Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 24.08.2014

Predigt zu Römer 11:25-32, verfasst von Sven Keppler

 

I. Eine Szene auf dem Schulhof. Große Pause. Zwei Gruppen von Jungs stehen sich gegenüber. Drei auf der einen, fünf auf der anderen Seite. Sie fordern sich gegenseitig heraus. Beschimpfen sich. Kleine Rangeleien. Nicht zum ersten Mal geht das so. Die Aufsicht beobachtet das mit Sorge. Auch nach der Schule hat es schon erste Übergriffe gegeben.

Ein Gemisch von Gründen scheint dahinter zu stecken. Die Klassenlehrer haben versucht, mit den Jungs ins Gespräch zu kommen. Und auch mit den Eltern. Aus der größeren Gruppe kamen ganz unterschiedliche Vorwürfe: Das Problem läge bei den Dreien. Sie würden den anderen ständig vorführen, wie überlegen sie sind. Mehr Geld. Bessere Klamotten. Dank Nachhilfe bessere Noten.

Aber eigentlich seien sie doch total unterlegen. Zu sozialem Verhalten nicht in der Lage. Rücksicht nehmen. Auf andere zugehen. Freundlich sein. Fehlanzeige. Angefangen habe alles, als die drei einem anderen Kind das Fahrrad kaputt gemacht hätten. Sie sagen, es wäre ein Unfall gewesen. Aber wieder gut gemacht haben sie den Schaden nicht.

Und überhaupt seien sie anders als die anderen. Nicht von hier. Sondern aus der Großstadt hergezogen. Die Eltern arbeiten immer noch dort und halten sich für etwas Besseres.

Liebe Gemeinde: vier klassische Gründe, um Menschen auszugrenzen. Man findet sie überlegen und muss mit den eigenen Mängeln zurecht kommen. Oder man findet sie unterlegen und erhebt sich über sie. Oder man hält ihnen eine frühere Schuld vor. Oder man findet sie einfach anders. Und erlebt sich selbst als Gruppe, indem man sich von ihnen abgrenzt.

 

II. „Jude, Jude, feiges Schwein: Komm heraus und kämpf' allein!" Solche Parolen wurden im Juli in Deutschland gebrüllt. Auf Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg. In Frankreich war es schon vorher zu antisemitischen Ausschreitungen gekommen. Und in Wuppertal warfen Jugendliche einen Molotowcocktail auf eine Synagoge.

Es gibt wieder offenen Antisemitismus. In Deutschland. In Europa. Anlass war der ungleiche Krieg im Gaza-Streifen. Bilder von Palästinensern, die mit schlechter Ausrüstung gegen eine übermächtige israelische Armee kämpfen. Hamas-Raketen werden schon in der Luft abgefangen. Israelische Geschosse legen dagegen ganze Wohnviertel in Schutt. Das löst hilflose Wut aus. Selbst wenn man es nur am Bildschirm verfolgt. Und diese Wut entlädt sich auch in antisemitischem Hass.

Aber wo beginnt der Antisemitismus? Schon dort, wo man die Regierung Israels kritisiert? Wo man ihr vorwirft, die nationalistischen Siedler zu unterstützen? Und damit eine friedliche Lösung des Konflikts zu verhindern? Das kann es ja auch nicht sein. Wer seine sachlichen Kritiker als Antisemiten abstempelt, will sich immun machen. Aber politische Fehler müssen benannt werden dürfen.

Heute ist der Israelsonntag, liebe Gemeinde. Der Tag, an dem wir evangelischen Christen unser Verhältnis zum Judentum in den Blick nehmen. In diesem Jahr ist das besonders sensibel. Mich machen die Bilder im Fernsehen hilflos: die aus Gaza, aus Tel Aviv, aus Paris, Berlin und Wuppertal.

Ich möchte die verzwickte Lage für mich gerne vereinfachen. Zum Beispiel, indem ich Politik, Religion und Volksfragen klar auseinander halte. Ich möchte Netanjahu und die Siedler kristisieren können, ohne damit gleichzeitig etwas Negatives über das jüdische Volk oder die jüdische Religion zu sagen. Genau so, wie ich die Halsstarrigkeit der Hamas kristisiere, ohne dadurch zum Gegner des Islams zu werden.

Aber geht das so einfach? Wenn der ganze Konflikt immer wieder religiös aufgeladen wird?

 

III. Liebe Gemeinde, ich glaube, dass unser Predigttext Hilfreiches zu sagen hat. Auch im Blick auf diese komplizierten Fragen. Ich lese aus dem Brief von Paulus an die römische Gemeinde [11,25-32].

Die Ausgangsfrage von Paulus ist leicht gestellt, aber schwer zu beantworten. Wie kann es sein, fragt er - wie kann es sein, dass so viele aus dem erwählten Volk Israel Jesus nicht als den Messias Gottes anerkennen?

Paulus hat lange um eine Antwort gerungen. Im Römerbrief beschreibt er das Ergebnis seines Nachdenkens. Er entdeckt im rätselhaften Verhalten vieler Juden einen tieferen Plan Gottes.

Kurz gesagt: Dass Jesus von vielen Juden abgelehnt wurde, führte erst dazu, dass das Christentum sich auch für die Nichtjuden geöffnet hat. Eigentlich galten die Verheißungen Gottes dem Volk Israel. Aber weil dieses sich zunächst verschlossen hat, wurde Gottes Gnade nun allen Menschen angeboten.

Paulus ist sicher: Wenn der Glaube erst einmal uns Heiden erreicht hat, werden sich auch die Juden öffnen. Alle mussten sich irgendwann einmal gegen Gott stellen: Die Heiden, als sie Heiden waren. Und die Juden, weil sie zwar an Gott glaubten, aber seinen Heiland nicht erkannten. Alle mussten sich gegen Gott stellen, damit Gott allen gnädig sein konnte. Am Ende, so hofft Paulus, werden alle versöhnt werden.

 

IV. Ich möchte jetzt gar nicht mit Ihnen darüber nachdenken, ob wir diese Argumentation eigentlich überzeugend finden. Auf den ersten Blick wirkt sie etwas konstruiert. Aber je länger man über sie nachdenkt, desto mehr zeigt sie ihre Tiefe.

Ich möchte stattdessen an unsere Ausgangsfrage anknüpfen. Am Beispiel vom Schulhof hatte sich gezeigt: Es gibt vier klassische Gründe, eine Gruppe von Menschen abzulehnen. Man findet sie überlegen. Oder unterlegen. Oder man hält ihnen eine Schuld vor. Oder man findet sie einfach anders und grenzt sich deshalb von ihnen ab.

Das sind auch die vier klassischen Vorwürfe der Antisemiten: Juden hielten sich für überlegen wegen ihrer Verheißungen. In Wahrheit seien sie aber unterlegen, weil sie nicht den wahren Glauben oder die richtige Rasse haben. Sie seien schuldig, weil sie Christus gekreuzigt und überhaupt viele Verbrechen begangen hätten. Und anders seien sie ohnehin, weil sie sich überall abgrenzen und aussondern.

Jeder dieser Gründe wird von Paulus in unserem kurzen Text widerlegt. Erstens: Sind Juden überlegen? Ursprünglich ja. Denn sie sind das Volk, dem Gott zuerst seine Verheißungen geschenkt hat. Aber diese Überlegenheit haben viele Juden sozusagen ruhen lassen. Sie haben auf sie verzichtet, indem sie sich gegen Jesus entschieden haben.

Sind sie zweitens stattdessen unterlegen? Gerade weil sie nicht an Jesus glauben? Auch das kann nur vordergründig bejaht werden. Denn Paulus ist sicher: Wenn Gott eine Verheißung gemacht hat, nimmt er sie nicht zurück. Gott wird sich niemals auf Dauer gegen das Volk Israel stellen. Weil er seinen alten Verheißungen treu ist.

Und muss man von einer Schuld des jüdischen Volkes sprechen? Das ist der dritte, früher in vielen Spielarten geäußerte Vorwurf. Paulus dagegen sagt: Vor Gott haben sich alle Menschen schuldig gemacht. Juden wie Nichtjuden. Jeder Einzelne. Das ist das Zentrum seiner Argumentation: Wir alle sind Sünder. Juden nicht weniger als Christen. Aber auch nicht mehr.

Juden sind deshalb auch nicht anders. Das ist das Vierte, das Entscheidende. Vor Gott sind alle ungehorsam, damit er sich aller erbarmt. Paulus steht ganz am Beginn des Christentums. Aber schon er widerlegt alle Gründe, die zum christlichen Antijudaismus, ja zum Antisemitismus geführt haben.

Juden sind weder überlegen noch unterlegen. Sie sind Menschen und deshalb immer auch schuldig. Aber Gott nimmt sie ebenso an wie hoffentlich alle seine Geschöpfe. Christ sein und Antisemit sein - das passt unmöglich zusammen.

 

V. Und was heißt das für die Politik? Das heißt erstens: Als Christen müssen wir uns gegen jede Form des Antisemitismus wehren. Juden wegen ihres Judeseins anders zu behandeln als andere Menschen - das muss unseren Widerspruch auslösen. Da dürfen wir nicht weggucken. Auch nicht, wenn es bloß um scheinbar harmlose Sprüche oder Witzchen geht.

Zweitens heißt das aber auch: Wenn vom Staat Israel Fehler begangen werden, dürfen wir sie wie bei jedem Staat beim Namen nennen. Und auch dagegen protestieren. Es darf dabei überhaupt keine Rolle spielen, ob Politiker und Bürger Juden sind oder nicht. Denn alle Menschen begehen Fehler. Wir Menschen werden alle schuldig. Immer wieder. Alle sind wir deshalb auf Gottes Vergebung angewiesen. Und alle dürfen wir auf Gottes Gnade hoffen. Amen.

 



Pfarrer Dr. Sven Keppler
33775 Versmold
E-Mail: sven.keppler@kk-ekvw.de

(zurück zum Seitenanfang)