Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

20. Sonntag nach Trinitatis, 02.11.2014

Predigt zu Matthäus 5:1-12 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Poul Joachim Stender

Der erste Sonntag im November wird in der dänischen Kirche als Allerheiligen Sonntag zum Gedenken der Toten gefeiert. Beim Gottesdienst zu Allerheiligen in der Kirche von Saaby brennt auf dem Altar ein Licht für jeden Verstorbenen des vergangenen Jahres. Die Namen der Toten werden von der Kanzel verlesen. Am Ende des Gottesdienstes bewegen sich alle singend aus der Kirche mit den Blumen der schön geschmückten Kirche. Der Gottesdienst schließt mit einem Gebet, dem Segen und einem Lied auf dem Friedhof. Danach essen wir zusammen mit einander und den Toten. Es gibt warme Suppe und frischgebackenes Brot an den Gräbern.

 

Wir bilden uns ein, dass wir alles unter Kontrolle haben. Aber haben gar nichts unter Kontrolle. Unsere Zeit ist ganz auf das Planen fixiert. Wir glauben, dass wir Ordnung schaffen können. Aber die Unordnung lauert überall um uns her. Mal sind es Orkane, dann ist Krieg, oder Krankheit, dann ein Todesfall. Vielleicht trifft uns die Unordnung stärker als je zuvor, weil wir so sehr davon besessen sind, Macht über die Dinge zu haben. Die Gefühle des Menschen sind chaotisch und widersprüchlich- Das Leben lässt sich nicht kontrollieren. Was hilft es mit schönen Zielsetzungen für alles, wenn wir nicht zugleich akzeptieren können, dass Unordnung, fehlende Struktur, Ohnmacht Teil unseres Lebens sind? Gibt es denn eine Institution oder einen Menschen, die in ihrer Zielsetzung für das Leben diesen Satz einbeziehen: „Hier akzeptieren wir, dass das Leben größer ist als alle unsere Absichten und dass Ohnmacht und fehlende Struktur auch unser Los als Menschen sind". Wir, die wir heute zu diesem Gottesdienst an Allerheiligen versammelt sind, haben das gemeinsam, dass wir erlebt haben, wie das ist, die Kontrolle über die Dinge zu verlieren. Ein Mensch, den wir geliebt haben, ein Mensch die Licht und Salz für uns war, ist tot. Es ist Unordnung in die Dinge gekommen. Einige sagen, daß die Sehnsucht nach dem Menschen, den wir verloren haben, mit den Jahren abnimmt. Das stimmt nicht. Der Verlust wird nicht geringer und die Sehnsucht verliert nicht ihre Kraft wie das Salz. Wir werden größer. Der Todesfall hat uns erweitert, und langsam, unendlich langsam, lernen wir zu erfassen, dass das Leben zugleich schön und schmerzhaft ist. Es gibt ein Gebet im Alten Testament, es heißt das Gebet des Jabez. Es lautet so: „Ach dass du mich segnest, Gott, und mein Gebiet mehrtest" (1. Chr. 4,10). Bei diesem Gebet ist gar nicht an Erweiterung unseres Territoriums oder unserer Einkommen oder der Größe unseres Autos gedacht. Jabez bittet darum, dass sein Inneres, sein Lebensverständnis, seine Art und Weise, das Leben wahrzunehmen, erweitert werden möge, so dass er das Leben nicht nur dann meistert, wenn es ihm gut geht, sondern auch dann das Leben erfassen kann, wenn es ihm schlecht geht und er jemanden verliert oder sein Haus durch einen Orkan zerstört wird oder er selbst durch Krankheit und Tod getroffen wird. Wir sind viele heute, die hier in der Kirche sitzen und dabei sind, uns zu erweitern, um zu fassen, dass wir einen Menschen verloren haben, der unendlich viel für uns bedeutet hat. Man nennt das Trauerarbeit. Und hat man die Trauer erfahren, weiß man das. Das ist eine Riesenarbeit, mit dem Verlust leben zu lernen. Was lehrt uns ein Todesfall? Ja, es ist weder Sex noch wilde Erlebnisse, die obenan stehen, wenn sterbende Menschen beschreiben sollen, was sie im Leben am meisten bereuen. Das ist vielmehr, dass sie zu viel gearbeitet haben und wertvolle Zeit mit ihren Lieben versäumt haben. Die Frage ist deshalb, ob man sich auf das Sterben vorbereiten kann, indem man mit seinen Lieben zusammen ist. Das meine ich. Es zu spät, angesichts des Todes zu bereuen, dass man sich nicht genug Zeit genommen hat für die Menschen, die man liebt und von denen man geliebt wird. Jeder weiß auch, dass Generalproben wichtig sind vor einem großen Ereignis. Meine Großeltern hielten eine Dämmerstunde. Sie saßen ganz still und ließen den Abend langsam in ihre Stube kommen. Die Dunkelheit floss langsam durch die Schlüssellöcher und füllte den Raum mit kleinen schwarzen Punkten, bis es so dunkel wurde, dass mein Großvater sich zum Steckkontakt durchtasten musste, um das Licht anzumachen. Ich glaube, sie haben sich im Streben geübt. Wenn sie die Dunkelheit gesehen hatten, konnten sie wirklich das Licht genießen. Heute machen wir stundenlang das Licht an, ehe es dunkel wird, um das Gefühl zu vermeiden, dass der Tag und das Leben eine Ladenschlusszeit haben. Aber gerade indem man das mit bedenkt, wird das Leben stärker. Ein französischer Schriftsteller sagte einmal, dass das Alter eines Menschen nicht anders wird als das Leben, das man gelebt hat, bevor man alt wird. Wenn man sich nie die Zeit nimmt, das Leben zu genießen, kann man nicht damit rechnen, dass einem das nach seiner Pension gelingen wird. Es erfordert lebenslanges Üben, um ein gutes Leben im Alter zu haben. So ist es auch mit dem Tode. Der Tod wird nicht anders als das Leben, das man gelebt hat. Wenn man weder der Dunkelheit, der Stille oder der Ewigkeit ins Auge blicken wollte, wird das ziemlich schwierig, wenn einen Krankheit und Tod treffen. Mit Jabez im Alten Testament müssen wir beten: Herr, mehre mein Gebiet! Der Sonntag Allerheiligen hat für uns, die wir hier in der Kirche versammelt sind, zwei Bedeutungen. Wir sollen heute Generalprobe halten für unseren Tod, indem wir daran denken, dass unser Leben unter einem Ladenschlussgesetz steht, das gar nicht so liberal ist wir das neue Ladenschlussgesetz. Das hat uns der Tod unserer Lieben gelehrt. Und wir sollen heute unserer Toten gedenken. Da strömt Licht aus ihren Gräbern. Das ist das Licht, das Gott vor Sonne, Mond und Sternen erschuf. Das Licht der Liebe. Zurückschauen auf das Leben, das wir mit denen gelebt haben, die wir verloren haben, das ist nicht Finsternis, Kälte und Leere sehen, sondern Licht, Wärme und Liebe. Glaubt mir. Wir, die wir über unsere Toten trauern, sind selig. Denn wir sind, trotz Trauer, Unbarmherzigkeit, Ungerechtigkeit, Unfrieden umgeben vom Licht der Liebe. Sehen wir zurück auf unser Leben mit den Menschen, die wir verloren haben und über die wir trauern, dann begegnet uns Licht. Da stehen der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, und die Liebe strömt uns entgegen. Und um uns her, gerade jetzt, sind lebendige, warme, wunderbare Menschen, die in unser Dasein Licht bringen und mit denen wir das Leben genießen sollen. Amen.



Pastor Poul Joachim Stender
DK-4060 Kirke Saaby
E-Mail: pjs(at)km.dk

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