die Mutter, deren Tränen Jesus zuvor gestillt hat und die daraufhin ihren toten Sohn aus der Hand Jesu zurückbekommt, hat damals die Erfahrung der Wiedergeburt ihres Sohnes gemacht. Und sie erfuhr die Wahrheit seiner Auferweckung in der Kraft, die Jesus ihm und ihr geschenkt hat und die nun dieser vom Tod erweckte Junge ihr weitergeben konnte. Das heißt: sie erfuhr die Wahrheit des Wunders, indem sie selber in Berührung mit Jesus kam - über den ihr wiedergeschenkten Sohn. Und alle anderen, die dabei standen - aus dem Zug des Lebens und des Todes - machten in diesem Wunder die Erfahrung einer unmittelbaren Begegnung mit dem heiligen Gott, so dass es von ihnen - wie so oft in der Bibel - heißt, wenn Gott selbst gegenwärtig ist: „Furcht packte alle".

Ist das eine Antwort auf die Frage: „War das so? Stimmt das denn?" Von uns ist keiner dabei gewesen damals. Keinen anderen Augenzeugen können wir heute befragen. Und niemand von uns fährt mit einem Fahrstuhl in die Zeit zurück, um selber Augenzeuge für dieses sonderbare Geschehen "draußen vor der Stadt" zu werden. Und das heißt: Die Frage „Stimmt das denn? War das so?" kann niemand zutreffend beantworten, ohne selber in Beziehung zu treten zu dem, der über unserer Zeit ist, zu Jesus Christus.

Und für uns heute bedeutet das: Die Kraft der Totenauferweckung, in der der wiederkommende Jesus Christus, einmal alle Toten wieder auferwecken will, diese Kraft erfahren wir hiesigen „im Schatten Todes" nur da, wo wir täglich neu den Glauben an ihn als einzigen Trost im Leben und Sterben bewähren und uns darauf verlassen. Und über all da, wo sich elementare menschliche Lebensverhältnisse erneuern und Menschen in lebendige Begegnung zueinander kommen, da erfahren wir diese Kraft auch, wie die Mutter es erfahren hat, dass Jesus ihr den toten Sohn wiedergegeben hat.

„Und Furcht packte alle", heißt es weiter. Und auch wir werden die Wahrheit dieser Geschichte nicht erkennen, ohne dass wir uns zunächst einmal fürchten, auch wenn diese besondere Erfahrung unter uns selten geworden ist: Es ist ja die Ehrfurcht vor dem unendlich gütigen und mächtig barmherzigen Gott - dem ewigen, der sich uns in der Gestalt des Gekreuzigten und Auferstandenen zuwendet, den Tod anpackt und uns tröstet in der Verzweiflung von Todesnot und Trauer. Mein Gott, wenn es so ist, warum fürchte ich mich denn dann vor so vielem - nur nicht mehr vor Dir?

Damit will ich für heute die Erzählung vom Jüngling zu Nain beschließen. Natürlich ist noch nicht Alles und das Letzte über sie gesagt. Wie könnte überhaupt einer Alles und das Letzte im Erzählen sagen? Und wir mögen wohl fragen, ob wir selber, die jetzt Zuhörenden und die in oft namenlosem Schmerz an den Gräbern Stehenden - oft alleinstehend und zurückgeblieben - , ob wir eigentlich vorkommen in dieser Geschichte.

Wir sind vorgekommen, Gemeinde Jesu Christi, wir sind es. Und das sehen wir, wenn wir - begreifen, was der andere Reformator, Martin Luther, vom Jüngling zu Nain so gesagt hat: "Dieser Tote kennzeichnet (in letzter Wahrheit) uns alle, und besonders die, welche in Schmerz und Ängsten sind ...." (Vgl. H. J. Iwand, Predigtmeditation, S. 241). Wir, meine Zuhörerinnen und Zuhörer, wir, meine Schwestern und Brüder, Ihr, die Ihr wie ich oft auch todtraurig seid über den Tod eines lieben Menschen, wir kommen vor:

Denn wir selber sind in unserer Trauer an den Särgen unserer Toten, in unserer eigenen Hinfälligkeit und Zweifelhaftigkeit vor Gott, die in letzter Konsequenz den Tod zur Folge hat, wir sind selber - schon jetzt und im Tod erst recht - der „Jüngling zu Nain" - jener „Jüngling", der von sich aus nichts tun und nichts mitbringen konnte, um zu hören und zu erwachen und sich zu erheben: Wir alle begegnen Jesus Christus nicht als Kranke, die noch zu heilen sind, sondern er tritt an uns heran, wie er hier an den herantritt, den sie gerade hinaustragen wollen, weil keine Hoffnung mehr ist.

Und eben da, wo irdische Kraft und menschliche Hoffnung ihr Ende erreicht haben, da handelt Gott in Jesus Christus, gerade da weckt Er Glauben. Und das will Gott heute morgen auch an uns tun: unseren Glauben wecken. Schon „der Glaube ist Auferstehung von den Toten" (Tertullian). Denn wer glaubt, ist von der todbefreienden Macht Jesu Christi ergriffen und gewonnen worden. Und so sind wir, die Traurigen, im Angesicht von Sarg und Grab derer, die wir hergeben mussten, wir sind gefragt, ob wir uns das gefallen lassen, dass der lebendige Jesus Christus an uns Tote herantritt - besonders an die, die in Schmerz und Ängsten sind -, um uns herauszuholen aus der Gewalt, die der Tod schon mitten in unserem Leben aufgerichtet hat. Christus will sich über uns erbarmen wie ER sich über den Jammer der Frau und ihres toten Sohnes erbarmt hat: in seiner Mitleidenschaft. ER ruft uns herzu - „Her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!" -, und so ruft ER uns hinein in die Hoffnung auf die Auferstehung aller Toten. Sie allein vermag unserem tödlich verwirrten Leben Grund und Hoffnung zu geben. Und in seiner Kraft, in der Kraft seines Geistes soll nun auch - in diesem Moment, wo wir es hören - mit uns geschehen, womit die wunderbare Geschichte vom Jüngling zu Nain endet:

"Und Furcht packte alle, und sie priesen Gott - den Vater unseres Herrn Jesus Christus - und sprachen: Ein großer Prophet ist erweckt worden unter uns, und: Gott hat nach seinem Volk geschaut" (16). Amen.



Generalsuperintendent i. R. Dr. Rolf Wischnath

E-Mail: rolf.wischnath@t-online.de

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