Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Advent, 07.12.2014

Predigt zu Lukas 21:25-33, verfasst von Isabelle Schär



 Liebe Gemeinde!

Heute ist der 2. Advent, an dem wir die zweite Kerze des
Adventskranzes anzünden. Während der Adventszeit bereiten wir uns auf das
Geburtstagsfest von Jesus Christus vor. Es ist eine Zeit der Besinnung. Und
gerade am 2. Advent erinnern wir uns, wie lebensnotwendig es für uns Menschen
ist, dass Gott uns durch die Geburt seines Sohnes nahe gekommen ist und immer
wieder nahe kommt. Wir erinnern uns, wie wenig wir uns selbst erlösen können,
sondern auf die von Gott kommende Erlösung angewiesen sind. Wie sehr wir
verloren wären in der Welt, würden uns die Kerzen des Adventskranzes nicht wie
ein Licht am Horizont die Wende anzeigen, die Geburt unseres Erlösers Jesus
Christus. Hier bei uns in Europa ist diese Wende ja auch sinnlich erfahrbar,
wenn jetzt die Tage immer kürzer und dunkler, nach Weihnachten aber langsam
wieder länger und heller werden.

Im heutigen Lesungstext ist es Jesus selbst, der zu
seinen Jüngerinnen und Jüngern und dem um sie herum stehenden Volk spricht.
Seine Geburt liegt über 30 Jahre zurück. Vermutlich ahnt Jesus, dass er bald
sterben wird. Schon im nächsten Kapitel berichtet der Evangelist Lukas von Jesu
Verhaftung. In dieser Situation zeichnet Jesus seinen Zuhörern und uns in
apokalyptischen Bildern eine Welt vor die Augen, die aus den Fugen geraten
scheint. Die Gestirne zeigen es für alle sichtbar an, und das Meer - es ist für
die Menschen der Antike das Sinnbild für das durch Gott gebändigte Chaos -, das
Meer droht aus dem ihm zugewiesenen Platz auszubrechen und die Welt ins Chaos
zu stürzen. Kein Wunder, dass die Angst vor dem, was jetzt noch kommt, den
Menschen den Atem verschlägt, so dass sie vor Angst fast sterben.

Aber im nächsten Moment wendet Jesus das Bild, wenn er
sagt: Wenn ihr das alles seht, wenn ihr seht, dass die altbekannte Welt und
ihre Ordnung beginnen aus den Fugen zu geraten, dann wird der Menschensohn für
alle sichtbar kommen. Mit dem Kommen des Menschensohnes verbinden wir heute die
Wiederkunft von Jesus Christus und die Vollendung des von ihm verkündeten
Gottesreichs. Die Zuhörer und Zuhörerinnen von Jesus verbanden mit der
Vorstellung des kommenden Menschensohns ebenfalls die Hoffnung auf eine
weltumspannende Wende: Sie würde für sie ein besseres Leben bringen, ein Leben
ohne römische Unterdrückung und ohne materielle Not. Dem entsprechend sagt
Jesus zu ihnen: Wenn ihr das seht, dann richtet euch auf, denn eure Erlösung
ist nahe!

Jesus selbst also ist von seiner Vision, in der selbst
die Ordnung von Himmel und Erde erschüttert wird, nicht beunruhigt. Der
menschlichen Sichtweise, in der die Zerstörung altbekannter Ordnungen vor allem
Angst auslöst, setzt er die Sichtweise des Glaubens, des Vertrauens und der
Hoffnung entgegen. In einer aus den Fugen geratene Welt sieht er den Beginn von
Neuem und einer besseren Zukunft. Denn mit der alten Weltordnung lösen sich
auch die erstarrten, zum Teil einengenden, bedrückenden und zerstörerischen
Machtstrukturen auf. Im Aufbrechen und Auflösen dieser Strukturen sieht Jesus
das Nahen der Erlösung, das Zeichen für die bevorstehende Vollendung des
Reiches Gottes, für Befreiung von Armut, Rechtlosigkeit und Unfreiheit.
„Richtet euch auf und hebt eure Köpfe!"

Und wie reagieren wir heute auf Veränderungen der
gewohnten Ordnung? Kommt es Ihnen nicht auch manchmal so vor, als sei gerade in
unserer Zeit die Welt aus den Fugen geraten? Nachrichten über Kriege, Seuchen,
Hunger, Fundamentalismus und Flüchtlingsströme nähren dieses Gefühl und machen
uns Angst. Wir scheinen in einer dunklen und düsteren Zeit zu leben, und das
nicht nur, weil jetzt, während des Winters, die Tage kurz und die Nächte lang
sind. Fühlen Sie sie manchmal auch, diese lähmende Angst, ausgelöst durch die
Frage „Wohin soll das noch führen? Was wird aus mir werden? Werde ich, werden
meine Kinder und Enkelkinder noch einen Platz in der Welt von morgen haben?"
Wir kennen sie nur zu gut, diese Angst, ausgelöst durch gesellschaftliche
Umwälzungen und das Gefühl, dass die ganze Welt aus den Fugen gerät.

In diese Situationen hinein spricht Jesus auch zu uns:
Fürchte dich nicht, sondern richte dich auf, denn die erstarrten,
lebensfeindlichen Gesellschaftsstrukturen sind am Aufbrechen und deine Erlösung
ist nahe! - Aber halt, wird das jetzt nicht zynisch? Gerade auch den Menschen
gegenüber, die in diesem Moment verfolgt, gefoltert, missbraucht und
ausgebeutet werden? Bedeutet das nicht, dass all dieses Leid mit einem
zweifelhaften Sinn versehen wird, bei dem es dann heißt: „All diese schlimmen
Dinge sind notwendig, damit das Reich Gottes anbrechen kann, da ist nichts zu
machen. Warten wir mit erhobenen Köpfen ab, bis es vorüber ist!"?

Das ist in jedem Fall eine unzulässige Umkehrung dessen,
was Jesus bezweckte. Es würde bedeuten, dass das Leid in der Welt nichts
Empörendes mehr ist. Und der Beginn des Reiches Gottes wäre in diesem Fall in
weite Ferne gerückt. Nein, Jesus spricht hier zu Menschen, die aufgrund der
herrschenden Machtstrukturen ihre Handlungsfähigkeit verloren haben. Menschen,
die sich, vor Angst erstarrt, nur noch ducken können, spricht er Hoffnung zu.
Er will ihnen Mut machen, damit sie sich aufrichten und sich, seinem Beispiel
folgend, für eine gerechte Gesellschaftsordnung einsetzen können. Eine
Gesellschaftsordnung, in der alle ein gutes Leben führen können. Eine
Gesellschaft aus gleichberechtigten Menschen, die umeinander Sorge tragen,
weltweit.

Bin ich jetzt selbst in eine Vision geraten? Ja, es ist
die Vision einer restlos befriedeten Welt, in der es keine Ungerechtigkeit mehr
gibt. Es ist die Vision des zukünftigen Reiches Gottes. Dabei weiß ich
natürlich, dass wir das Reich Gottes hier auf Erden nicht verwirklichen können.
Das ist und bleibt der Zukunft vorbehalten - dann, wenn der Menschensohn Jesus
Christus wiederkommt. Aber das heißt nicht, dass diese Vision vom Reich Gottes
heute, hier und jetzt, keine Relevanz hätte. Sobald wir uns auf Geheiß von
Jesus aufrichten und unsere Köpfe erheben, tritt diese Vision in unser
Blickfeld. Und sobald wir uns und unser Handeln an ihr ausrichten, kommt Gott
uns nahe, wird das Reich Gottes schon oder wenigstens ein Stück weit Wirklichkeit.

Während also die Adventskerzen, von denen wir heute die
zweite anzünden, in das Dunkel unserer Verlorenheit leuchten und uns an das
nahe Geburtsfest unseres Erlösers Jesus Christus erinnern, spricht Jesus im
heutigen Predigttext in unsere Angst vor Veränderungen hinein: „Richte dich auf
und hebe deinen Kopf, deine Erlösung ist nahe!" Der beschriebenen
apokalyptischen Zeit und der Adventszeit ist mindestens Eines gemeinsam: Beide
sind sie eine Zeit vor einem Neuanfang. Mit Jesu Geburt, die übrigens auch mit
einem Zeichen in Form eines Sternes einherging, hat etwas Neues begonnen, etwas
Lebensförderliches, ganz und gar. Im Advent und zu Weihnachten erinnern wir uns
an diesen von Gott geschenkten Anfang unserer Erlösung.

Mit dem Predigttext von heute vergegenwärtigen wir uns
die Hoffnung auf Jesu Wiederkunft und die mit ihr zu erwartende Vollendung
unserer Erlösung. Ebenso aber vergegenwärtigen wir uns auch, dass Veränderung
und Umwälzung sie begleitet. Und immer wenn diese Veränderungen und Umwälzungen
uns ängstigen, dürfen wir uns an Jesu Worte erinnern: „Richte dich auf und
erhebe deinen Kopf, denn deine Erlösung ist nahe!" Amen.

 



Stud.theol. Isabelle Schär
Zürich
E-Mail: isaschaer@hotmail.com

Bemerkung:
Diese Predigt zu Lukas 21,25-33 wurde in einem homiletischen Seminar in Zürich erarbeitet mit dem Ziel, sie hier im Internet zu veröffentlichen.


(zurück zum Seitenanfang)