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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

6. Sonntag nach Ostern: Exaudi, 01.06.2014

Wie sollen wir beten?
Predigt zu Römer 8:26-30, verfasst von Siegfried Krückeberg



26 Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht,
was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns
mit unaussprechlichem Seufzen. 27 Der aber die Herzen erforscht, der weiß,
worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie
es Gott gefällt. 28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge
zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. 29 Denn die
er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten
dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.
30 Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen
hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat
er auch verherrlicht. (Römer 8, 26-30)



In einem Gemeindehaus in der Nähe von Hanau
tagt der Kirchenvorstand. Die Pfarrerin berichtet von einer Flüchtlingsfamilie aus Afghanistan. Ihr droht die
Abschiebung, weil sie über Ungarn und Litauen nach Deutschland kam. Jetzt
möchte die Pfarrerin der Familie Kirchenasyl gewähren. Ein Teil der Kirchenvorsteher
unterstützt sie. Die meisten kennen die Familie und wissen, wie sehr sie
integriert ist, besonders die Kinder. Und was es für sie bedeuten würde, wenn
sie in ein Lager nach Ungarn kämen. Viele Christen bei uns haben mit den
Flüchtlingen Mitleid. Sie wollen helfen und sagen: "Unser Land muss die
Menschen aufnehmen, die hier Zuflucht suchen. Wir dürfen nicht alle Flüchtlinge
über einen Kamm scheren mit unmenschlichen Drittstaatenregelungen und
Abschiebefristen." Doch andere halten dagegen: „Die Kirche ist kein
rechtsfreier Raum. Auch wir müssen uns an die Gesetze halten." Die Diskussion
wird immer hitziger. Es kommt zu keiner Einigung. Um 22.30 Uhr will die Pfarrerin
die Sitzung schließen, mit einem Gebet. Aber es fällt ihr schwer, Worte zu
finden, die alle in Gedanken mitsprechen können.


„Ich
ess kein Fleisch mehr!" sagt die 11jährige Charlotte zu ihren Eltern. Seit sie
weiß, wie Tiere geschlachtet werden, damit die Fleischtheke beim Metzger
gefüllt ist, ist ihr der Appetit vergangen. Wie ihr geht es immer mehr
Menschen. Viele verzichten auch aus religiösen Gründen auf Fleisch. Weil sie
die Tiere als Mitgeschöpfe sehen. Und sie kritisieren ihre Kirche, weil sie
sich nicht genügend für den Tierschutz einsetzt. Doch viele Christen halten
diese Haltung für übertrieben und meinen, dass Fleisch zur natürlichen, von
Gott gegebenen Nahrung einfach dazu gehört.


Sie
ist leuchtend rot, fest und makellos. Eine Tomate in der Gemüseabteilung meines
Supermarkts. Vielleicht hat sie das Antimatschgen, deshalb ist sie so haltbar
und schön. Die Gentechnik macht es möglich. Sie erlaubt uns, schon lange vor
der Geburt zu erkennen, ob ein Kind gesund ist oder eine schwere Krankheit hat.
Doch da ist die schwierige Frage: Wer sind wir eigentlich? Wesen, die über
Leben und Tod entscheiden dürfen, darüber, was lebenswert und was lebensunwert
ist; sind wir nicht fast wie Gott? Oder bleiben wir trotz Wissenschaft und
Technik die armseligen Menschen, deren Fehler immer folgenreicher, immer
verheerender sind. Reiten wir uns nur immer weiter hinein in die unauflöslichen
Fragen, auf die wir letztlich keine Antworten wissen? Schaffen wir nicht immer
mehr Fakten, die uns irgendwann zum Verhängnis werden?



Liebe Gemeinde!

Die drei Beispiele führen vor Augen, wie gespalten und zerstritten wir in vielen Fragen
sind, die unser Leben in den nächsten Jahren entscheidend bestimmen werden. Da
fühlen sich viele Menschen richtig hilflos, weil sie spüren, es gibt keine
Antwort, die nur richtig ist, und sie erwarten Hilfe. Kann denn das Gebet nicht
helfen, die Hinwendung zu Gott, der Gottesdienst?

Es ist, als ob der Apostel Paulus solche Fragen kennt, wenn er im Römerbrief von
der Schwäche schreibt. Er beschönigt nichts, er kennt die Leiden dieser Welt,
die sich bis heute nicht geändert haben. Er hat vieles am eigenen Leibe erlebt.
Und er gibt zu, er ist dabei so hilflos wie wir. „Wir wissen nicht, was wir
beten sollen, wie es sich gebührt", ist seine Antwort. Das ist vielleicht ein
gewisser Trost, dass er mit uns das Schicksal der Ohnmacht teilt.

Doch dann regt sich in mir auch Widerstand. Kann denn das wahr sein? Wozu haben wir
dann die Religion. Wozu haben wir unsere Kirchen, in denen wir uns vor Gott versammeln,
wenn nicht dafür, ihn um Rat zu fragen? Wozu haben wir unsere Gottesdienste,
unsere Lieder und Texte? Wir beten doch die ergreifenden Psalmen des Alten
Testaments, und Jesus selbst, so haben wir eben gehört, hat seinen Jüngern und
uns gesagt, wie wir beten sollen. Und vielleicht denken Sie: Wir bezahlen doch
unsere Pfarrer, damit sie Theologie studieren und sich auskennen, wie man zu
Gott sprechen muss!

Naja, ich glaube, Zugang zu Gott, den kann sich keiner verschaffen, und wenn er sich
noch so sehr anstrengt. Wer sind wir denn, dass, wir Gott zwingen könnten, uns
zuzuhören, geschweige denn mit uns zu reden? Was wir tun können, ist zu
schweigen und abzuwarten. Denn die einzige Möglichkeit, dass wir mit Gott in
Kontakt treten, die schafft er selbst, durch seinen Geist.

Manchmal, liebe Gemeinde, wenn ich durch Frankfurt gehe, durch die Einkaufszonen mit
ihrem ganzen Trubel, dann komme an einer Kirche vorbei. Ich gehe hinein und
lasse den ganzen Lärm hinter mir. Plötzlich befinde ich mich in einer Oase der
Stille. Hier kann ich mich für einen Moment in die Bank setzten und zur Ruhe
kommen. Nicht dass ich ein bestimmtes Anliegen hätte, das ich jetzt vor Gott
bringen will, sondern es ist einfach so, dass hier all die Reize fehlen, die da
draußen pausenlos meine Aufmerksamkeit fesseln, und ich hier die Möglichkeit
habe, mich zu öffnen.

Ein anderes Beispiel: ein junger Mann liegt im Sterben. Die Familie ist versammelt,
ich sitze am Krankenbett. Innerlich ringe ich um Worte; doch ich weiß, alles,
was ich jetzt sage, wirkt unpassend und aufgesetzt. Als ich es aufgebe, kommt
alles von selbst. „Der Herr ist mein Hirte ..."

Es ist, wie Paulus sagt: „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf." Er vertritt
uns, er bittet Gott für uns „mit unaussprechlichem Seufzen".Seufzen, liebe Gemeinde, das bedeutet doch: Gott selbst leidet an unseren Widersprüchen
und Zweifeln. Er leidet an unseren Schwächen, die uns daran hindern, unser
Leben in den Griff zu bekommen. Er leidet an unserem Neid und unserer
Eifersucht, an den Folgen unserer übermäßigen Liebe, mit der wir andere
erdrücken, aber auch an der Gleichgültigkeit und dem Hass, zu dem wir fähig
sind. Doch Gott sieht auch dieses Leid und nimmt es an mit „unaussprechlichem
Seufzen".
Das ist der eine Trost, liebe Gemeinde. Wenn wir nicht wissen, was wir beten sollen,
dann können wir schweigen. Auch in persönlicher Not. Wenn der Schmerz so groß
ist, dass kein Satz, kein einziges Wort ihn ausdrücken können, dann dürfen wir
still werden und warten, bis Gott zu uns spricht.

Und das ist das Zweite: Gott ist bei uns, bevor wir ihn rufen. Von Anfang an
begleitet er uns. Das ist der Sinn der Taufe. Lange bevor wir auch nur einen
Gedanken an Gott fassen können, sind wir von ihm vorherbestimmt, berufen,
gerecht gemacht, verherrlicht. Das ist für viele gar nicht so leicht zu verstehen.
Denn es entspricht so gar nicht unseren Erfahrungen. Eine ständige,
selbstverständliche Begleitung durchs Leben haben immer weniger Menschen. Mehr
als ein Drittel aller Ehen in Deutschland wird geschieden, Kinder verlieren
ihre Eltern. Um viele Dinge, die früher selbstverständlich waren, müssen wir
kämpfen unter hohem persönlichen Einsatz. Dass jemand uns mal zuhört, ohne
gleich zu unterbrechen und von sich selbst zu reden. Dass jemand mal für mich
mitdenkt, ohne die eigenen Interessen im Auge zu haben. Dass alte Menschen
sicher sind, ihre Kinder sorgen für sie, wenn sie selbst nicht mehr können.

Doch so, sagt Paulus, ist es bei Gott nicht. Von unseren menschlichen Erfahrungen
können wir nicht auf Gott schließen. Er ist anders. Er setzt gegen unsere
Wirklichkeit eine andere Wirklichkeit, und allein die zählt. Von dieser
Erfahrung, liebe Gemeinde, erzählt die Bibel von Anfang an: Kain ist der
Erstgeborene, der seine Privilegien mit aller Macht erhalten will und dabei
über Leichen geht. Doch Gottes Vorliebe gilt Abel. Genau wie Jakob und seinen
Sohn Josef, den die Brüder nach Ägypten verkaufen. David ist der kleinste der
Söhne Isais, aber er wird zum König gesalbt. Und der, der Gottes Sohn ist,
kommt in einem der kleinsten Dörfer Israels in einer Krippe zur Welt.


Und weil wir dies einerseits glauben, andererseits aber so wenig davon in unserem
Alltag erfahren können, deshalb vertritt uns der Geist mit unaussprechlichem
Seufzen, so dass jeder von uns vor Gott bestehen kann. Und das bedeutet: wir
mit unseren unterschiedlichen Meinungen zum Beispiel zu den Fragen, die ich
eingangs angesprochen habe, gehören vor Gott zu einem Ganzen zusammen. Und wenn
wir uns darauf verlassen, wenn wir so dem Geist Gottes vertrauen, dann werden
wir freier. Dann brauchen wir angesichts der Probleme dieser Welt nicht zu
verzweifeln, nicht zu resignieren, sondern darangehen, das Menschenmögliche zu
tun, um den Gefahren und Nöten entgegenzutreten. Dann können auch wir jeden von
uns vor Gott gelten lassen und aufeinander hören. Dann werden wir das, was wir
sind: Gemeinde Jesu Christi.

Amen.



Pastor PD Dr. Siegfried Krückeberg
Frankfurt/M
E-Mail: medio.ffm@ekkw.de

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