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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Tag der Kreuzigung des Herrn: Karfreitag, 18.04.2014

Der Allerverachtetste und Unwerteste
Predigt zu Jesaja 52:13-15; 53:1-12, verfasst von Wolfgang Schmidt

 

Liebe Gemeinde,

erinnern Sie sich noch an die biblische Erzählung vom „Kämmerer aus dem Morgenland"? Die Apostelgeschichte erzählt im achten Kapitel von einem hohen Finanzbeamten aus Äthiopien, der nach Jerusalem gepilgert war und nun auf dem Heimweg in sein Land in einem Reisewagen saß und die Bibel las. Auf der einsamen Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführte, traf Philippus auf das Gefährt mit dem Äthiopier und fuhr mit ihm ein Stück des Wegs. „Verstehst du überhaupt, was du da liest?", fragte Philippus den Reisenden, worauf der sich von ihm gerne die Bibelstelle erklären ließ und - überzeugt von dieser Erklärung - sich bald darauf in einem Gewässer am Rande der Straße taufen ließ. Es ist jammerschade, liebe Gemeinde, dass uns die Erläuterungen des Philippus nicht überliefert worden sind. Denn die Bibelstelle, die er dem Fremden aufschloss, ist eben die, die wir mit dem heutigen Predigttext gehört haben. „Da tat Philippus seinen Mund auf und begann mit dieser Schriftstelle und verkündigte ihm das Evangelium von Jesus." 

Zweierlei können wir an dieser Erzählung entdecken, liebe Gemeinde. Da ist zum einen die Bedeutung der Hebräischen Bibel, des Alten Testaments, wie wir traditionell sagen, die hier sehr schön anschaulich wird. Selbstverständlich ist diese Hebräische Bibel die Heilige Schrift jener Tage! Unter den Getauften der ersten Stunde gab es ja noch nichts anderes. Die Evangelien, die Briefe des Paulus, die Apokalypse - alle diese Schriften waren ja gerade erst im Entstehen, die ersten Texte des Christusglaubens zirkulierten ja gerade erst, wurden da und dort vielleicht einmal abgeschrieben und gesammelt - aber ein Neues Testament lag damals noch in weiter Ferne. Wer Gott war und was er wollte und wie das Ganze mit Jesus zusammenhing, das konnte man sich doch nur von der Bibel her erklären, die man damals hatte: die Hebräische Bibel nämlich. Und wer sich vielleicht verwundert, dass wir heute an einem der wichtigsten christlichen Feiertage einen Abschnitt aus dem AltenTestament als Predigttext haben, der findet hier die Antwort: die Hebräische Bibel ist von den ersten Tagen der Christenheit an der Verstehenshintergrund der Geschichte Jesu, ist das Licht, das sein Geschick erhellt und das Geschehen seines Leidens und Sterbens auf Gott hin transparent macht.

Und wie Texte nun einmal sind, so lassen sie einen weiten Raum, sie zu verstehen und sie auszulegen. Und gerade darin sind sie geeignet, als Resonanzraum für die Geschichte Jesu zu dienen. Schon Philippus lag die Hebräische Bibel mit größter Wahscheinlichkeit bereits in griechischer Übersetzung vor. Griechisch war die Sprache seiner Zeit. Und wenn Sie einmal aus einer Fremdsprache übersetzt haben wissen Sie, wie schon durch die Wortwahl Bedeutungen sich verschieben und die Interpretation Einzug hält. 70 Gesichter hat die Tora, sagen die Weisen Israels. Wer schon einmal die rabbinischen Diskussionen einzelner Bibelstellen nachgelesen hat, dem ging vielleicht das Herz auf, welche Breite an Auslegungen möglich ist. Am Ende bleiben die unterschiedlichen Verständnisweisen offen und keine Dogmatik entscheidet über richtig oder falsch. 70 Gesichter hat die Tora. Und auch wir werden heute nur eines sehen.

Und damit bin ich beim Zweiten, was ich bei Philippus zu unserem Predigttext entdecken kann: er ist zentral für das Verständnis von Jesu Schicksal. Denn „da tat Philippus seinen Mund auf und begann mit dieser Schriftstelle und verkündigte ihm das Evangelium von Jesus."

Diese Schriftstelle ist also ein Dreh- und Angelpunkt. Diese Schriftstelle, die uns eine Gestalt beschreibt, deren Anblick uns das Grausen lehrt, die uns eine Kreatur beschreibt, die wir nicht wirklich treffen wollten. „Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet." Der Allerverachtetste und Unwerteste." Gibt es da eigentlich noch eine Steigerung? Wir haben ihn für nichts geachtet. Für nichts!

Fotos tauchen aus meiner Erinnerung auf, die man vor wenigen Jahren aus irakischen Gefängnissen zeigte: amerikanische Soldaten zerren Häftlinge an einer Hundeleine hinter sich her. Andere Bilder, die gerade wieder zu sehen waren, zeigen die Befreiten aus deutschen Konzentrationslagern. Wieder andere Bilder zeigen die apathischen Augen der Kinder in den Dürregebieten der Erde. „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf." Was bleibt dem hungernden Kind anderes übrig, als sein Schicksal stumm zu erleiden? Es ist ein Album des Schreckens, dem diese Bilder entspringen. Ein Album, dessen Seiten die Fülle der Bilder nicht fassen können, weil diese Erde so voll ist davon. Die Demütigung der menschlichen Kreatur halten sie fest in ihrer ganzen Abscheulichkeit. Und wenn wir darin blättern... - müsste uns das nicht auf die Barrikaden bringen? Müsste uns das nicht rühren bis ins Mark und zu leidenschaftlichen Streitern für Gerechtigkeit und Menschenrechte machen? Oder trifft es die Bibel, wenn sie schreibt: „Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg"? Das Angesicht verbarg.

Oder ist es das? „Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre." Ja, das ist eine beliebte Argumentation: „Warum kann Gott das zulassen?". Die Frage mag an gewissen Stellen ihre Berechtigung haben, aber sollten wir nicht zuvor fragen: „Wie kann der Mensch das zulassen? Wie können wir das zulassen?" Die Frage nach Gottes Verantwortung ist immer auch ein wenig verdächtig, verdächtig der Schuldverschiebung. Ich wasche meine Hände in Unschuld.

Und damit, liebe Gemeinde, sind wir bei der Radikalität dieses Bibelabschnitts vollends angelangt. Er ist radikal in der Beschreibung des Gepeinigten, des Gedemütigten, des Entrechteten und Missbrauchten. Aber er ist ebenso radikal in der Verantwortung, die er uns daran gibt. Ganz radikal. Es ist wegen euch. Es ist eure Schuld. Es ist eure Missetat. Ihr seid es. Es ist eure Verantwortung, was da passiert. Die „Missetat des Volkes" hat diese „ganze Plage" verursacht. „Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt." Ist es so, dass jede Gesellschaft ihre Opfer braucht, um in Frieden leben zu können? Auch dazu könnten wir ein Album anlegen mit Bildern und Geschichten, die das zu bestätigen scheinen. Der „gesunde Volkskörper" bedurfte der „entarteten Kunst", der Bücher, die man verbrennen konnte. Die sittsame Gesellschaft braucht die Ehebrecherin, die sie steinigen kann. Die Wirtschaft wächst zugleich mit dem Hunger. Der Arme stirbt früher.

Und dieses Spiel treibt Gott nun auf die Spitze. Es ist, als solle sich diese Dynamik an ihm nun in voller Härte austoben. Und ich betone: an IHM! Denn, wie der Philipperhymnus sagt, „er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz."

Er hätte es nicht nötig gehabt, möchte der Philipperhymnus sagen. Er ist doch Gott - und das meint doch nach unserem Verständnis: einer der alles kann. Einer, der alles in der Hand hat. Einer, wie wir es gerne wären oder doch zumindest manchmal versuchen zu sein. Und jetzt verstehen wir, warum Philippus dem Kämmerer aus dem Morgenland gerade von dieser Schriftselle aus Jesus so gut erklären kann. Weil hier der Dreh- und Angelpunkt liegt. Weil Karfreitag der Dreh- und Angelpunkt unseres Gottes ist. Nicht der unberührbare Ferne ist er, der über allem schwebt, sondern der dort präsent ist, wo es nicht tiefer geht, hinein in die Gosse der Gossen, in die Tränen der Tränen, der Absteiger, der Looser, „der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg".

Es ist, als müsste sich dort hinein, in diesen die gesamte menschliche Kaltherzigkeit und Sündhaftigkeit noch einmal hinein investieren bis zum bitteren Ende damit es dann durch den Tod hindurch eine Erlösung davon geben kann. Nur Gott selbst kann diese destruktive Energie verwandeln. Nur er kann den Toten ins Leben verwandeln. Was zwischen Gründonnerstag und Ostersonntag geschieht, ist ein kosmisches Drama. Die biblischen Bilder von der Erde, die erzittert, und den Gräbern, die sich auftun zur Todesstunde Jesu, unterstreichen das anschaulich. In einem unglaublichen Akt der Hingabe an das von uns verschuldete Grauen der Welt bewährt Gott die Liebe als Prinzip des neuen Lebens.

 



Propst Wolfgang Schmidt
91140 Jerusalem,Israel
E-Mail: propst@redeemer-jerusalem.com

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