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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

19. Sonntag nach Trinitatis, 26.10.2014

Die von Gott geschenkten zehn großen Freiheiten
Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 34:4-10, verfasst von Klaus Wollenweber

Liebe Gemeinde,

Künstler hat es immer wieder gereizt, Mose mit den beiden Steintafeln zu malen oder anders darzustellen. Auf den Steintafeln sind die 10 Richtlinien für das Zusammenleben im Volk Israel festgeschrieben. Die biblische Geschichte erzählt, daß Gott diese sog. zehn Gebote dem Mose diktiert hat. Dieser hat sie dann in die beiden Steintafeln eingeritzt. Viele Tage hat dieses Zusammentreffen von Gott mit Mose auf dem Berg Sinai gedauert. Währenddessen hat sich das Volk Israel allein gelassen gefühlt und hat für sich schließlich einen sichtbaren, materiellen Gott gebastelt, ein „goldenes Kalb", um das sie freudig herumtanzten. Als Mose vom Berg Sinai mit den nun beschrifteten Steintafeln herabstieg, um sie dem Volk Israel zu zeigen und zu erklären, da erschrak er über das gottlose Verhalten der Israeliten und zerschmetterte vor den Augen des Volkes aus Zorn die beiden Tafeln. Ein reizvolles Motiv für Künstler und auch für Literaten.

Weniger interessant für die Welt der Kunst war und ist das zweite Zusammentreffen des Mose mit Gott auf dem Berg Sinai. Für das Volk Israel war es innerhalb ihrer Glaubens-geschichte allerdings von großer Wichtigkeit, eine neue Antwort auf die Frage zu finden:

Wie konnte dieses ungehorsame und treulose Volk wieder neu vor Gott bestehen? Wie kam es nach der Zerstörung der beiden Gebotstafeln zu der sichtbaren Erneuerung dieser Richtlinien? Und welche Haltung nahm Gott zu diesem seinem auserwählten Volk nach dem gott-losen Geschehen am Sinai ein?

Ich lese  aus dem 2.Buch Mose aus dem 34.Kapitel die Verse 4-10:

4 Und Mose hieb zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand.

5 Da kam der HERR hernieder in einer Wolke, und Mose trat daselbst zu ihm und rief den Namen des HERRN an.

6 Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, 7 der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!

8 Und Mose neigte sich eilends zur Erde und betete an 9 und sprach: Hab ich, HERR, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte, denn es ist ein halsstarriges Volk; und vergib uns unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Erbbesitz sein.

10 Und der HERR sprach: Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des HERRN Werk sehen; denn wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.

 

Liebe Gemeinde, Mose unternimmt einen zweiten Anlauf, um Gott auf dem Berg Sinai zu begegnen. Er schaut nicht nur auf das Geschehene rings um das „goldene Kalb", sondern richtet seinen Blick erneut auf Gott und erlebt, wie dessen Gegenwart hereinbricht und die Situation verändert.

Mose hatte neue Steintafeln zugehauen und mitgenommen. Wie menschlich die Vorstellung, daß Gott selbst diese Gebote dem Mose  diktiert, und dieser alles in die zwei steinernen Tafeln einritzt!

Damit kommt jedoch der Glaube des Volkes Israel zum Ausdruck, daß die 10 Gebote nicht von Menschen ausgedacht und erfunden worden sind, sondern daß es wirklich Gottes befreiende Richtlinien sind, die er den Menschen zum guten Zusammenleben gibt. Das ganze Geschehen ist ein Ausdruck von Gottes Hoheitsgewalt gegenüber seinem Volk. Denn Gott selbst hat die Israeliten aus ihrer Sklaverei und Unfreiheit in Ägypten befreit; er hat sie den langen Weg durch die Wüste geführt und schließlich ins verheißene Land Kanaan geleitet. Diese Heilsgeschichte des einen Gottes mit seinem Volk ist das Fundament seiner Souveränität. Weil der Gott des Volkes Israel dies alles getan hat, darum brauchen die Israeliten keine anderen Götter; darum können sie allein diesen Namen Gottes lobpreisen und ihre Eltern ehren; darum brauchen sie ihren Glaubensgenossen nicht zu töten, nicht zu beneiden, sein Hab und Gut nicht wegzunehmen und den eigenen Ehepartner nicht zu betrügen.

Die Barmherzigkeit, Liebe und Treue Gottes zu den Israeliten ist der feste Grund und Boden für die Liebe der Menschen untereinander. Die Güte Gottes befreit alle im Volk Israel von falschen Begierden und Gelüsten, so daß die 10 Gebote wie 10 große Freiheiten zum gemeinsamen Leben wirken.

Mose  begegnet diesem Gott der Freiheit, den er nicht sieht, aber dessen Nähe er spürt und den er mit aussagekräftigen Worten des Glaubens anruft. Erstaunlich! Was für ein ambivalentes Bild von Gott hat Mose hier! Er spricht: Gott ist gnädig, barmherzig und geduldig; ein Gott, der Tausenden Gnade gewährt! Und zugleich ist er ein Gott, der niemanden ungestraft läßt, sondern die Missetaten heimsucht bis ins  dritte und vierte Glied einer Familiengeneration. Diese Formulierung  ist ein Glaubensbekenntnis des israelitischen Volkes, in der eine Familie von den Großeltern bis zu den Enkeln und Urenkeln zusammen lebt, zusammen wohnt und zusammen hält. Im Rückblick auf die Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott wird dieses Glaubensbekenntnis dem Mose in den Mund gelegt, als er nun zum zweiten Mal Gott gegenübertritt. Er spricht die Worte, bevor er die großen Freiheiten des Zusammenlebens von Menschen mit Gott und untereinander entgegennimmt.

Liebe Gemeinde, in der Nachfolge Jesu Christi kann ich als Christ die Aussagen über die Gnade und Treue Gottes gut verstehen, nachvollziehen und in den praktischen Alltag umsetzen. Allerdings fällt mir die Übernahme der Glaubensaussage sehr schwer, daß der gnädige und barmherzige Gott des Lebens bis ins dritte und vierte Glied einer Familiengeneration die Missetaten bestraft. Denn für uns Christen ist Gott in Jesus Christus Mensch geworden und hat durch den Tod Jesu am Kreuz uns Menschen von allen Missetaten erlöst, uns vom Tod als Strafe Gottes befreit. Also wird Gott nicht mehr Kinder und Kindeskinder für das bestrafen, was Eltern und Großeltern an unheilvollen Dingen getan haben. Uns kann nichts scheiden von der Liebe Gottes, die er im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi für uns öffentlich gemacht hat.

An dieser christlichen Glaubensaussage halten Christen fest und verfallen nicht der schrecklichen Vorstellung, daß wir von Gott bestraft werden für Untaten früherer Generationen z. B. in Konzentrationslagern, für unmenschliche Handlungen wie Folter und Quälereien. Jesus Christus hat diese Heimsuchung und Bestrafung am Kreuz auf sich genommen, damit wir in einem befreiten, angstfreien Verhältnis zu Gott leben können. Es gibt für den christlich glaubenden Menschen keine Abwesenheit Gottes als Strafe oder sonst ein Liebesentzug Gottes. Gott ist im Leid und im Tod ebenso da wie in der Freude und im Jubel; er gibt uns den Blick und den Weg frei auf ein Leben in seiner Nähe.

Diese Einladung zum Gottvertrauen ist schon in den biblischen Worten nahegelegt, die in unserem Predigtabschnitt nun Gott, dem Herrn, bei seiner Begegnung mit Mose in den Mund gelegt werden: „Siehe, ich will einen Bund schließen."

Inhalt dieses Bundes, den einseitig Gott schließt - ohne eine Reaktion bei Mose oder dem Volk Israel abzuwarten - , sind die Wunder, die Gott, der Herr, an und mit dem Volk Israel tun wird. In der Glaubensgeschichte des Volkes Israel ist es wirklich ein Wunder, daß Gott immer wieder der Gott der Vergebung ist. Die Israeliten lassen ihren Gott im Stich, sie halten an ihm nicht fest, sondern wenden sich sogar murrend gegen ihn und anderen Göttern zu. Trotzdem bleibt der eine Gott Israels der gnädige und bramherzige! Er bleibt seinem Volk zugewandt und schenkt mit seiner Liebe und Treue zu diesem Bündnis neue Vergebung. Immer wieder holt er sein Volk aus Schwierigkeiten und Irrtümern zurück in seine Nähe und gewährt eine neue Chance auf seinem Weg. Das ist das Wunder des Glaubens, das sich durch alle biblischen Geschichten hindurchzieht.

Ebenso wunderbar ist und bleibt für uns Christen das Geschehen am Kreuz und in der Auferstehung des Juden Jesus. Auch wenn uns dieses christliche Wunder häufig unfaßbar erscheint und zu immer neuem Nachdenken, Staunen und Fragen anregt, so ändert unsere schwankende und manchmal zweifelnde Glaubenshaltung nichts an dem Bund der Liebe und Treue Gottes zu uns. Das ist die großartige Botschaft, die uns aus den alten biblischen Texten des Glaubens bis heute aufrüttelt und uns in vielen vorherrschenden Dunkelheiten des Alltags den Mut gibt, nicht müde zu werden in dem Vertrauen zur Barmherzigkeit unseres liebenden Gottes!

Der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserm Herrn. Amen



Bischof Klaus Wollenweber
Bonn
E-Mail: Klaus.Wollenweber@kkvsol.net

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