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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 13.07.2014

„Rache – wer hört zuerst auf?“
Predigt zu Römer 12:17-21, verfasst von Dörte Gebhard

 

Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

die Predigt habe ich mir nicht einfach ausgedacht.
Die Worte zur Hoffnung auf Frieden sind seit Jahrhunderten gegeben.

Paulus schrieb seinerzeit an die Römer.
Aber auch er hat sich seinen letzten Brief nicht einfach ausgedacht.
Die Worte, wie man seinen Feinden um des Friedens willen begegnen soll, waren auch ihm schon seit Jahrhunderten gegeben.

Er wollte den römischen Christen auch nichts absolut Neues sagen, sondern rücksichtsvoll an das Alte erinnern. Das Alte galt damals viel; es war schon durch viele Münder und Ohren und Herzen gegangen. Über das Neue konnte es noch keine Gewissheit geben. Es wurde kritisch beäugt.

Heute morgen werde ich absichtlich an manche alte Weisheiten erinnern, damit sie nachher wieder neu klingen.

Im Römerbrief heisst es im 12. Kapitel:

17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32, 35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« 20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. (Röm 12, 17-21)

 

Liebe Gemeinde,

vergeltet niemandem Böses mit Bösem, denn dann haben alle nur Tote zu beklagen und aus den Trauerfeiern werden neue Gewaltkundgebungen: bei Russen und Ukrainern, bei Schiiten und Sunniten, bei den Israelis und den Palästinensern im Sommer 2014 - bei allen miteinander, die jetzt noch leben und grosse Schilder vor sich hertragen, auf denen „Rache" in zu vielen Sprachen dieser Welt steht, und die sie nicht schützen werden.

Wer angefangen hat?
Diesmal?
Davor?
Und noch früher?
Überhaupt?

Dieses Gefrage ‚Wer hat angefangen?' hat sich niemand ausgedacht.
Es ist seit Jahrtausenden gegeben.

Auch Paulus kannte zur Genüge die Spirale der Gewalt, wie eine böse Tat nach Rache schreit und diese nach Gegenrache und diese wieder nach Gegengegenrache. Zur Zeit des Paulus gab es sogar eine heilige Pflicht zur Rache für bestimmte Personen, die dem Opfer einer Tat nahestanden durch Verwandtschaft oder enge Freundschaft. Diese besondere Pflicht war überdies auch noch erblich. Kinder wurden extra gezeugt und geboren und sollten nur einem einzigen Lebenszweck dienen: die Rache des Vaters weiterzutreiben.

Paulus wusste, wie überwältigend genau diese einfache Logik funktionierte, viel besser im Bösen übrigens als zum Guten: Wie du mir, so ich dir!

Genau gegenseitig.
Scheinbar gleichberechtigt.
Doch ganz ungerecht!

Wer hat angefangen?
Paulus interessiert sich nicht dafür!
Auch wir müssen andere Fragen stellen.

Eine alternative Frage ist jetzt wesentlich in den Konflikten unserer Tage im Osten Europas, im Nahen Osten und an allen nahen Enden dieser Welt, mit denen wir medial konfrontiert sind: Wer wird zuerst aufhören?

Wer kann aufhören?
Wer kann überhaupt auf - irgendjemanden - hören?

Wer kann auf Paulus hören: Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.

Wer wird dann noch die Konsequenzen laut genug heraushören, wenn ringsherum Steine fliegen, Fensterscheiben bersten, Panzer alles planieren, Helikopter tief fliegen, Attentäter und Raketen Angst und Schrecken verbreiten? Wer hört dann heraus, was in diesen Worten alles mitgesagt ist?

Auf Gutes muss man zuerst „bedacht sein", wie es altmodisch heisst. Man muss sich zuallererst einen friedlichen Zustand wieder vorstellen üben.
Es leben viele Kinder und Jugendliche auf der Welt, die zeit ihres Lebens nur Rache und böse Vergeltung kennen.
Sie haben sich das nicht ausgedacht. Es ist an manchen Orten dieser Erde seit Jahrzehnten nichts anderes zu sehen.

Dann kommt noch eine grosse Einschränkung: soviel an euch liegt! - Paulus hat sein Leben auf den staubigen Strassen der Römer verbracht. Nichts liegt ihm wohl ferner als ein vollmundiges Friedensversprechen.

Er sagt nicht:

‚Dann wird gleich alles gut.'
Dieser Satz fehlt.
Dieser Satz fehlt bis auf weiteres.

Es ist nicht leicht, Prophezeihungen für die nächsten 2000 Jahre zu machen. Paulus aber ist das tragischerweise gelungen. Seine Mahnungen sind nicht alt und unbrauchbar geworden, leider. Ist's möglich - und wir müssen bekennen, dass es immer noch und immer wieder unmöglich scheint!

Dann folgen noch ältere Gedanken, die Paulus aus dem Alten Testament übernimmt: Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32, 35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«

Rachegründe und Rachegelüste sind schon länger in der Welt, als Menschen sich erinnern können.

Wer hat angefangen?
Wer weiss?
Niemand!
Wer kann aufhören?
Alle!

Der grössere Teil aller Dramen, lange vor Christus und bis jetzt, wäre nicht geschrieben worden, wenn nicht immer wieder der Versuch unternommen worden wäre, Vergeltung und den noch unfassbareren Verzicht auf Rache wenigstens in Worte zu fassen: bei den alten Griechen, nicht nur in Homer's Ilias, bei den alten Germanen, nicht nur im Nibelungenlied, bei den alten Dichtern, nicht nur in Shakespeares Hamlet, bei den noch nicht sehr alten Schweizer Dramatikern, nicht nur in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame".

Paulus hat nicht Psychologie studiert, aber er weiss, dass es zwecklos ist, Racheempfinden einfach zu leugnen, zu verdrängen, zu ignorieren.

Paulus hat die Heiligen Schriften Israels studiert und weiss, dass es Auswege nur gibt, wenn Gott die Vergeltung anheimgestellt wird, wenn man, statt zum Stein zu greifen, die Arme gen Himmel reckt oder sich selbst bei den Händen nimmt, sie so faltet, dass man unter keinen Umständen etwas Böses tun kann und alle Rachsucht und schon das erste, kleine Bisschen Schadenfreude vor Gott bringt.

Haben wir Grund, auf unsere wilden Vorfahren herabzusehen, die so schamlos und sadistisch wirken, wenn sie ihren Widersachern wünschen, dass der Fluch wie Wasser und Öl in ihre Gebeine dringe und ihnen noch näher sei als ihr Hemd (Ps 109, 18)? Wenn sie an heiliger Stätte gegen ihre Feinde herumbrüllen: Sie haben ihr gottloses Lügenmaul wider mich aufgetan.

Seine Kinder sollen Waisen werden und sein Weib eine Witwe.
Seine Kinder sollen herumirren und betteln und vertrieben werden aus ihren Trümmern.
Und niemand soll ihm Gutes tun, und niemand erbarme sich seiner Waisen. 
Seine Nachkommen sollen ausgerottet werden ...

Das musste sich niemand ausdenken, so steht es - fast seit einer Ewigkeit - im 109. Psalm. Die Welt sieht so aus, als müsste es dort auch künftig stehenbleiben.

Wir haben dennoch Gründe, zu unseren Vorfahren aufzuschauen, sie zu bewundern für ihre Ehrlichkeit und Offenheit, ihre Aggressionen und ihren Hass zu artikulieren, ihre riesigen Vergeltungsabsichten aber dann gerade nicht selbst in die Tat umzusetzen, sondern Gott gewähren zu lassen:

Der Herr soll sie nie mehr aus den Augen lassen ... (Ps 109,15).

Das heisst dann keinesfalls, dass Menschen damit zur Untätigkeit verdammt wären, im Gegenteil: »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22).

Mit diesen starken Sprüchen sind keinesfalls eine Henkersmahlzeit und danach ein grausamer Tod durch langsames Verbrennen und Verglühen gemeint, sondern die feurigen Kohlen meinen die enorme Hitze der Einsicht, die sich einstellen kann, wenn Feindseligkeit durch unerwartete, starke und selbstbewusste Gutmütigkeit überwunden wird.

Wer viele Feinde hat, hat dann auch viel zu tun!

Desmond Tutu, der anglikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger aus Südafrika, hat sich diese spezielle Arbeit gemacht, als es um die Überwindung der Apartheid an der Südspitze Afrikas ging. Ab 1995 war Tutu Vorsitzender der so bezeichneten Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika. Sie wollten feurige Kohlen auf die Häupter von Freund und Feind sammeln. Wer als Täter brennende Reue empfand, sollte freikommen. Wer als Opfer brennende Ungerechtigkeit fühlte, sollte entschädigt werden. Wer beides war, Täter und Opfer, sollte Frieden finden.

Tutu und seine Mitarbeiter wollten einen Mittelweg zwischen Siegerjustiz und Amnestie finden und plädierten für Versöhnung und Vergebung. In den darauf folgenden drei Jahren schilderten Tausende Opfer ihr Leid, Täter baten um Vergebung. "Wunden öffnen und sie reinigen, damit sie nicht eitern", so nannte es der Erzbischof, der sich selbst einmal als „Quälgeist für Gerechtigkeit" bezeichnet hat. Tutu glaubte übrigens zeit seines öffentlichen Wirkens daran, dass auch in Israel und Palästina Umstände herrschen, die mit der ehemaligen Apartheid in Südafrika Ähnlichkeiten haben und daher auch nur auf harten Versöhnungswegen zu wandeln sind.

Dabei hat er keine harmlosen Ideen zur Weltverbesserung, sondern sieht scharf: "Es ist klar, dass Vergebung und Versöhnung keine sentimentalen Dinge sind. Versöhnung ist nichts für Weichlinge. Das ist eine harte Sache. Und wenn es uns nur darum geht, uns selbst zurückzukriegen, Auge um Auge, wie es heißt, dann werden wir die Welt ziemlich blind verlassen." (D. Tutu)

Seine Sprüche sind wie feurige Kohlen. Man spürt bei dem alten Mann, dass er sich nur noch vor Gott, aber nicht mehr vor den Menschen fürchtet. Berühmt ist seine Missionsgeschichte in sechs Sätzen: „Als die ersten Missionare nach Afrika kamen, besaßen sie die Bibel und wir das Land. Sie forderten uns auf zu beten. Und wir schlossen die Augen. Als wir sie wieder öffneten, war die Lage genau umgekehrt: Wir hatten die Bibel und sie das Land." - „Sei nett zu den Weißen sie brauchen dich, um ihre Menschlichkeit wieder zu entdecken." (D. Tutu)

Desmond Tutu hat sich die Prinzipien für diese harte Versöhnungsarbeit, die allzu oft auch vollkommen scheiterte, nicht selbst ausgedacht. Sie sind gegeben, seit Mahatma Gandhi in Indien versucht hatte, mit Gewaltlosigkeit und Leidensbereitschaft anzufangen und mit Rache und Gewalt einseitig aufzuhören. Ganz im Sinne des Paulus: soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.

Liebe Gemeinde,

nun kennen Sie es schon. Gandhi hat sich das nicht selbst ausgedacht, Worte zur Vergeltung im Guten waren ihm - Gott sei Dank - schon gegeben. Er fand sie zuerst in einem Text seiner Muttersprache, auf Gujarati. Ich lese sie natürlich in einer deutschen Übersetzung. Es ist zugleich die Übersetzung der biblischen Worte: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

„Für eine Schale Wasser gib ein tüchtiges Mahl.
Für einen freundlichen Gruß neig dich rasch zur Erde.
Für einen bloßen Pfenning zahle zurück in Gold.
Wer dein Leben rettet, für den spare das Leben nicht.
Achte auf die Worte und Taten des Weisen:
Sie vergelten jeden kleinen Dienst zehnfach.
Doch der wahrhaft Edle erkennt alle Menschen als eines
Und zahlt fröhlich Gutes für das Üble, das man ihm antat."

Nichts müssen wir uns selbst ausdenken.
Die Worte zur Hoffnung auf Frieden sind seit Jahrhunderten gegeben.
Nichts müssen wir neu erfinden.
Jesus Christus hat uns auf Erden gezeigt, wie man aufhört mit Rache und Gewalt gegen Gewalt, wie man Gutes anfängt mitten im Bösen.
Nichts gibt es dem noch hinzuzufügen.
Nur ganz klein anfangen - das werden wir!

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne dazu in Christus Jesus. Amen.

 



Pfarrerin, PD Dr. Dörte Gebhard
CH-5742 Kölliken
E-Mail: doerte.gebhard@web.de

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