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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Advent, 30.11.2014

Gedeutete Gegenwart
Predigt zu Matthäus 21:1-9, verfasst von Stefan Knobloch

Es mag überraschen, dass uns die Agenda der Leseordnung zum 1. Advent einen Bibeltext präsentiert, den wir eher zum Palsonntag erwarten würden.  Dort hat er seinen Platz. Aber eben nicht nur dort. Man kann Texte aus verschiedenen Perspektiven lesen, so wie wir auch Bilder, Fotos, je nach Situation, ganz unterschiedlich wahrnehmen. Zum Beispiel frisch entwickelte Fotos eines Urlaubs, der gerade erst war. Wir lachen darüber und freuen uns. Ganz anders, wenn wir Jahre später zufällig auf dieselben Bilder stoßen und darauf Familienangehörige oder Freunde sehen, die längst nicht mehr leben.

Diese analoge „andere" Situation scheint auch heute gegeben, wenn wir am 1. Advent mit einem Text befasst werden, den wir eher der Passionszeit und dem Palmsonntag als dem Advent zuordnen.

Es geht um den so genannten Einzug Jesu in Jerusalem. Aber das ist eben gewissermaßen nur die „Benutzeroberfläche", hinter der noch andere Botschaften und Aussagen stehen. Auf die werden wir gelenkt durch die „Verlagerung" des Psalmsonntagstextes auf den 1. Advent. Diese „Verlagerung" dürfte freilich für manche oder gar für viele von uns in ihrer Begründung nicht gleich deutlich werden. Denn, was kommt denn in uns zum Schwingen - wenn überhaupt noch etwas zum Schwingen kommt! -, wenn wir merken: Ach, wir sind ja schon wieder in die Adventszeit hereingestolpert! In eine Zeit, die offenbar mit der Vorbereitung der Weihnachtstage erfüllt bis randvoll ausgefüllt ist. Mit Vorbereitungen des Heiligen Abend, wo man diesmal feiern werde, nachdem die Tochter, der Sohn ihr eigene Familie gegründet haben. Was man wieder schenken werde, nachdem das mit den Krawatten und den Socken im letzten Jahr offensichtlich nicht ganz das Richtige war. Und was an den Feiertagen auf den Tisch komme. Eine Gans? Ein Reh- oder Hirschbraten?

Der Advent legt uns jedes Jahr diese alten Fragen auf den Tisch. Natürlich kommen auch andere „Töne" auf. Das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach zum Beispiel, der Besuch der Weihnachts- und Christkindlmärkte, bei dem man das Auto besser zu Hause lässt. Denn dort lockt der Punsch, der einem freilich nicht selten, bei adventlich-weihnachtlichen Klängen, im Gedränge der Leute über den Mantel geschüttet wird.

Einzug Jesu in Jerusalem? Das passt da doch gar nicht. Nicht einmal in diesen Gottesdienst am 1. Advent. Oder doch? Die Sache ist in mehrfacher Hinsicht schwierig, aber wir sollten ihr uns stellen.

Der Evangelientext setzt bei uns wohl zu viel voraus. Wir können und müssen nicht alles heben. Einiges daraus aber führt uns vielleicht doch auf einen Weg, auf dem uns Fragen, ja Angebote an unser Leben entgegenkommen. Die Erzählung, die uns auf der „Benutzeroberfläche" vertraut ist, wurzelt tief in Erzähl- und Traditionssträngen des Alten Testaments, die uns eher unbekannt sein dürften. Von ihnen her hat das Mt-Evangelium den Einzug Jesu in Jerusalem nachgezeichnet.

Da ist ein Esel als Einzugsgefährt. Im Alten Testament ist es der Esel bzw. das Maultier, auf dem ein neuer König, in der Nachfolge Davids, Einzug hält.  Das beginnt mit Salomo, dem Sohn Davids (1 Kön 1,28-37), und zieht sich mehr oder weniger durch die alttestamentliche Königsgeschichte durch. Bei König Jehu (2 Kön 9,13) kommt das Element hinzu, dass die Leute vor ihm die Kleider ausbreiten, über die der König schreitet. Mit all dem verband sich mit der Zeit die Vorstellung, dass der erwartete Messias aus dem Geschlecht Davids kommen werde, und zwar nicht als Kriegstreiber, sondern als Friedenskönig. So lesen wir beim Propheten Sacharja: „Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem. Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist demütig und reitet auf einem Esel" (Sach 9,9). Eben diese Sätze beerbt das Mt- Evangelium und reichert sie an mit den Sätzen aus Psalm 118: „Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn [...] Mit Zweigen in den Händen schließt euch zusammen zum Reigen" (Ps 118, 26.27).

Das alles dient dem Mt-Evangelium als Folie. Wie aber soll sich das mit unserem Leben kreuzen? Wie soll das für unser Leben etwas abwerfen? Ich möchte nur einen Punkt herausgreifen, an dem sich viel entscheidet. Ein Punkt, der uns das Wesen des Advents neu und klarer erschließen kann.

Bezogen auf Jesus wurden die Worte gerufen, gesungen: „Hosanna dem Sohn Davids. Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe" (Mt 21,9). Auf welches Kommen bezieht sich das? Es bezieht sich nicht nur auf diese Einzugsszene. Es bezieht sich auf das Leben Jesu insgesamt. Aber wurde dieses Kommen nicht durch seinen Tod und seine Auferstehung abgebrochen, unterbrochen? So dass es heute für uns nur darum geht, auf sein Kommen zu warten? Denn mit der Auferstehung, an die zu glauben heute vielen schwerfällt - und das hat verständliche Gründe!-, scheint sich der Auferstandene der Welt entzogen zu haben. Entzogen auf den Thron der Herrlichkeit zur Rechten des Vaters. Haben wir seitdem zu warten, in einem öden Warteraum gewissermaßen? Und das schon zweitausend Jahre lang? Will uns also der jährlich liturgisch gefeierte Advent lediglich mit Durchhalteappellen bei der Stange halten? Begegnet das nicht dem weit verbreiteten Bauchgefühl - ohnehin nur noch bei denen, die (noch) glauben -, dass wir seit dem Tod und seit der Auferstehung Jesu in einer dauerhaften Leere leben, die schon zweitausend Jahre anhält und die sich allenfalls später- ad calendas graecas - in der Wiederkunft des Herrn zur Fülle wandelt?

Wenn wir so dächten und so empfinden würden, definierten wir unsere Zeit, unsere Wirklichkeit, unser Leben, ja womöglich unseren Glauben, als die Leere bloßer Hoffnung auf etwas ganz und gar Ausständiges. Wie sollten wir da noch jubeln können?

Der Advent - und nicht bloß der Advent, sondern unser Glaube insgesamt -will uns da die Augen für die reale Gegenwart, für die reale Präsenz des Auferstandenen öffnen. Er ist als Auferstandener präsent, er, der sich in seiner Menschwerdung mit dem menschlichen Leben und damit mit der gesamten Schöpfung ein für alle Mal verbunden hat. In einer Verlässlichkeit, die er nie aufgekündigt hat. Als Auferstandener ist er präsent. Er trägt und stützt unser Leben, ja, er ist die Grundlage unseres Lebens. Daraus zu leben, dazu ermutigt uns der Glaube. Wir glauben nicht an eine Chimäre, wir sind nicht das Opfer unserer Sehnsüchte und Phantasien, mit denen wir nur in eine radikale Leere greifen.

Nein, wir glauben, und sind im Advent dazu eingeladen, an die reale Präsenz des Auferstandenen mitten in unserem Leben zu glauben. Der Advent lädt uns ein, nach ihm, nach seiner Präsenz in den Erfahrungen unseres Lebens tasten und suchen. Nach ihm, der für uns „ die Fülle des Lebens" ist.

Öffnen wir uns dieser Lebenssicht. Einer Sicht, einer Suche, mit der wir nie ans Ende kommen, die immer menschlich-fragmentarisch bleiben wird. Eine Lebenssicht und eine Lebenspraxis, die ihre Kraft aus der Präsenz des Auferstandenen schöpft. Gehen wir im Advent vor ihm vor Anker.



Prof. em. Dr. Stefan Knobloch
Passau
E-Mail: dr.stefan.knobloch@t-online.de

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