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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 16.11.2014

Zu Hause sein
Predigt zu 2. Korinther 5:1-10, verfasst von Wolfgang Winter

Liebe Gemeinde,

 

immer mehr Kinder, die gegenwärtig bei uns geboren werden, haben die Chance, hundert Jahre alt zu werden. Das liegt am medizinischen Fortschritt, aber auch an einem gesellschaftlichen Konsens, dass die Gesundheit etwas besonders Wichtiges ist im Leben und dass wir aufgefordert sind, etwas dafür zu tun. Gesunde Ernährung und Bewegung werden dringlich empfohlen. Unser Körper soll nicht nur Werkzeug und stummer Diener sein, sondern unser Freund werden, den wir pflegen, so dass wir uns in ihm zu Hause fühlen können -  und das noch lange bis ins Alter hinein.

In eine ganz andere Welt und ein ganz anderes Lebensgefühl führt uns unser heutiger Text.

„Wir haben... Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein beim Herrn", schreibt Paulus.

„Denn solange wir im Leib wohnen, weilen wir fern vom Herrn."

Das irdische Leben bekommt hier insgesamt ein negatives Vorzeichen. Die Welt ist Fremde, ist Exil.

Das irdische Haus, der Leib, diese Hütte wird am Ende zerbrochen werden durch den Tod. Und schon jetzt ist das irdische Leben beschwert mit vielen Lasten. Paulus zählt dazu seine eigenen Erfahrungen: „Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch die Flüsse, in Gefahr unter den Räubern, in Gefahr unter den Juden und den Heiden, in Gefahr in den Städten, in Gefahr auf dem Meer, in Mühe und Arbeit, in Hunger und Durst, in Frost und Nacktheit." (2.Kor.11,26f.)

Da heraus sehnen wir uns. Wir wollen nicht nackt, nicht verletzlich dastehen. Vielmehr sehnen wir uns danach, überkleidet zu werden mit einer himmlischen Hütte  -  einer unzerbrechlichen, unzerstörbaren Umkleidung, die uns schützt und Heimat bietet. Und das steht unmittelbar bevor mit der Wiederkunft Christi auf Erden.

 

Liebe Gemeinde, dieses Selbstgefühl und diese Sicht des Lebens ist uns doch zunächst recht fremd. Aber bei genauerem Hinhören vielleicht doch nicht so ganz.

Heute ist Volkstrauertag. Heute gedenken wir der Toten beider Weltkriege. Wir gedenken insbesondere der Schuld der Deutschen, die vor allem im Zweiten Weltkrieg unfassbares Leid über Andere gebracht haben. Und wir gedenken auch des Leides, das im Verlauf des Krieges auf die Deutschen zurückgekommen ist. Die Erfahrung von Bombenkrieg, von Flucht und Vertreibung und von Verlust von Angehörigen, vor allem von Vätern, haben viele Familien gemacht. Auch das Leid der  damaligen Kinder kann heute wahrgenommen und verstanden werden. Für die Älteren unter uns ist das noch erlebte Geschichte. Viele gehören ja zur Generation der sogenannten Kriegskinder. Die Jüngeren werden Familiengeschichten kennen, die zeigen, wie stark die Kriege die Familie getroffen haben und Teil des Familiengedächtnisses  geworden sind. In diesen Geschichten artikulieren sich häufig Erfahrungen von Unbehaustheit und Fremdheit in dieser Welt  -  und zugleich eine tiefe Sehnsucht nach Orten der Sicherheit und heimatlichen Geborgenheit.

 

Ich denke dabei an eins dieser Kriegskinder, heute eine inzwischen pensionierte Lehrerin. Sie hat ihr Leben gemeistert. Sie hat ihre berufliche Karriere gemacht. Sie hat eine Familie gegründet und die Kinder in die Erwachsenheit entlassen. Aber nun, im Alter, werden die dunklen Schatten der Vergangenheit wieder wach. Als fünfjähriges Kind hat sie den Hamburger „Feuersturm" miterlebt - die verheerende Bombardierung der Stadt im August 1943 mit 30.000 Toten. Sie erinnert sich an die Panik, die im Bunker ausbrach und an ihre furchtbare Angst. Das war eine traumatische Erfahrung, d.h. eine Erfahrung völligen Ausgeliefertseins und völliger Hilflosigkeit. Dies Trauma hat in ihrem weiteren Leben untergründig weitergewirkt. Vor allem ging ihr das selbstverständliche Selbst- und Weltvertrauen verloren.Dies sogenannte Urvertrauen ist eine Art Heimatgefühl in der Welt. Es zeigt sich z.B. in der Erwartung, dass andere Menschen mir im Wesentlichen wohlgesonnen sind, dass ich mich anderen zeigen kann in meiner leibhaften Existenz und mich deswegen nicht schämen muß.

Dies selbstverständliche Urvertrauen war dem damaligen Kind in der Bombennacht abhanden gekommen. Hinter ihrer Lebenstüchtigkeit blieb eine fundamentale Selbstunsicherheit lange Zeit verborgen. Im Alter spürte sie diese wieder. Ihr wurde bewußt, wie fremd sie sich  -  bei aller äußeren Zugewandtheit  -  oft unter Menschen fühlte. Auch, wie sie vor Nähe zu anderen zurückschreckte und sich schnell zurückzog. Und wie ihr das tragende Gefühl von Heimat und Geborgenheit fehlte.

Mit einer wichtigen Ausnahme allerdings: „Gott ist meine Zuflucht"; sagt sie. Wenn es wieder mal zu eng und bedrückend für sie werde, dann flüchte sie sich einfach zu Gott. „Der ist dann meine feste Burg. Da kommt kein Mensch ran."

 

Liebe Gemeinde, Gott als Zuflucht, als sicherer Ort, wenn die Welt unsicher und zerbrechlich wird und sich ein Gefühl der Entfremdung in uns einstellt  -  das ist eine besondere Form von Frömmigkeit. Üblicherweise fühlen wir uns ja in unsrer Welt einigermaßen zu Hause. Wir fühlen uns dann verbunden mit anderen Menschen und mit der Natur  -  und in all dem in der Tiefe mit Gott, der alle seine Geschöpfe leben und wachsen läßt. Man hat das eine „moderatreligiöse" Form von Frömmigkeit genannt (Gerd Theißen).

Aber bei Paulus und bei der alten Dame klingt es anders, klingt es nach Entfremdung und Krise. Gott ist letzte Zuflucht: Gott ist Gegenmacht gegen die traumatische irdische Welt. Diese Welt ist nicht Heimat, sondern eine einzige Last, die uns seufzen und nach einer anderen Heimat sehnen macht. Paulus beschreibt diesen Prozess wie einen Wohnungswechsel: Nicht mehr zu Hause sein wollen im irdischen Leib, sich in ihm fremd fühlen, sondern zu Hause sein wollen bei Christus in einem himmlischen Leib. Er macht diesen Prozeß anschaulich, indem er den gleichen Wortstamm verwendet: „ekdemein" (in der Fremde sein) und „endemein" (zu Hause sein). In beiden Worten steckt das Wort „demos", in einem weiteren Sinn zu verstehen als das Zuhausesein in einem Volk.

 

Dies Zuhause ist zwar noch nicht sichtbar und verfügbar. Wir leben im Glauben, noch nicht im Schauen. Aber Gott hat uns seinen Geist gegeben als Unterpfand, schreibt Paulus.

Der Geist: das ist die Gewißheit, dass keine schlimme Erfahrung uns trennen kann von Gott.

Der Geist: das ist die Widerstandskraft, trotz allem Widrigen das Leben zu bestehen. Luther übersetzt hier etwas zu schwach: „Wir sind allezeit getrost...". Paulus dagegen: „wir sind mutig" (tharrein) - auch wenn wir noch nicht ganz beim Herrn sind.

Der Geist: das ist schließlich unser Streben danach, ihm nahe zu sein, ihm nachzufolgen und ihm zu gefallen, bis wir alle endgültig vor ihm offenbar werden.

 

Liebe Gemeinde, traumatische Erfahrungen machen auch heute viele Menschen. Wie steht es da mit Gewißheit und Widerstand und Nachfolge?

Vor wenigen Monaten war hier in Göttingen ein Theaterstück zu sehen mit dem Namen „Nach dem Frühling. Fluchtpunkt Göttingen." Gemeint war der arabische Frühling. Angeleitet von einigen professionellen Schauspielern stellten 25 minderjährige jugendliche Flüchtlinge aus Nordafrika und Nahost ihr Schicksal dar, meist wortlos-pantomimisch:  all die Angst, die Verlassenheit und die Sehnsucht nach Geborgenheit. Dazu sangen Einige die Lieder aus der Heimat, spielten heimatliche Instrumente. Wir Zuschauer saßen da wie gebannt, und ich hatte das Gefühl, dass auch wir eine Rolle angetragen bekamen: nämlich die Klage zu hören, sie in uns aufzunehmen und zu bewahren, damit sie nicht vergessen wird. Vielleicht waren wir Zuschauer und Zuhörer an diesem Abend auch ein Teil jener heilsamen Gegenmacht gegen die traumatische Erfahrung von Ohnmacht und Verlassenheit bei diesen jungen Leuten.

 

Gott ist sichere Zuflucht und Gegenmacht gegen alle traumatische Lebenserfahrung.

Wir können uns diese Botschaft zu eigen machen und für uns gelten lassen, besonders in Krisenzeiten.

Das müssen übrigens nicht nicht immer traumatische Widerfahrnisse sein. Manchmal bringen uns, mitten im Alltag, auch Kränkungen und Bloßstellungen dahin, dass wir unser gewohntes Selbstvertrauen und Zutrauen zu anderen verlieren. Auch in solchen Momenten können wir uns flüchten zu Gott als unzerstörbarem Halt, an dem wir wieder Festigkeit und Widerstandsgeist gewinnen können.

Paul Gerhardt hat solch einen Lebensgewinn - auch in einer Krisenzeit - so beschrieben:

 

Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich.

So oft ich ruf und bete, weicht alles hinter sich.

Hab ich das Haupt zum Freunde und bin geliebt bei Gott,

Was kann mir tun der Feinde und Widersacher Rott?

                                                                         (EG 351,1)

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen



Pastor i. R. Wolfgang Winter
Göttingen
E-Mail: wolfgang-winter@gmx.de

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