Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 24.08.2014

Am Ende das große Halleluja
Predigt zu Römer 11:25-36, verfasst von Bernd Giehl

Am Ende aber wird es gut sein. Am Ende werden die jubelnden Chöre auf der Bühne stehen und ihr großes Halleluja anstimmen. Irgendjemand wird den Vers, den wir gerade gehört haben, vertonen. „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege. Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt oder wer ist sein Ratgeber gewesen?"

Am Ende werden wir alle das große Halleluja anstimmen. Ob vier- oder sechsstimmig, das weiß ich nicht. Und ebenfalls weiß ich nicht s o genau, wie das gehen wird, weil ja nicht jeder von uns ein ausgebildeter Sänger ist und auch Menschen, die schon einige Chorerfahrung haben, nicht auf Anhieb ein Oratorium singen können. Aber das muss auch nicht meine Sorge sein, denn das Oratorium, von dem ich hier spreche, wird nicht an der Scala in Mailand oder der Metropolitan Opera in New York aufgeführt werden, sondern auf der von Gott verwandelten Erde. Und es wird auch nicht nur vier oder fünf Stunden dauern, nach denen anschließend jeder seinen eigenen Geschäften nachgeht, sondern seine Dauer wird nicht in irdischer Zeit messbar sein.

 

*

 

Aber jetzt höre ich auch schon die Skeptiker. Oder vielleicht ist es auch die Stimme des Zweifels, die ich da in mir selbst höre. Wann wird das sein? so fragen sie. Eine andere Stimme fragt mich, wo ich denn eigentlich lebe. Ob ich die letzten Monate oder Jahre womöglich verschlafen habe. Ob ich den Bürgerkrieg in der Ukraine, den Krieg zwischen dem Gazastreifen und Israel oder den fast schon unsichtbaren Krieg in Syrien, wo keiner mehr weiß, wer da eigentlich gegen wen kämpft, denn schon vergessen hätte. Nein, sage ich dazu. Ich habe all diese Kriege und Bürgerkriege miterlebt. Ich habe unter ihnen gelitten wie jeder andere, der noch nicht völlig abgestumpft ist. Das Herz hat mir geblutet, Besonders als die Israelis in den Gazastreifen eingerückt sind und dort Krieg gegen die Hamas geführt hat.

Aber dann habe ich einfach den Sprung gemacht, den auch Paulus gemacht hat. Der ja auch den Gordischen Knoten, den er vorfand, nicht aufgelöst, sondern einfach zerschlagen hat. Indem er nämlich sagte: Gott selbst wird das Problem lösen.

Aber das muss ich jetzt wohl erklären.

 

*

 

Und da stelle ich nun fest, dass es manchmal seltsame Parallelen gibt. Als ich anfing, mich mit diesem Text zu beschäftigen, da hatte Israel sich gerade aus dem Gazastreifen zurückgezogen und einen Waffenstillstand angeboten. Für mich war dieser Krieg schlimmer als die anderen Konflikte, mit denen wir uns derzeit beschäftigen, weil Israel so unendlich überlegen ist und weil es diese Überlegenheit auch rücksichtslos ausspielt. Und weil es zugleich für mich auch immer noch das Volk der Bibel ist, dem Gott seine Verheißungen zugesagt hat.

Und genau in diese Situation hinein spricht nun auch der Text. Vielleicht wäre es einfacher, von der Gegenwart  abzusehen und zu sagen, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Aber das kann ich nicht.

Es tut weh, fast so wie eine hoffnungslose Liebe wehtut

 

*

 

Hoffnungslose Liebe. Das ist wahrscheinlich das Stichwort, das die Brücke schlägt und alle miteinander verbindet: Paulus und Israel, und uns mit dem Text.  Paulus liebt dieses Volk, das auch einmal sein Volk war. Oder vielleicht auch immer noch ist. Ob Paulus das selbst entscheiden könnte? Das ist die Frage. Einerseits fühlt er sich ihm immer noch zugehörig. Als Jude von Geburt. Andererseits ist er aber Christ geworden. Und der Prozess, in dem die Christen sich von den Juden trennen, läuft gerade. Eigentlich möchte Paulus diesen Prozess verhindern; andererseits tut er selbst einiges dazu, ihn zu beschleunigen. Nicht dass er das selbst will - im Grunde liegt ihm nichts ferner - sondern er zieht die denkerischen Konsequenzen aus einigen Ereignissen, die für ihn noch nicht allzu lange zurückliegen. Er denkt nach über die Heilsgeschichte, die mit Jesu Kreuzigung und Auferstehung eine entscheidende Wende genommen hat.  So sieht es nicht nur die urchristliche Gemeinde, so sieht es Paulus selbst. Seine Logik ist messerscharf. Das jüdische Volk hat Jesus von Nazareth als seinen Messias abgelehnt. Gott aber hat sich zu dem Gekreuzigten bekannt und ihn aus dem Tod auferweckt. Und damit, so schlussfolgert Paulus, ist der jüdische Weg des Gesetzes an sein Ende gekommen. Wenn das Gesetz Jesus verurteilt hat, so sagt Paulus, und wenn diese Verurteilung durch Gott selbst aufgehoben ist, dann hat Gott selbst das Gesetz für beendet erklärt. Dann gibt es nur noch die Rechtfertigung aus Gnade aufgrund des Todes Jesu Christi.  

Kein Nebeneinander von Gesetz und Evangelium, wie es andere - vor allem wohl Petrus gepredigt hat, sondern ein klares Entweder-Oder.

Um es einmal ein bisschen frivol zu sagen: Wenn Paulus an Gottes Stelle wäre, dann hätte er auch noch den letzten Schritt gemacht und die Juden zu Christus bekehrt.

 

*

 

Und genau hier liegt nun auch das Problem. Ebendies ist nicht geschehen. Sein Volk, das Volk der Juden hat Jesus Christus nicht als den Messias anerkannt. Es ist auf dem Weg geblieben, den es seit Jahrhunderten gegangen ist. Dem Weg der Einhaltung der ethischen und rituellen Gebote. Und nun steht Paulus vor dem Dilemma seines Lebens. Wenn seine Prämissen stimmen, wenn das Heil vom Kreuz und der Annahme der bedingungslosen Gnade Gottes kommt, dann geht dieses Heil an den Juden vorüber. Aber wie kann das sein? Gott kann doch nicht einfach seine Versprechen verwerfen. Er kann doch nicht rückgängig machen, was er dem Abraham versprochen hat und was er später unzählige Male wiederholt und variiert hat. Dass er sich eben dieses Volk erwählt hat und es zum Heil führen will.

An dieser Stelle geht es nicht weiter. Im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist: Die ganze Theologie des Paulus von der Rechtfertigung des Sünders durch Gott ist auf Sand gebaut. Dann gilt weiterhin die Einhaltung des jüdischen Gesetzes als Königsweg zu Gott. Dann muss man sich seine Gnade erst verdienen. Dann hat Paulus Unrecht. Wenn er jedoch Recht hat, wenn Christus des Gesetzes Ende ist, dann ist damit auch der Weg Gottes mit Israel zu Ende. Aber kann das sein? An diesem Entweder-Oder verzweifelt Paulus fast. Und findet am Ende doch den Ausweg: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme." (Römer 11,32)

Am Ende springt Paulus selbst über seinen Schatten. Er löst das Problem, das er drei Kapitel lang in einer Art mathematischer Logik behandelt hat, einfach auf, indem er der Logik das letzte Wort entzieht.  Gott hat schon einmal ein Wunder getan, indem er Jesus Christus von den Toten auferweckt hat. Da er seine Verheißungen an Israel nicht einfach aufheben kann, wird er auch ein zweites Wunder tun und sich auch über sie erbarmen. Die menschliche Logik gilt am Ende für Gott nicht.

 

*

 

Womit wir also nun am Ende sein könnten. Das Problem ist gelöst: nicht durch Logik, sondern durch göttliches Eingreifen. So hätte es bleiben können. Es ist ein Jammer, dass die Christen diesem ebenso wundersamen wie wunderbaren Ende des Kapitels über Christen und Juden bei Paulus nicht mehr Beachtung geschenkt haben. Womöglich wäre die Geschichte dann ganz anders gelaufen.

Man wird dem Apostel Paulus also vielleicht manches vorwerfen können, aber am Antisemitismus, der sich in den folgenden Jahrhunderten entwickelt hat, ist er ganz und gar unschuldig. Auf ihn konnten sie sich jedenfalls nicht berufen, all jene, die die Juden „Christusmörder" nannten und zu Pogromen gegen sie aufriefen. Und das Schlimmste war ja, dass sie sich samt und sonders für gute Christen hielten, wenn sie die Juden verprügelten und aus ihren Häusern vertrieben oder sie gar totschlugen. Im Grunde konnten die Juden noch von Glück sagen, wenn sie sich in engen Ghettos am Rand der großen Städte wie Köln oder Frankfurt ansiedeln durften um von dort aus Handel zu treiben.

Eigentlich ist der Hass gegen die Juden ein unbegreifliches Phänomen. Sicher gab es immer wieder Hass der Mehrheit gegen die Minderheit. Schon der ist unbegreiflich, denn warum dürfen die Menschen nicht verschieden sein? Bis heute frage ich mich, was die Juden eigentlich so besonders machte, dass sie nicht nur hin und wieder einmal verfolgt wurden, sondern über lange Strecken der Geschichte. War es die Tatsache, dass das Alte Testament sie als das auserwählte Volk bezeichnete und sie dadurch heraushob aus der Masse? War es der Neid auf diese Auszeichnung? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Jude sein in den letzten 1000 Jahren eher ein Stigma als eine Auszeichnung war und dass keine Gruppe von Menschen über die Jahrhunderte hin so gelitten hat wie die Juden. Zuletzt also in der Mitte des letzten Jahrhunderts unter unserem eigenen Volk, den Deutschen. Unter den Deutschen, die die Auslöschung der europäischen Juden in einer Weise organisierten, wie es noch nie der Fall war und hoffentlich auch nie wieder der Fall sein wird. Insofern war dann auch die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 als Heimstatt der Juden, wo sie sich zumindest halbwegs sicher fühlen können, nur die logische Konsequenz.  

 

*

 

Am Ende wird es gut sein, sagt Paulus. Selten habe ich einen Satz gelesen, der mir so prophetisch und dessen Einlösung mir so notwendig vorkam wie dieser. Damals, als Paulus ihn schrieb, ging es ja „nur" um die Konkurrenz zwischen Christen und Juden. Um die Frage, wem das Heil gehört. Heute geht es um die Konkurrenz dreier großer Religionen, die auseinander entstanden sind und jede mit dem Anspruch die Wahrheit zu verkörpern. Nicht zu reden von den Konfessionen jeder einzelnen Religion, also um Sunniten, Katholiken, Alawiten, Orthodoxe, Schiiten und Protestanten, die wiederum innerhalb ihrer Religion glauben, die wirklich wahre Frömmigkeit zu verkörpern. Und es geht auch nicht nur um theoretische Auseinandersetzungen um die Wahrheit, sondern um Gewalt. Muslime gegen Juden, Juden gegen Muslime, Schiiten gegen Sunniten, Muslime gegen Christen. Bis vor zehn Jahren etwa hätte man ja noch glauben können, religiöse Gewalt, die in früheren Jahrhunderten eine so unheilvolle Rolle spielte, sei endgültig überwunden, aber das hat sich als Irrtum herausgestellt.

Gibt es eine Lösung? Zumindest momentan sehe ich keine. Da geht es mir wie Paulus, der für sein Problem Juden und Christen, Erwählung und Verstockung auch keine logische Lösung findet und am Ende in die Hoffnung springt. „Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Und dann beginnt er zu jubeln. „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes." So, als ob sein Problem schon gelöst wäre. Aber wahrscheinlich ist es für Paulus, den Visionär, an dieser Stelle ja tatsächlich gelöst. Weil er sich auf den Standpunkt der Hoffnung gestellt hat. Gott wird den Knoten zerschlagen, meint Paulus. Er wird Christen und Juden das Heil schenken. Nicht weil sie es verdienen, sondern aus reiner Gnade. Da möchte ich mich anschließen und sagen: Gott wird nicht nur das tun. Sondern er wird auch all die Konflikte, die aus der Religion wie aus der Bedürftigkeit der Menschen entstehen, lösen. Er wird sie mit seinem Heil beschenken und dann werden sie im Anderen nicht mehr den Konkurrenten sehen, der ihnen etwas wegnimmt, sondern den Bruder oder die Schwester.



Pfarrer Bernd Giehl
64569 Nauheim
E-Mail: giehl-bernd@t-online.de

(zurück zum Seitenanfang)