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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 13.07.2014

Heilsame Irritationen
Predigt zu Römer 12:17-21, verfasst von Kay-Ulrich Bronk

 

Es ist kaum zu glauben, aber dieser viel verlangende Text hat Zeugen für seine Wahrheit und seine Wirklichkeit, es gibt tatsächlich Zeugnisse dafür, dass das geht: das Böse durch das Gute zu überwinden und auf des Feindes Haupt feurige Kohlen zu sammeln, indem man ihm Gutes tut.

I.

Der Palästinenser Ismael Khatib ist ein Zeuge und seine Geschichte ist ein Zeugnis für eine Liebe, die größer ist als menschliches Vergeltungsbedürfnis und weiter reicht als eine Gerechtigkeit, die Gleiches mit Gleichem vergilt. Die Geschichte ereignet sich 2005 im Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland. Ismael Khatib, seine Frau Abla und ihre Kindern leben dort. Dschenin ist ein Pulverfass. Selbstmordattentäter, die in Israel Anschläge verüben, kommen von hier. Für die israelische Armee ist Dschenin eine Gefahrenzone. Sie ist darum überall präsent. Eines Tages schickt Abla eines ihrer Kinder, ihren 11jährigen Sohn Ahmed, zum Einkaufen. Der Laden liegt ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Auf dem Weg trifft Ahmed zwei Freunde. Einer von ihnen hat ein Spielzeuggewehr. Sie spielen Krieg. Auch Ahmed nimmt das Spielzeuggewehr in die Hand. In unmittelbarer Nähe taucht plötzlich eine Militärpatrouille auf. Das Spielzeuggewehr in Ahmeds Hand sieht für einen der Soldaten wie eine echte Kalaschnikow aus. Er fühlt sich bedroht. Er schießt. Ahmed ist tödlich getroffen. Im Krankenhaus in Haifa können die Ärzte nur noch seinen Tod feststellen. Der Vater wird, erstaunlich genug, gefragt, ob er bereit sei, seinen toten Sohn für eine Organspende freizugeben. Ismael bespricht dies mit seiner Frau Abla, mit seinem Imam und dem Chef der militanten Al-Aksa Brigaden. Alle sind einverstanden. Ismael gibt seinen Sohn frei. Und dabei ist schon gewiss, dass auch Kindern aus jüdisch-orthodoxen Familien Organe von Ahmed erhalten werden. Was für eine Geste!? 5 oder 6 Kinder erhalten lebenswichtige Organe und können von nun an ein normales Kinderleben führen. Unter anderem ein junges Mädchen aus einer Drusenfamilie, der Sohn eines Beduinen und Menuha, die Tochter einer ultra-orthodoxen Familie. Also auch die Kinder der Feinde, auch die Kinder des Volkes, deren Soldaten den tödlichen Schuss abgaben.

Der ehemalige Botschafter Israels, Avi Primor, hält 2010 eine Laudatio für den Vater, anlässlich der Verleihung des hessischen Friedenspreises. Er sagt: „ ... Die meisten hätten an Rache gedacht." Diesem Impuls habe Ismael Khatib widerstanden, auch noch als die Familie eines der Kinder, die Ismael Khatib besuchte, ihn feindselig empfing. Primor zitiert die jüdische und islamische Glaubensüberzeugung, nach der, wer eines Menschen Leben rettet, eine ganze Welt rettet. „Fünfmal haben Sie die Welt gerettet. „Shukran" „Danke". Möglicherweise gewinnt neben der großen Menschenliebe, die in dieser unglaublichen Geste steckt, noch etwas anderes Kraft. Im „Tagesspiegel" schreibt eine Journalistin über Ismael Khatibs Opfer: „ ... eine unhintergehbare gute Tat, die für mehr Irritation gesorgt hat, als es ein Selbstmordattentat je könnte. Trotzig steht sie über der brutalen Logik des Konflikts und ist dabei genauso bezwingend: Die Kinder mit den neuen Organen laufen wirklich herum, die Geste läßt sich nicht wegdiskutieren. Auch die politischen Feinde müssen sie anerkennen. Es ist nicht unmöglich, dass sogar die Wut des Ismael Khatib über den Tod seines Kindes in dieser Geste enthalten ist."

Ich frage mich, ob Gottes Zorn und die feurigen Kohlen, die einer auf seines Feindes Haupt sammelt, wenn er diesem Gutes tut, genau diese verstörende Wirkung hat? Ich frage mich, ob dieser Zorn und diese Glut Teil einer entwaffnenden Liebe sind, die anklagt indem sie vergibt, die sich wehrt, indem sie alles verschenkt, die besiegt, indem sie aufs Siegen verzichtet.

„Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes ... Vielmehr, ‚wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln‘".

II.

Ich erinnere mich an eine Dokumentation, die vor über 10 Jahren im Fernsehen lief. Ich habe sie mehrfach mit meinen Konfirmanden gesehen. Sie zeigt die Lebensbedingungen von Gefangenen im Todestrakt des größten Gefängnisses im US-Bundesstaat Louisiana. Auch der ehemalige Direktor des Gefängnisses wird interviewt. Er erzählt eine berührende Geschichte. Zwischen ihm und einem der Männer, der zum Tode verurteil worden war, hatte er sich im Laufe der Zeit eine besondere Beziehung entwickelt. Der ehemalige Direktor und der Gefangene sprechen häufig miteinander. „Dieser Mann hat seine Tat nie bestritten", berichtet der Direktor. „Was mich aber am meisten an dem Gefangenen beeindruckte, war seine Fähigkeit sich selbst zu verzeihen." Am Tag der Hinrichtung musste der Direktor anwesend sein. Er musste die Hinrichtung veranlassen und beaufsichtigen. Er geht noch einmal zu dem Gefangenen, dessen Exekution unmittelbar bevor steht. Als er wieder geht, wendet sich der Gefangene noch einmal an den Direktor und sagt völlig überraschend: „Ich liebe dich!" Der Direktor ist perplex. Er sagt in dem Interview etwa dieses: „Ich war geschockt und ich war wütend, denn ich wusste sofort, dass mich dieser Satz überwunden hatte und mich zwingen würde, mein bisheriges Leben zu verändern. Ich wusste, dass ich meinen Beruf als Gefängnisdirektor, den ich so liebte, würde aufgeben müssen, weil ich nie wieder einer Exekution beiwohnen konnte." Die Liebeserklärung des Gefangenen an seinen Scharfrichter entwaffnet diesen vollkommen. Der Gefängnisdirektor kündigt. Er beginnt ein anderes Leben.

Nun liegt eine gewisse Anstößigkeit darin, dass hier ein mutmaßlicher Mörder zum Kronzeugen eines biblischen Textes wird. Aber die biblische Tradition war nie wählerisch. Oft genug hat sie gerade die Antihelden und moralisch zweifelten Gestalten zu ihren Zeugen gemacht. Das liegt in der Bedingungslosigkeit der Liebe, von der sie erzählt. Die biblischen Zeugen sind keine Zeugen aus eigener Kraft. Sie sind Zeugen, weil Gott sie dazu gemacht hat. Sie haben keine Bedingungen erfüllt, sondern sie haben getan, was ihnen aus größerer Hand gegeben und geboten war. So ja vielleicht auch hier.

III.

Man mag nun einwenden, dass diese Geschichten zu groß und zu mächtig sind und insofern überfordernd. Das stimmt wohl auch. Daher stellt sich die Frage, wie denn diese Haltung im Alltag aussähe, die Paulus der römischen Gemeinde ans Herz legt, und was denn die Voraussetzung einer solchen Haltung wäre. Also, was brauchen wir, um denen Gutes zu tun, die uns ärgern, zornig machen, ungerecht behandeln oder gar verletzen? Was hilft uns, diejenigen gut zu behandeln, die uns schlecht behandeln? Darüber möchte ich zunächst nachdenken.

1932 hält der berühmte Arzt und Psychologe Carl Gustav Jung vor der Elsäßischen Pastoren in Straßburg einen Vortrag. C.G. Jung fragt, was ein Arzt oder Seelsorger können muss, wenn er anderen helfen will. Antwort: er muss sie so annehmen wie sie sind. Aber das gelingt nur, wenn er oder sie sich zuvor selbst angenommen haben. Das sei jedoch das Schwierigste überhaupt.

Dass ich den Bettler bewirte, dass ich dem Beleidiger vergebe, dass ich den Feind sogar liebe im Namen Christi, ist unzweifelhaft hohe Tugend. Was ich dem Geringsten unter meinen Brüdern tue, das habe ich Christus getan. Wenn ich nun aber entdecken sollte, dass der Geringste von allen, der Ärmste aller Bettler, der Frechste aller Beleidiger, ja der Feind selber in mir ist, ja dass ich selber des Almosens meiner Güte bedarf, dass ich mir selber der zu liebende Feind bin, was dann? Dann dreht sich in der Regel die ganze christliche Wahrheit um, dann gibt es keine Liebe und Geduld mehr, dann sagen wir zum Bruder( zur Schwester, Bronk) in uns ... (Rache!), dann verurteilen wir und wüten gegen uns selbst. Nach außen verbergen wir es, diesem Geringsten in uns je begegnet zu sein, und sollte Gott selber es sein, der in solch verächtlicher Gestalt an uns herantritt, so hätten wir ihn tausendmal verleugnet, noch ehe überhaupt ein Hahn gekräht hätte."

C.G. Jung meinte, dass es darauf ankäme, sich selbst als einen annehmbaren Menschen zu sehen und keinen äußeren und vor allem keinen inneren Einspruch dagegen zu dulden. Es käme darauf an, das Gebot der Feindesliebe zunächst für sich selbst gelten zu lassen. Es ginge darum, dass wir nicht unentwegt Fehltritte, Versagen oder Schuld vor unserem inneren Gerichtshof verhandeln. Mit den Worten des paulinischen Appells gesprochen ginge es darum, vom Zorn gegen uns selbst abzulassen, uns selbst gegenüber gut zu sein und auf diese Weise feurige Kohlen über unserem bedrängten Herzen zu sammeln. Es ginge darum, unsere Schuldenlast Gott hinzuhalten, ihn machen zu lassen und zu lernen, uns selbst zu verzeihen.

Könnte es nicht sein, dass die Fähigkeit sich selbst zu verzeihen, die Voraussetzung dafür ist, anderen zu verzeihen und ihnen Gutes zu tun? Brauchen wir nicht erst einmal selbst die Erfahrung der Vergebung, um anderen vergeben zu können? Müssen wir nicht selbst einmal erlebt haben, wie das ist, wenn ein Vorwurf oder eine Schuld von uns genommen wird, bevor wir andere von Vorwürfen freisprechen, die wir gegen sie erheben könnten? Wir Christenmenschen gehen ja davon, dass wir aus der Vergebung Gottes leben. Aber das bedeutet, dass wir sie auch annehmen müssen, sie wirken lassen, indem wir uns selbst vergeben, weil Gott uns schon vergeben hat. Diese Erfahrung erst befreit zu einem neuen Verhalten.

IV.

Damit wären wir ganz bei uns und in unserem Alltag. Wir wären bei den Überraschungen, den spannenden Irritationen, die wir auslösen, wenn wir gerade denen gegenüber freundlich und gut sind, mit denen wir im Streit sind. Wir wären bei konstruktiven Verunsicherungen, die wir bei denen auslösen, denen wir Schlechtes mit Gutem heimzahlen. Wir wären bei ganz und gar neuen Modellen für Konfliktlösungen. Aber die Quelle eines solchen Verhaltens ist die bedingungslose Vergebung unseres Gottes, dessen Zorn im Kern Liebe ist, dessen Gericht aufrichtet und dessen freundliches Antlitz, uns zugewendet bleibt. Amen



Propst im Kirchenkreis Nordfriesland, Dr. Kay-Ulrich Bronk
25899 Niebüll
E-Mail: propst.bronk@kirche-nf.de

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