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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Buß- und Bettag, 19.11.2014

Friedensgebettag
Predigt zu Jesaja 1:10-17, verfasst von Gert-Axel Reuß

(Der Predigttext Jes 1, 10-17 wird nicht zu Beginn sondern in der Mitte der Predigt verlesen.)

Liebe Gemeinde,

der Buß- und Bettag ist ein öffentlicher Gedenk- und Feiertag, kein kirchliches Fest, für das die Menschen Freiräume und gesetzlichen Schutz bräuchten. Wenn sich vor 20 Jahren die Nordelbische Kirche in Schleswig-Holstein gegen seine Abschaffung gewehrt hat, dann hat sie das nicht für sich selbst getan, sondern weil es Anlässe braucht, öffentlich innezuhalten und frei von Sachzwängen und Entscheidungsdruck den Weg unserer Gesellschaft zu bedenken.

Sterbehilfe, der Umgang mit Flüchtlingen (Stichwort: Festung Europa), die Verantwortung unseres Landes für den Frieden in der Welt und die Rolle der Bundeswehr - Politikerinnen und Minister stehen immer wieder vor schwierigen Entscheidungen, in denen verschiedene Güter miteinander abgewogen werden müssen. Als Bürgerinnen und Bürger und auch als Christinnen und Christen dürfen wir sie darin nicht alleinlassen. Auch wenn sie manchmal nicht akzeptieren wollen, dass ihre Entscheidungen hinterfragt werden.

Diese Klarstellung erscheint mir nötig, weil das Missverständnis weit verbreitet ist, als gehe es an dem heutigen Gedenktag um die persönliche Buße und privates Fehlverhalten. Die biblischen Texte, die für diesen Tag ausgesucht sind, haben einen völlig anderen Klang, wenn wir sie nicht individuell sondern kollektiv verstehen.

Nein, es geht heute nicht um die Frage, ob wir von eigener Hand sterben dürfen. Gott sei Dank sind die Zeiten überwunden, in denen ein Selbstmord vertuscht werden musste, damit eine Beerdigung auf dem Friedhof durchgeführt werden konnte.

Vor einer Woche haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages im vielleicht wichtigsten Gesetzgebungsverfahren der Wahlperiode auch darum gerungen, ob wir als Gesellschaft den Tod als Privatsache ansehen und deshalb Patienten einen Anspruch auf den ärztlich assistierten Suizid haben. Oder haben wir eine öffentliche Verpflichtung, Sterbenden beizustehen, auch wenn die Schaffung von Hospizen und die ambulante palliativ-medizinische Betreuung zusätzliches Geld kosten.

Es geht heute um die Frage, ob sich die Wohlstandsinsel Europa in der bisherigen Weise mit immer höheren Zäunen und Mauern und Kriegsschiffen gegen den Strom der Armutsflüchtlinge abschotten soll oder ob es nicht größerer Anstrengungen bedarf, die Armenhäuser dieser Welt zu Orten zu entwickeln, in denen ein auskömmliches Leben möglich ist - auch wenn wir dafür den Welthandel reglementieren müssen.

Es geht heute um die Frage, ob unsere Regierung Waffen an Kurden liefern soll. Ob die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr aus Afghanistan zurückgezogen werden. Wie die westliche Welt mit ihren Bündnissen und Zusammenschlüssen auf den Bürgerkrieg in der Ukraine reagieren soll, damit sich Perspektiven zum Frieden ergeben.

Deshalb gehören unser Bürgermeister und die Abgeordneten des Kreistages, des Landes, des Bundes heute in die erste Reihe. Sie sollten in den Kirchen sitzen - nicht als eine Art Pranger, sondern um zu erfahren, dass sie in ihrem täglichen Ringen um die richtigen Entscheidungen nicht alleine stehen, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Dass sich auch andere Menschen Gedanken machen und sich nicht aus dem von manchen als „dreckig" erachteten Geschäft der Politik zurückziehen, auch wenn sie nicht in konkreter Verantwortung stehen.

Vermutlich haben Sie zu vielen der angesprochenen Fragen eine Meinung. Wir sollten uns hüten, unsere Meinungen mit abschließenden Antworten zu verwechseln, sondern uns als Teilnehmende eines Meinungsbildungsprozesses begreifen.

Was könnte der Beitrag der Kirche sein? Als Christinnen und Christen vertrauen wir auf die Kraft des Gebetes. Das sollten wir die politisch Verantwortlichen wissen lassen. Nicht bevormundend, sondern selbstbewusst. Nicht besserwisserisch, sondern bereit zur Mitverantwortung.

Ich möchte also nicht klagen über die, die heute nicht hier sind, sondern nach Wegen suchen, wie wir das, was wir an diesem Buß- und Bettag tun, in geeigneter Weise denen kundtun, für die wir mitdenken. Deshalb ist es mir wichtig, dass wir den Buß- und Bettag nicht resigniert aufgeben, sondern weiterbeten, so wie es die kirchliche Friedensbewegung in der DDR über viele Jahre getan hat: Wir laden ein zum Friedensgebet!

In der Leipziger Nikolaikirche haben sie das seit 1982 an jedem Montag getan. Im Herbst 1989 wuchs plötzlich die Zahl der Teilnehmenden und der öffentlichen Aufmerksamkeit, bis schließlich Montagsdemonstrationen daraus entstanden mit Kerzen in der Hand und dem Ruf „Keine Gewalt!". Die Menschen haben die Botschaft der Bergpredigt Jesu auf die Straße getragen und es ist eine Bewegung in Gang gekommen, die diese Welt verändert hat - nicht nur in unserem Land.

Vor diesem Hintergrund lese ich einen alten prophetischen Text aus dem 1. Kapitel des Jesaja-Buches, die Verse 10 - 17:

10 Höret des HERRN Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra! 11 Was soll mir die Menge eurer Opfer?, spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke. 12 Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor mir - wer fordert denn von euch, dass ihr meinen Vorhof zertretet? 13 Bringt nicht mehr dar so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Gräuel! Neumonde und Sabbate, wenn ihr zusammenkommt, Frevel und Festversammlung mag ich nicht! 14 Meine Seele ist Feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin's müde, sie zu tragen.15 Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut. 16 Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, lasst ab vom Bösen! 17 Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!

Liebe Gemeinde,

ich lese diesen Text nicht als eine Fundamentalkritik an unseren Gottesdiensten. Die sind schon lange keine Beschwichtigungsrituale mehr, wenn sie es denn je waren. Beruhigungspillen werden in unserer Gesellschaft an anderen Stellen ausgegeben.

Erstens: Wenn heute über die Begleitung Todkranker offen und ehrlich geredet wird, dann gelten für mich zwei Prinzipien:

•-      wir müssen die Angst vor dem Sterben ernst nehmen und dürfen die Menschen darin nicht alleine lassen. Das bedeutet auch, dass der Kranke nicht bevormundet wird, sondern seine Entscheidungen geachtet werden. Aber wir können ihm möglicherweise nicht jeden Wunsch erfüllen.

•-      gerade in den Kirchen werden wir in Erinnerung rufen, dass wir unser Leben nicht in unserer Hand haben. Eine solche Erinnerung gilt nicht nur den Sterbenden, sie gilt vor allem den Lebenden. Es kommt nicht nur darauf an, sein leben Gott anzuvertrauen. Es kommt auch darauf an, dass wir Beziehungen so pflegen, dass wir uns anderen zumuten können.

Ich vermute, dass die Sorge, anderen zur Last zu fallen, die Debatte um die Sterbehilfe beeinflusst. An dieser Stelle setzt meine Kritik an. Was ist das für eine Gesellschaft, in der sich Menschen als „Belastung" erleben? Wir haben doch andere Beispiele in der Geschichte des jüdischen Volkes, wie sie im Ersten Testament aufgeschrieben ist, z.B. im Buch Rut. Wir haben die Ermahnung und den Zuspruch des Paulus, wenn er sagt: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen." (Gal 6, 2)

Zweitens: Wenn wir unser Erschrecken über die ertrunkenen Bootsflüchtlinge vor Gott ausbreiten, dann erwarten wir doch keine blitzartige Lösung aller Probleme dieser Welt, sondern wir bitten Gott um Kreativität und Phantasie, die uns Auswege aus den Sackgassen unseres Denkens und Handelns weisen.

Zusammen mit der Diakonie bemühen sich Kommunalpolitikerinnen und -politiker, in unserer Region eine „Willkommenskultur" zu etablieren, damit die, die schon da sind in der Flüchtlingsunterkunft, einen besseren Start in ihr neues Leben haben.

Drittens: Wenn wir für den Frieden beten, dann bedeutet das nicht, dass wir danach die Hände in den Schoß legen. Wir bringen unsere Beunruhigung vor Gott und bitten im nächsten Atemzug: „Gott, mach uns zu Werkzeugen deines Friedens."

Wer so betet, wird auch schwierige Abwägungen vornehmen können, weil nicht die Arbeitsplätze in unserem Land sondern die Menschen im Vordergrund stehen, die sich nach Frieden sehnen.

Vielleicht braucht der Buß- und Bettag einen neuen Namen: Friedensgebettag!

Wir werden auch in Zukunft öffentlich für den Frieden in dieser Welt beten, auch wenn allgemeine Gedenktage abgeschafft werden. Anlass dazu haben wir genug. Die Welt braucht Menschen, die für den Frieden beten.

Amen.



Domprobst Gert-Axel Reuß
Ratzeburg
E-Mail: gertaxel.reuss@ratzeburgerdom.de

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