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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

19. Sonntag nach Trinitatis, 26.10.2014

„(Un)barmherzig und (un)gnädig …“
Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 34:4-10, verfasst von Thomas Bautz

Liebe Gemeinde!

Überlieferten, traditionellen Gottesbildern (Vorstellungen von „Gott") stehen Erfahrungen gegenüber, die über Menschen im Laufe ihres Lebens hereinbrechen, sie überwältigen und oft genug sogar umbringen. Das menschliche Leid ist keineswegs immer selbst verschuldet.

Es wäre aber auch mehr als Augenwischerei zu leugnen, dass das Elend des Einzelnen oder eines ganzen Volkes oftmals durchaus von Menschen verursacht wird. Dabei sind meist die Zusammenhänge derart komplex und geradezu verworren, dass es schwerfällt, das Knäuel zu entwirren. Je mehr Menschen daran beteiligt sind; je älter die mutmaßlichen Wurzeln bereits sind; je tiefer man - etwa in der Geschichte beteiligter Völker wie solche im Nahen Osten - graben muss, desto komplizierter ist es, Aufklärung, Klarheit, Nüchternheit, Sachlichkeit walten zu lassen. Schnell ergreift man Partei für eine Seite.

Ausgehend vom Sprachgebrauch der hebräischen „Bibel" (wie z.B. Ex 34,7) unterscheiden Rabbiner drei Arten von Vergehen; diese werden z.B. im Jüdischen Gebetbuch erklärt. Das an dritter Stelle genannte, unabsichtliche Vergehen ist das harmlosere. Überraschend ist für mich: Nach rabbinischer Anschauung liegt auch im Falle unbewusster „Sünden" Schuld vor. Der Begriff „Chet" leitet sich von einer Wurzel ab, die „versäumen, verfehlen" bedeutet, genau wie das Pendant im Griechischen ursprünglich darauf hinweist, dass ein Bogenschütze sein Ziel verfehlt:

Es geht um das Misslingen, einem guten Weg zu folgen; um Charakterschwäche oder die mangelnde Ausdauer, die einen Menschen davon abhalten, das Ziel zu erreichen, das er sich selbst gesetzt hat. Schuld liegt sogar bei einer unwissentlichen Sünde vor, wenn man sie bei größerer Sorgfalt hätte vermeiden können. Unachtsame Autofahrer; nachlässige Lehrer; überfürsorgliche oder unachtsame Eltern; gedankenlose Kinder - sie alle machen sich schuldig.

Die an erster bzw. zweiter Stelle (in Ex 34,7) genannten Arten von Vergehen wiegen freilich schwerer; man führt sie noch lieber gegen andere ins Feld, als dies bei „Sünden" der Fall ist.

Da zeigen allzu rasch Menschen, (religiöse) Gruppen, Völker polarisierend aufeinander und bezichtigen sich polemisch gegenseitig einer großen, mit Absicht begangenen Schuld und des rebellischen Verhaltens. Gegenseitige Schuldzuweisungen entstehen schon im Kleinkindalter, bei Völkern meist in der Frühzeit ihrer Historie. Was ist für solche Vergehen charakteristisch?

An erster Stelle steht der Begriff „Pescha": „Rebellion". Er beschreibt die Einstellung eines Menschen, der sich selbst als alleinigen Richter seiner Taten sieht und weder „Gott" noch die Gesetze „Gottes" anerkennt. „Pescha" beschreibt den Menschen, der es ablehnt, für sich und seine Taten verantwortlich zu sein. Für solche Menschen gibt es keine äußeren Maßstäbe für Gut und Böse. Für „gut" halten sie alle Handlungen, die ihnen gefallen und die ihren Zielen entsprechen, für „böse" all jene, die ihnen missfallen und ihren Zielen im Wege stehen.

Die Erklärung von „Pescha" spricht für sich allein, und wir wissen alle, auf wessen Geisteshaltung wir ihn beziehen könnten.

Der Begriff „Awon" kommt von einer Wurzel mit der Bedeutung „verbogen, krumm sein". Er beschreibt einen Menschen, der davon abgelenkt wird, nach dem Guten zu streben, meint aber  auch jene Verbiegung des menschlichen Charakters, die ihn dazu treibt, Böses zu tun, jene seltsame, widernatürliche Veranlagung, die dazu antreibt, die falsche Richtung einzuschlagen und Böses zu tun.

Diese Einschätzung der Schuld erinnert an Martin Luthers grundsätzlicher Auffassung von „Sünde", die auf den Kirchenvater Augustinus zurückgeht: die Lehre vom „Homo incurvatus in se ipsum". Sie bezeichnet die Selbstbezogenheit des Menschen anstelle einer Bezogenheit auf „Gott" und auf den Nächsten, im Prinzip eine Liebesverweigerung - als ein bestimmendes Merkmal der Sünde: Des Menschen Natur ist so tief auf sich selbst hin verkrümmt (lat.: „tam profunda est in seipsam incurva").

Was mir an der überlieferten Geschichte Israels und an jüdischen religiösen Traditionen - der hebräischen Bibel (TeNaCh) sowie den mündlichen und schriftlichen Kommentaren - gefällt, ist der Versuch, selbstkritisch zu bleiben: Selbstreflexion, die als Religion des Herzens und als Vernunftreligion einhergeht.

Dabei gehören Gefühl, Empfinden, Emotion (Herz) und Vernunft (Denken, Verstand, Kalkül) durchaus zusammen. Die jüdischen religiösen Überlieferungen versuchen, das religiöse und kulturelle Leben in Familie und Gesellschaft zu regulieren, in geordnete Bahnen zu lenken, wichtige Orientierungshilfen zu geben und zu einem geringeren Teil politische Maßstäbe zu setzen. In allem werden dabei ethische, moralische Kriterien für das individuelle Verhalten wie auch für gesellschaftliches Handeln vermittelt.

Ein auffälliges Beispiel für die Nüchternheit, selbstkritische Distanz und Fairness im Denken finde ich im Kontext liberalen Judentums, innerhalb dessen es auch einige Rabbinerinnen gibt. Auf einer der renommiertesten Internetseiten aus Israel (hagalil.com) hinterlässt Rab. Daniela Thau einen vielsagenden Beitrag zum Terroranschlag am 11. Sept. 2001; ihre Reflexion hat eher den Charakter einer gehaltvollen Andacht als den eines journalistischen Kommentars:

„Wir stehen einem solchen Ereignis sprachlos gegenüber und können uns nur sehr langsam wieder in den unaufhaltbaren Alltag einfinden. Dieser Anschlag fand noch im Monat Elul statt - der Monat, in dem wir in uns gehen und anfangen, uns mit unseren Unzulänglichkeiten und Verfehlungen auseinanderzusetzen. Es ist ein Vorbereitungsmonat, der dem neuen Jahr gewidmet ist, und mitten in diesen Vorbereitungen werden wir unterbrochen von einem solch schlimmen Ereignis."

Der Terroranschlag auf das World Trade Centre in New York, das Pentagon in Washington und die 4 Flugzeugentführungen fanden am 11. Sept. statt. Dies entspricht dem 23. Elul. Für diesen Tag sind im Gebetskalender bestimmte biblische Texte und Erläuterungen vorgesehen. Dort erhält man auch eine Erklärung über die drei Sündenbegriffe: Pescha, Awon und Chet. Die Rabbinerin staunt selbst über diese Koinzidenz (Zusammentreffen, Zusammenfallen):

„Merkwürdig, daß ausgerechnet an diesem Tag ein Gebetbuch eine Erklärung über die drei verschiedenen Sündenbegriffe gibt !!! Ich denke, daß dies uns lehrt, immer wieder unsere Taten zu hinterfragen, so daß wir nicht der schlimmsten dieser drei Sünden jemals schuldig werden, auch nicht in diesen schlimmen (bösen) Tagen, an denen wir vielleicht meinen, dass man es uns nicht verübeln kann, an das Schlimmste zu denken."

Der letzte Gedanke mag eine Anspielung auf Rache, Vergeltung beinhalten. Doch ist diese Andacht so nüchtern, sachlich, fast demütig, dass die Autorin weder richtet noch verdammt. Wenn sie erläuternd den Begriff „Pescha" übernimmt, meint sie lediglich, er  spräche für sich allein, und man wisse, auf wessen Geisteshaltung wir ihn beziehen könnten. Für mich ist das eine respektable, reife Zurückhaltung, fern von einer Haltung, etwa Gleiches mit Gleichem vergelten zu wollen. Ein zentrales Gebot in der Tora (Lev 19,18) besagt:

„Du sollst den Angehörigen deines Volkes gegenüber nicht Rache üben und ihnen nichts nachtragen, sondern sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst - ich bin der HERR!"

Selten wird von „Gott" ausgesagt, dass er Vergeltung oder Rache übt - und wenn doch, dann ist das „gleichbedeutend mit ‚Gott sorgt für Recht und Gerechtigkeit‘, für den Schutz der Schwachen" und Unterdrückten (Roland Gradwohl).

Der Fromme stellt sich seinen „Gott" als einen dem Menschen stets Zugewandten vor, der die Vergehen vergibt, voller Güte, Liebe, Treue und Barmherzigkeit. „Gott ist stark und in der Lage, die Barmherzigkeit zu verwirklichen"; „Er ist immer voller Erbarmen" (R. Gradwohl). Man kann sich die Beziehung zwischen „Gott" und Mensch ähnlich wie das Verhältnis von Vater und Mutter zu ihrem Kind vorstellen. „Gott" ist auch langmütig, „lange geduldend".

In den Bußgebeten der jüdischen Liturgie zum Versöhnungstag (jom kippur) heißt es, Gott sei langmütig gegenüber den Guten wie auch gegenüber den Schlechten. Eng verbunden ist seine Langmut mit seiner Treue, Liebe und Wahrheit - aber auch mit Recht und Gerechtigkeit.

Schwer zu verstehen ist die Verbindung von Gottes Erbarmen, Liebe, Gnade auf der einen und Recht, Gerechtigkeit auf der anderen Seite. Namhafte jüdische Gelehrte führen dazu aus, dass Gnade stets mit Recht verbunden sei: Recht bleibt gültig, wird durch Gnade keineswegs entkräftet oder aufgehoben - auch nicht später durch den Rabbi Jesus von Nazareth!

Vor allem aber geht es nicht um abstrakte „Eigenschaften Gottes", wie etwa „Allmacht" oder „Allwissenheit" (deutlich im Unterschied zur christlichen Theologie!), sondern vielmehr um „Wirkungsweisen" (Maimonides, Hermann Cohen): Liebe, Güte und Gerechtigkeit begleiten das Handeln „Gottes", wenn er sich dem Menschen zuwendet (R. Gradwohl).

Von allen bisher angesprochenen Wirkungsweisen „Gottes" scheint mir „Gnade", „gnädig sein" am meisten einer genaueren Klärung bedürftig. Ich muss menschlich (oder nach Paulus: „fleischlich", irdisch, nicht geistlich) reden, füge aber hinzu: „göttlich" vermag ich nicht zu sprechen. Und sollte ich Geistliches beizutragen haben, ist es mir nicht bewusst. Ich möchte mich vorsichtig und besonnen an den gewaltigen Begriff „Gnade" herantasten.

In der jüdischen und christlichen Religion wird „Gott" häufig als gnädig, erbarmungsvoll (R. Gradwohl), langmütig und „groß an Treue" bezeichnet, oft auch in dem Kontext, dass Er Schuld, Missetat, Sünde verzeiht und aufhebt (wegnimmt), doch ungestraft lässt Er nicht. Der Gedanke geht im Protestantismus durch eine falsch verstandene Rechtfertigungslehre verloren. Luther besteht immer wieder darauf, dass man „einen gnädigen Gott haben" muss, z.B.:

„Deshalb bedürfen wir dessen über die Maßen sehr, daß wir einen gnädigen Gott haben, der uns helfen kann. Und nicht allein das, sondern wir müssen auch gewiß und sicher sein, daß er uns ohne Zweifel gnädig sein und helfen wolle. Wie können wir aber dessen gewiß und sicher sein, wenn er uns nicht ein sicheres unbezweifelbares Zeichen seiner Gnade und Liebe gegen uns gäbe!" „Sicherheit" findet Luther im „Sakrament des Leibes und Blutes unsers Herrn".

(Vermahnung zum Sakrament des Leibes und Blutes unsers Herrn (1530). M. Luther: GW, S. 3941, digitale-bibliothek DB 63).

Auch auf die Gefahr hin, lutherisches Denken und Glauben hier allzu verkürzt anzusprechen, darf man doch wohl einen erheblichen Unterschied zum jüdischen Verständnis konstatieren, wie er z.B. aus der hebräischen Bibel deutlich wird. Luther verankert Gnade, Liebe, Langmut, Barmherzigkeit „Gottes" sakramental und christologisch. Das Sakrament als Ausdruck und Symbol des „Opfers Christi":

„Denn das Sakrament ist ja kein Zeichen seines Zornes, und er würde es uns nimmermehr geben, wenn er mit uns zürnte, sondern es ist ein Zeichen seiner höchsten Liebe und unergründlichen Barmherzigkeit. Und wie kann er höhere Liebe und tiefere Barmherzigkeit erzeigen, als daß er uns wahrhaftig sein eigen Leib und Blut zur Speise dargibt?"

Wir haben bereits wahrnehmen können, dass jüdische Gelehrte mit der hebräischen Bibel die „Gnade Gottes" oder „Gott" als Gnädigen von der Art und Weise her verstehen möchten, wie Er sich dem Menschen zuwendet, und zwar immer wieder neu - in der Geschichte Israels und der Völker und Nationen. Diese Auffassung von Gnade gilt analog auch für „Gottes" Güte, Erbarmen, Gerechtigkeit, Liebe, Treue und Wahrheit.

Wenn ich es recht verstehe, impliziert dieses Verständnis von Gnade keineswegs, dass der Mensch ohne sie ein verdammenswertes Geschöpf wäre, von vornherein in und zur Sünde geboren. Christliche Theologie neigt dazu, fragwürdige Begriffe wie „Erbsünde" geschickt zu verklausulieren oder zu verbrämt; mir scheint, eine ebenso hinterfragbare Gnadenlehre nährt sich geradezu von der theoretischen Voraussetzung einer „Erbsünde".

Das Judentum kennt keine Erbsünde. Ganz im Gegenteil. Nach Ansicht der Weisen kommt der Mensch rein und mit einem freien Willen ausgestattet in diese Welt. Er hat daher immer die Möglichkeit zwischen gut und böse sich zu entscheiden. Auch beim Rabbi Jesus findet man keine Vorstellung von Erbsünde.

Provozierend behaupte ich, dass (ausgehend von Augustinus) ein verbreitetes, bestimmtes Gnadenverständnis in der stillschweigenden oder offen proklamierten Anschauung von der Nichtigkeit des Menschen („vor Gott") wurzelt - Luther-Handbuch (2010), 59:

„Also besteht das ganze Heil in der Niederlegung des Willens in allen geistlichen und zeitlichen Dingen (...), und in dem bloßen Glauben an Gott".

Versteht oder missversteht man Luther (?), wenn man schlussfolgert - cf. Felix Weltsch: Gnade und Freiheit (2010), 118 (ich verzichte meist auf die lateinischen Formulierungen):

Zu behaupten, der Mensch hätte als Kreatur eine Wahlfreiheit, sei eine Lüge. „Gott" müsse zuvor „uns und das Unsere zerstören (nos et nostra destruere), damit er als unser innerstes reines geistiges Willensprinzip zum reinen Handeln in uns (agere in nobis)" kommen kann. Ein solches Prinzip der Gnade besteht also darin, das eigene Ich völlig auszulöschen, damit Gott im Menschen wirken kann. Der Mensch muss seinen ganzen Willen, seine Individualität ausschalten. Alle seine Werke „haben zu ruhen", damit „Gottes" Werk im Menschen wirkt.

Man sollte nicht vorschnell urteilen, dieses Denken hätte sich immer nur in den Köpfen abgespielt und wäre heutzutage jedenfalls längst überwunden. Dann schauen wir uns doch einmal unseren Sprachgebrauch an: Im Rahmen einer Amnestie wird man begnadigt und ist erst dann frei; begnadigt werden Schwerverbrecher oder die als solche politisch abgeurteilt werden. In Ländern, die noch Folter und Todesstrafe praktizieren, flehen oder winseln die Beschuldigten um Gnade. Im Krieg kennen die beteiligten Parteien keine Gnade.

Harmlos wirkt die gängige, ironische Redewendung, die auf vermeintliche Großzügigkeit reagiert: „Ach, wie gnädig!" - Sie impliziert, dass hier jemand in herablassender Weise, also gönnerhaft und von oben herab, nicht aber aus Freundschaft, Liebe oder Dankbarkeit gütig oder großzügig handelt. Es fällt schwer, sich bei einer solchen Motivation etwas schenken zu lassen. Auch das Bild vom „gnädigen Gott" sollte in dieser Hinsicht hinterfragt werden.

Ich sympathisiere eher mit der Vorstellung vom Erbarmen „Gottes"; seine Barmherzigkeit hängt im Hebräischen mit dem „Mutterschoß" zusammen. Daher ist die natürliche Liebe einer Mutter zu ihrem Kind geradezu Inbegriff, Vorbild, Verkörperung von Barmherzigkeit, so dass „Gottes" Verhältnis zum Menschen gern damit verglichen wird (s. z.B. Jes 49,15).

Barmherzigkeit und Mitleiden sind in unserer Gesellschaft nicht mehr „salonfähig". Wer sich den geläufigen Wertmaßstäben und Spielregeln der Starken, Gesunden, Erfolgreichen nicht anpasst, wirkt auf die meisten Mitmenschen naiv, wenn nicht gar fehl am Platze. Zum Glück gibt es auch die gegenläufige Tendenz zu mehr Empathie und Compassion; man ist bemüht, sich in andere Menschen und ihr Leid hineinzuversetzen, ihre Situation so weit möglich nachzuempfinden - cf. Walter Kardinal Kasper: Barmherzigkeit (2010), 24-25.

Empathie und Mitleiden (nicht: Mitleid haben) stoßen allerdings deutlich an eine Grenze, wo massiv Unrecht oder Böses geschieht. In der hebräischen Bibel ist das Erbarmen „Gottes" eng an seine Heiligkeit und Gerechtigkeit geknüpft. „Gott" vermag dem Bösen nur Widerstand entgegenzusetzen und mit „Zorn" zu reagieren; das meint, dass er Frevel, Sünde und Unrecht seinen Widerstand entgegenstellt. Erbarmen und Heiligkeit entsprechen seiner Gerechtigkeit. Sofern Gott seine Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt erweist, wäre dies bereits ein Werk der Barmherzigkeit (cf. Kasper: Barmherzigkeit, 60-61, der im Indikativ formuliert!).

Der Realismus der hebräischen Bibel spiegelt die Polarität von Gerechtigkeit und Erbarmen; sie drückt sich aus im Empfinden eines Widerspruchs: Dass (auch) „Gott" Sünde und Unrecht konsequent unter Strafe stellt, ist in der Regel auch für die Bestraften mehr als verständlich. Dass „Gott" sogar gütig bleibt und seine gnädige Zuwendung nur vorübergehend entzieht, wird als glaubwürdige Großzügigkeit empfunden. Dass „Gott" aber grausamsten Gräueltaten und schrecklichsten Verbrechen nichts entgegensetzt, ist nicht nur völlig unbegreiflich, sondern unentschuldbar, unverzeihlich.

Deshalb ist in meinen Augen jüdisches und auch christliches Denken und Glauben stets ein Ringen um die Angemessenheit ihres Gottesbildes. Muss man sich „Gott" wirklich als einen vorstellen, der immer barmherzig ist? Und vor allem: barmherzig auch gegenüber den Tätern, gegenüber den schlimmsten, boshaftesten Gewaltverbrechen? Gegenüber der planvollen, systematischen Vernichtung der Juden und anderer Menschen, die den Nazis im Weg waren?

Erbarmen auch gegenüber denen, die in den sibirischen Gulags Menschen quälten und sterben ließen? Erbarmen gegenüber den Verfechtern blutiger Revolutionen auf Kosten unzähliger Menschen - etwa in Südostasien? Oder gegenüber den Opfern europäischer Kolonialpolitik in Amerika, Afrika und Australien? Die Opfer waren schwach, ohnmächtig und unschuldig.

Wo war der „Gott", der angeblich stark ist und sein Erbarmen gegenüber den Schwachen, Unterdrückten, Gepeinigten - den Opfern sinnloser Gewalt - verwirklichen kann? Geläufige Gottesbilder zerbrechen, wenn man sie mit der knallharten, unbarmherzigen Wirklichkeit konfrontiert. Muss ich mir unbedingt „Gott" vorstellen? Was bzw. wen auch immer ich mir ausmale (!), es ist und bleibt ohnehin (nur) eine menschliche Vorstellung, ein Entwurf, eine Skizze, niemals ein fertiges Gemälde.

Für mich hat es deshalb wenig Sinn, von (einem) „Gott" zu erwarten, dass er menschliche Irrungen und Wirrungen, Streitigkeiten, Konflikte, Mord, Kriege; Umweltverschmutzung, Klimakatastrophen, Turbokapitalismus (wahnhaftes Streben nach grenzenlosem Wachstum an Kapital und Wirtschaft), Ausbeutung der Natur, massenhaftes Morden an der Tierwelt usw. - dass er diesem Wahnsinn, dieser grassierenden Dummheit Einhalt gebietet. (Jedenfalls hat er es bislang nicht getan!)

Es obliegt doch vielmehr unserer Verantwortung, einmal mehr zu erweisen, dass Menschen mehr können als ausbeuten, morden und zerstören! Das gehört m.E. auch, dass wenigstens  bestehendes Unrecht, herrschende Gewalt und Unterdrückung sowie grobe, absichtliche Fahrlässigkeit beim Namen genannt, strafrechtlich und völkerrechtlich verfolgt werden. Es gibt dabei nichts zu beschönigen. Wir brauchen allerdings ein starkes Rückgrat und sollten vielmehr diejenigen unterstützen, die an vorderster Front die gewaltigen Missstände entlarven und an brauchbaren Alternativen arbeiten. Vielleicht lassen wir uns sogar von ihnen anstecken.

Die Verantwortung im Großen entlässt uns freilich nicht aus der Verantwortung „im Kleinen". Je mehr wir darauf achten, uns untereinander den Rücken zu stärken, indem wir einer den anderen höher achten als uns selbst und auf diese Weise Barmherzigkeit üben - nicht von oben herab, desto mehr werden wir befähigt, Güte und Nächstenliebe walten zu lassen. Amen.



Pfarrer Thomas Bautz
Bonn
E-Mail: Bautzprivat@gmx.de

Bemerkung:
Literatur
Roland Gradwohl: Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen 4 (1989), 104-119.
Moses Mendelssohn: Schriften zum Judentum III,3. Pentateuchkomm. (2009), 290-294.
Benno Jacob: Das Buch Exodus (1997): IV. Der Gott der Gnade (34,4-7), 965-970.
Ruth Scoralick: Gottes Güte und Gottes Zorn (2002) - (zu Gottesprädikationen in Ex 34,6f).
Markus Zehetbauer: Die Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit (1999).
Walter Kardinal Kasper: Barmherzigkeit (2012).
Felix Weltsch: Gnade und Freiheit. Mit e. Nachwort v. Hans-Gerd Koch (2010).
Jürgen Werbick: Gnade (2013).



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