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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Advent, 30.11.2014

Das Gesicht der Hoffnung
Predigt zu Matthäus 21:1-9, verfasst von Sibylle Rolf

 

Liebe Gemeinde,

Der 6jährige Christoph hat seinen Adventskalender an die Wand in seinem Zimmer gehängt. Jeden Morgen, bevor er zur Schule geht, wird Christoph ein Türchen öffnen und den süßen Inhalt genießen. Er freut sich auf Weihnachten, den Lichterbaum, das Kind in der Krippe - und natürlich die Geschenke.

Seine Mutter Monika wird heute Mittag den Adventskranz auf den Tisch stellen. Miteinander werden sie die erste Kerze anzünden, und jede neue Kerze wird ihnen Sonntag für Sonntag zeigen, wie lange sie noch warten müssen. In Monikas Warten auf Weihnachten mischt sich eine Spannung. Gar nicht so einfach wird das dieses Jahr werden, Weihnachten unter einem anderen Vorzeichen. Monikas Schwägerin ist im Sommer mit einer Frau zusammen gezogen. Die Schwiegereltern sind so entsetzt, dass sie den Kontakt verweigern. Warten wir auf Frieden oder auf den großen Knall?, fragt Monika sich.

Christophs Lehrerin wartet auch. Wie in jedem Jahr wartet sie auf Ruhe. In der Adventszeit fühlt sie sich so gehetzt und unruhig, dass sie sich nach Stille sehnt. Für dieses Jahr hat sie sich vorgenommen, dass sie mit ihren Erstklässlern jeden Morgen ein paar Minuten Stille genießt. Einfach schweigen und hören. Das wird allen gut tun.

Auch anderswo warten Menschen auf Weihnachten. In einem Dorf in der Nähe von Donezk lebt Irina mit ihrem Sohn. Sie warten darauf, dass endlich Frieden einkehrt und sie wieder ohne Angst auf die Straße gehen können. Sie würden Weihnachten gerne mit ihrer Familie feiern, aber vielleicht können sie gar nicht raus. Ob sie ihre Eltern und Verwandten in diesem Jahr sehen werden, steht in den Sternen. Dabei täte es so gut, einfach mal wieder sorglos zu sein!

Und in Gaza wartet Manuel darauf, dass das Pfeifen der Luftgeschosse aufhört. Dass endlich Ruhe einkehrt. Neulich ist in Jerusalem wieder ein Anschlag verübt worden. Jetzt ist es ganz ungewiss, ob Manuel mit seiner Familie an Weihnachten in die Kirche gehen und die Heilige Nacht feiern kann. Wann haben wir endlich unsere Ruhe? Manuel hat sich das schon oft gefragt. Er kann die Sirenen nicht mehr hören.

Mit dem Beginn der Adventszeit bereiten Menschen sich auf Weihnachten vor, auf das Fest der Liebe, an dem häufig die Konflikte im kleinen oder im großen erst so richtig zutage treten. Wir warten auf Ruhe in einer Zeit, in der wir manchmal noch mehr unter Druck stehen als zu anderen Zeiten im Jahr. In einer Zeit, die manchmal noch lauter ist als andere Jahreszeiten. Im Predigttext für den ersten Advent werden Warten und Sehnsucht aufgenommen. Hört Worte aus dem Matthäus-Evangelium.


Matthäus 21,1-9

1 Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus 2 und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! 3 Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen. 4 Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9): 5 »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.« 6 Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, 7 und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und er setzte sich darauf. 8 Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. 9 Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!

Von ganz unterschiedlichen Wartenden wird berichtet. Wie am Palmsonntag stehen die Jünger wartend vor den Toren Jerusalems, im Schutz des ruhigen Vorortes Betfage. Hinter den Mauern spielt sich der Trubel der Stadt ab mit ihren Marktschreiern und Händlern, mit ihren Machtspielen und Ränken. Hier bereitet Jesus seinen Weg vor. Im Schatten der Stadtmauern ist die Spannung zu greifen. Ist er der, auf den wir warten? Und Matthäus liefert wie eine Überschrift die Verheißung des Propheten Sacharja: Freue dich, du Tochter Zion, dein König kommt zu dir: der lang erwartete Messias. Aus dem Kreis der wartenden Jünger werden zwei ausgewählt und mit einer praktischen Aufgabe betraut. Das Warten verkürzt sich, wenn es etwas zu tun gibt.

Ich stelle mir vor, dass die beiden froh über ihren Auftrag sind. Auf der Suche nach den Eseln auf dem Weg in die Dorfmitte wird ihnen vielleicht klar, dass das, worauf sie warten, groß ist und ihr Leben verändern wird. Und sie sind einmal mehr froh, etwas zu tun zu haben. Das ist wohl bei allen Einzügen so. Immer wenn etwas neues beginnt, ist es gut, eine Aufgabe zu haben. Den Brautstrauß und den Arm des Bräutigams halten zu können und Schritt vor Schritt zu setzen. Oder die Falten des Taufkleids noch einmal richtig zu legen. Oder auch Schritt vor Schritt zu setzen, dem Sarg hinterher.

Manchmal sind die Dinge, die wir tun können, einfacher, als Worte zu finden. Vor allen bei den großen Übergängen des Lebens. Schritt vor Schritt zu setzen, weil das, was geschieht, für Worte zu groß ist. Wenn wir Altes loslassen und uns auf Neues einlassen müssen. Und nicht nur beim Einzug nach Jerusalem oder in die Kirche ist es so. Auch bei anderen Wegen, die das ganze Leben verändern. Auf dem Weg zu einem wichtigen Gespräch, durch die Tür des Gerichtssaals oder auf dem Weg ins Krankenhaus zu einer Behandlung oder einer Diagnose. Schritt für Schritt, und wir sind froh, dass wir in Bewegung sind. Gut, wenn auch noch jemand dabei ist.

Mit der Eselin und ihrem Fohlen kehren die beiden zu den übrigen Jüngern zurück. Anders als bei Johannes im Evangelium von Palmsonntag kommt bei Matthäus der Jubel erst später. Am Anfang stehen das Warten und der Weg. Und nun wird gemeinsam Schritt vor Schritt unter die Überschrift gesetzt: Siehe, dein König kommt zu dir. Die Hoffnung hat ein Gesicht bekommen: ein Mensch auf einem Reittier. Und noch einmal die Frage: ist er wirklich der, auf den wir warten?

Die Antwort gibt es nicht ohne dass wir uns in die Geschichte verwickeln lassen. Matthäus wandelt Sacharjas Prophezeiung leicht ab. Als einziger Evangelist berichtet er von zwei Tieren: einer Eselin und ihrem Fohlen. Aus dem Eselsfüllen des Propheten und der anderen Evangelien werden bei Matthäus zwei Tiere. Auf beiden gleichzeitig zu reiten, ist schwierig. Stellt euch mal vor, wie das gehen soll! Vielleicht steckt eine Absicht dahinter: Zwei Tiere ziehen mit einem Mensch in die Stadt ein - eines der beiden wird zum Reittier, das andere bleibt frei. Wer wird darauf Platz nehmen?

Mit Jesus hat die Hoffnung der Menschen ein Gesicht bekommen. Aber nicht das Gesicht des einsamen Cowboys, der sein Pferd vor dem Saloon abstellt und mit jeder Hand zur Einschüchterung eine Pistole zieht. Der niemanden neben sich duldet. Dieser König lässt neben sich einen Platz frei. Er blickt mich an und fragt: Bist du mutig, mit mir zu gehen - auch wenn du ahnst, wo dieser Weg hinführen wird? Bist du bereit, dich in Bewegung bringen zu lassen? Mit mir Schritt vor Schritt zu setzen?

Wir alle wissen, wie die Geschichte des Einzugs endet. Der lang erwartete König ist auf dem Weg an sein eigenes Kreuz. Hältst du das aus?, fragt er, als er langsam an uns vorbei reitet. Von den Jüngern hören wir nichts mehr, sie müssen wohl mitgelaufen sein. Und jetzt kommt auch die Menge derer ins Spiel, die den Wegrand säumen. Auch sie sind in Bewegung. Matthäus berichtet von vielen, die ihm nachfolgen und ihm vorangehen. Die am Straßerand stehen, ihre Arme und Kleider ausbreiten und Hosianna rufen. Und wieder lässt er Raum für seine Leser und Hörerinnen und fragt: Bist du bereit, dich in diese Menge einzureihen? Mitzugehen, ihm nachzufolgen?

Und was geschieht mir, wenn ich die Wartestellung aufgebe? Wenn ich nicht nur zusehe, sondern Schritt für Schritt mit ihm gehe, neben ihm, vor ihm oder hinter ihm?, mag sich mancher fragen. Es lohnt sich, noch einmal hinzuschauen. Nicht nur bei den beiden Eseln geht Matthäus eigene Wege. Der Prophet Sacharja gibt dem Friedenskönig drei Eigenschaften: er ist gerecht, ein Helfer, und er ist demütig. Matthäus hält an einer Eigenschaft fest: der König ist (griechisch) praus - was soviel bedeutet wie sanft, freundlich, mild oder demütig.

Eine andere Stelle aus seinem Evangelium klingt an: ich bin sanftmütig und von Herzen demütig (Mt 11,29), sagt Jesus. Darum kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. - Der sanftmütige König, der dich mitnehmen will auf seinen Weg, kommt gewaltlos. Er eröffnet eine Zukunft, in der die Sanftmütigen das Erdreich besitzen werden, wie Matthäus in der Bergpredigt schreibt (Mt 5,5). In seiner Sanftmut und Demut verheißt er dir Ruhe für deine Seele (Mt 11,29), weil du bei ihm abladen kannst, was dich bedrückt. Weil du bei ihm aufatmen und zur Ruhe kommen kannst. Lass dich von seiner Sanftmut erfüllen! Nimm Platz neben ihm und probiere es aus, wie es sich lebt: freundlich, gewaltlos, sanftmütig und demütig. Nicht auf den eigenen Willen zu bestehen. Mit anderen und mit sich selbst liebevoll und behutsam umzugehen. Aus der Ruhe zu schöpfen. Um die eigene Verletzlichkeit und Bedürftigkeit zu wissen. Das Geheimnis zu ahnen: das wichtigste im Leben kannst du nicht schaffen. Du bekommst es geschenkt. Und wenn du es probierst, führt dein Warten ins Leben, Schritt vor Schritt.. Dann bekommt deine Hoffnung ein Gesicht.

Die Sanftmut und Demut Jesu hat mächtige Gegenspieler. Die Angst und den Hochmut. Die Feindschaft und die Gewalt. Bis heute rufen Menschen nicht nur Hosianna, sondern auch Kreuzige ihn. Bis heute fällt manche Nacht auf Menschenleid und Menschenschuld. Irina in Donezk und Manuel in Gaza warten auf den Frieden. Die Angst vor dem anderen ist manchmal zu groß, als dass Menschen es wagten, barmherzig miteinander umzugehen.

Der 6jährige Christoph öffnet jeden Tag eine Tür seines Adventskalenders. Mit seiner kindlichen Vernunft hat er etwas vom Warten verstanden: er freut sich ganz selbstvergessen über jedes Türchen. Mit der Schokolade ist er freigiebig: was er geschenkt bekommt, teilt er. Seine Mutter Monika zündet die Kerzen am Adventskranz an. Mit jeder Kerze spürt sie, wie sie zur Ruhe kommt. Jeden Tag von neuem. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm an Weihnachten, denkt sie. Vielleicht müssen wir gar keine Angst voreinander haben und vor dem, was uns fremd ist. Christophs Lehrerin freut sich an den paar Minuten Stille, die sie mit den Kindern Tag für Tag genießt. Das kann einen ganzen Tag lang anhalten. Ruhe für die Seele. Und an manchen Tagen gelingt es ihr, sich über ihre Schüler nicht zu ärgern, sondern mit ihnen zu lachen.

Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. (Mt 11,29). Die Worte Jesu klingen in mir nach. Sanftmütig ist er, auf den wir zugehen und der zu uns gekommen ist. Ich nehme neben ihm Platz und mache mich auf den Weg, in dieser Adventszeit, Schritt für Schritt. Amen.

 



Pfrin. PD Dr. Sibylle Rolf
68723 Oftersheim,
E-Mail: sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

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