Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Advent, 14.12.2014

Geht hin und sagt, was ihr hört und seht
Predigt zu Matthäus 11:2-6, verfasst von Manfred Gerke

Liebe Gemeinde!

Johannes liegt auf einem Bündel Stroh. Es ist kalt im Gefängnis. Von den Steinmauern tropft Wasser. Manchmal huscht eine Ratte über den feuchten Boden. Nur durch ein kleines Loch oben an der Wand fällt ein wenig Licht in das dunkle Verlies.

Einmal im Monat dürfen seine Freunde und Schüler kommen und durch dieses Loch mit ihrem Leh­rer und Meister reden. Wenn sie traurig sind, macht er ihnen Mut: „Der Messias kommt!" sagt er. „In kurzer Zeit rich­tet Gott sein Reich auf. Dann kommt das Gericht. Der Fürst Herodes und alle Frevler wer­den gestraft. Doch die Glaubenden wird der Messias aus dem Gefängnis befreien, mich und alle anderen unschuldig Gefangenen."

Aber je länger die Gefangenschaft dauert, desto mut­loser wird der Täufer, desto größer seine Zweifel und Fragen. Kein Richter erscheint, kein Messias kommt. Kein Gottesreich bricht an. Und Jesus?

Johannes schaut zurück. Er sieht sie vor sich, die vielen Menschen. Von überall her strömten sie herbei. Und sie nahmen seine Worte auf, harte Worte, Worte von Gericht und Umkehr. „Tut Buße, denn das Himmel­reich ist nahe herbeigekommen!" Und die Menschen wa­ren betroffen, sahen ihre Schuld, wurden ange­steckt von seiner großen Erwartung und ließen sich taufen.                                                                         

Und dann kam jener Tag, an dem der Mann aus Nazareth ihm entgegentrat. Er wird es nie vergessen. Wie die anderen stand er da, hörte, stieg ins Wasser und ließ sich taufen. Und er, Johannes, spürte: Hier ist er, der kommen soll, der verheißene Messias, der die Worfschaufel in der Hand hat, die Tenne fegen, Spreu und Weizen voneinander trennen wird.

Nein, diesen Tag vergisst er nicht. Doch was ist pas­siert? Was hat sich geändert? Er, Johannes, hat alles auf eine Karte gesetzt. Er ist buchstäblich zum Ra­dikalen geworden, verzichtet auf alle bürgerlichen Sicherheiten und lebt wie ein Außenseiter.

Seine ganze Existenz hat er drangegeben für das, was er als seine Lebensaufgabe angesehen hat: Hinweis zu sein, eine Art Ansager, oder auch, wie es später ein Maler dargestellt hat, ein übergroßer Zeigefinger, dessen einzige Aufgabe es ist, auf einen ande­ren hinzudeuten, auf jenen Größeren, auf den er und seine Landsleute seit langem sehnlichst warteten und der nun endlich kommen sollte.

Doch jetzt, jetzt sitzt er im Gefängnis, seine Chan­cen stehen schlecht. Seine Widersacher haben alle Trümpfe in der Hand. Ja, er hat kein Blatt vor den Mund genommen, auch vor den Großen nicht. In aller Öffentlichkeit hat er den Ehebruch des Fürsten Herodes angeprangert. Nun muss er mit dem Schlimmsten rechnen.

Doch fast noch bedrückender ist für ihn: Er ist sich seiner Sache nicht mehr sicher. Hat er sich in Jesus getäuscht? Ist er der verheißene Messias? Warum sitze ich dann noch im Gefängnis? Warum hat Herodes noch das Sagen? Und warum herrschen noch die Römer im Land? Warum?

Er ist ins Grübeln gekommen, Zweifel quälen ihn. Sein ganzes Leben ist in Frage gestellt. War alles umsonst? Habe ich auf die falsche Karte gesetzt? - Hören wir den für heute vorgesehenen Predigttext Matthäus 11,2-6:

Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.

„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?" Jesus ist so ganz anders als er sich den Messias vorgestellt hat. Er begreift nicht, dass er immer noch im Gefängnis sitzt, ruhiggestellt, wie ein Vogel im Käfig.

Er versteht auch nicht, dass Jesus in Galiläa bleibt, in der Provinz, im Verborgenen, sich nur den Schwachen zuwendet, den kleinen Leuten. Und was sind schon ein paar Heilungen angesichts der großen Not - nicht nur hier, sondern überall?

Und hat er, Johannes, nicht auch das andere angekündigt: von der Worfschaufel gesprochen, vom Feuer, vom Tag des Gerichts? Wo bleibt die Vergeltung? Wo bleibt die Gerechtigkeit und wo bleibt der Frieden auf dieser Erde?

Wer so im Gefängnis sitzt, für den werden die Fragen, auf die es letzten Endes ankommt, klar und einfach, aber auch bedrängend und quälend. „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?" Eine ganz klare Ja-Nein-Frage.

Da stehen sie, seine Jünger, die er geschickt hat, und schauen Jesus erwartungsvoll an. Und der sagt weder Ja noch Nein. Es ist, als weiche er einer klaren Antwort auf. Wie schön wäre es doch, wenn er jetzt alles stehen und liegen ließe, mit ihnen zu Johannes im Gefängnis ginge und ihm persönlich durch das Loch zurufen würde: Mach dir keine Sorgen, ich bin's. Ich bin der verheißene Retter der Welt.

Doch hätte das Johannes in seiner Anfechtung wirklich geholfen? Wären damit die Zweifel endgültig vorbei? Glaube kann nicht von außen behauptet und erzwungen werden. Er muss von innen wachsen. Ob Jesus der ist, in dem Gott zu uns kommt, kann nicht durch einen Machtspruch beantwortet werden.

Diese Antwort muss bei Johannes und auch bei uns frei aufsteigen. Den Sinn müssen wir selber finden. Das kann uns niemand abnehmen, auch Jesus nicht. Er kann und will nur eins: Hinleiten zur Antwort, Hilfestellung geben, Mut machen: „Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr seht und hört." Jesus lässt Tatsachen sprechen, die längst gehörte Verheißungen erfüllen.

Im Buch des Propheten Jesaja steht ge­schrieben: Wenn Gott selbst seinem Volke zu Hilfe kommt, „dann werden die Augen der Blinden aufgeschlossen und die Ohren der Tauben geöffnet werden, dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch und die Zunge des Stummen wird jauchzen."

Seht! Hört! Blinde sehen, Lah­me gehen, Taube hören! Mehr noch: Aussätzige, Ausgestoßene aus der menschlichen Gemeinschaft, in die Gräberfelder Verbannte, sie werden rein! Und noch mehr: Tote stehen auf! Und schließlich, mit einem besonderen Ausrufezeichen versehen, den Armen und Elenden wird, wie ebenfalls im Jesajabuch verheißen, die Freudenbotschaft verkündigt, die gebrochene Herzen heilt und tief Gebundenen Lösung bringt!

Wenn den Ärmsten und Elendsten, den Blinden und Lahmen, den Tauben und Aussätzigen bis in ihre leiblichen Nöte hinein geholfen und die Hoffnungslosigkeit ihrer Not durchstoßen wird, dann steckt Gott selbst in diesen Geschehnissen drin: der nahe Gott, der im Kommen begriffene Gott, der mit seinem Arm konkret in die Menschennot hineingreifende Gott.

„...und Tote stehen auf..." Deutlicher kann nicht auf den Punkt gebracht werden, dass Gott kommt! Dort, wo Jesus wirkt, lebt, den Menschen begegnet, geschehen solche Endzeichen der Nähe der Herrschaft Gottes, die bis in die Krankheitsnot und Todesnot eindringt.

Ja, damals, mag vielleicht mancher unter uns denken. Doch heute? Was sehen und hören wir? Könnten wir unseren fragenden und suchenden Zeitgenossen davon erzählen? Könnten wir Menschen in Verzweiflung und Anfechtung auch von solchen Zeichen der Nähe und Herrschaft Gottes berichten?

Die Zeitung tut's. In der vergangenen Woche berichtete sie vom 15jährigen Raphael Müller: Die einzige Verbindung zu seiner Um­welt liegt auf dem Tisch vor ihm. Ohne den Tablet-Computer, in den Raphael Müller seine Gedanken eintippt, ver­schwände er wieder hinter der Nebelwand, die ihn sie­ben Jahre lang umgab. Sie­ben Jahre, in denen der hoch­begabte 15-Jährige aus dem schwäbischen Aichach keine Möglichkeit hatte, mit seinen Mitmenschen zu kommuni­zieren. Oder die vielen kreati­ven Ideen in seinem Kopf auszudrücken.

Eigentlich war Raphaels Schicksal schon vor seiner Geburt besiegelt. Wegen ei­nes vorgeburtlichen Schlaganfalls ist er Autist, Epilepti­ker und lebenslang auf einen Rollstuhl angewiesen. Er kann weder sprechen noch gestikulieren. Hoffnung, dass Raphael jemals mit anderen Menschen kommunizieren würde, gab es kaum.

Lange wusste niemand, dass er bereits im Vorschulal­ter lesen und rechnen konn­te. Erst mit sieben Jahren fand er mit dem sogenannten gestützten Schreiben eine Möglichkeit, sich mitzutei­len. Dabei hilft ihm eine zweite Person, die Tasten zu bedienen, sodass er schreiben kann. Inzwischen geht Raphael aufs Gymnasium und hat ein Buch mit seiner bewegenden Geschichte verfasst.

Daneben besucht er regelmäßig Veranstaltungen an der Augsburger Uni und tauscht sich mit Dozenten und Studenten über das Thema Inklusion aus. „Ich will nicht in einem Getto leben", betont er. In Deutschland werde aber genau das praktiziert. Alte und Behinderte würden ausgesondert. Das hat er auch in einem Brief an Angela Merkel geschrieben.

Für Raphael ist der Glauben eine wichtige Stütze. Vor allem an schlechten Tagen, an denen epileptische Anfäl­le und Schmerzen das ge­stützte Schreiben unmöglich machen. Der Gedan­ke an Gott gebe ihm großen Halt, erklärt er. „Gut, dass man mit Gott auch stumm kommuni­zieren kann."

Und in seinem Lebenslauf steht der Satz: „Noch bin ich ledig, und wenn ich in 50 Jahren über meine Enkel berichten darf, dann bin ich megaglücklich und es steht fest, dass Gott auch heute noch Wunder tut."

Geht und sagt, was ihr gesehen und gehört habt. Eine Kollegin erzählt: „‚Bonjour, Madame', so begrüßt mich Herr Schrö­der zu Beginn des Gottesdienstes im Pflegeheim. Sonst spricht er fast nichts mehr. Die Demenz ist schon fortgeschritten. Von seiner Tochter er­fuhr ich. dass er früher als Kellner gearbeitet hat. Da fand er nicht die Zeit, um in die Kirche zu ge­hen. Jetzt kommt er und ist auch bei der Abend­mahlsfeier dabei. Die Oblaten werden jedem in den Mund gelegt. ‚Christi Leib - für dich gegeben.' Die Orgel spielt leise.

Plötzlich fängt Herr Schröder an laut zu beten: ‚Ich danke dir, Gott, dass ich noch da sein darf. Ich dan­ke dir, dass ich noch lebe.' Seine Worte berühren mich tief. Gottes Geist muss sie ihm in den Mund gelegt haben. Anders kann ich es mir nicht erklä­ren. Einer ist da, der Gott dankt und ihn preist - und dieser eine ist ein Mensch, der zu denen ge­hört, die bei Vielen abgeschrieben sind."

Geht und sagt, was ihr gesehen und gehört habt. Wolfgang Huber, ehemaliger Ratsvorsitzender der EKD berichtet von seinen Erfahrungen in Südafrika: „Einige Tage und Nächte verbrachte ich in Mamelodi, der Township für Schwarze am Rande von Pre­toria.

Ich lernte die dürftigen Wohnheime kennen, in denen die Wanderarbeiter zusammengepfercht werden, jeweils acht in einem Raum. Zur Armut kommt die Entwürdigung. Man hat ein Gefühl, als würde einem der Boden unter den Füßen wegge­zogen, als stürze der Himmel dessen, woran man glaubt, über einem ein.

Und dann: ein Gottesdienst. Mitten in diesen Bauwerken der Unmenschlichkeit feiern wir. Der Rhythmus der Lieder springt von ei­nem zum andern über. Zwei stehen auf, erzählen von der Verwandlung ihres Lebens durch das Wort Jesu: dass einer unsere Ohnmacht auf sich nahm. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte nicht; er redet mit leiser Stimme. Sie gibt Zutrauen zum Wort. Sie gibt uns die Kraft, der Zukunft standzuhalten."

Geht und sagt, was ihr gesehen und gehört habt. Und vielleicht können auch Sie weitererzählen, was Mut macht, aufbaut, Menschen wieder hoffen lässt. Von Erfahrungen, die Türen öffnen. Erfahrungen der heilenden Nähe Gottes, seiner Liebe und Gnade.

Er kommt nicht als göttlicher Gerichtsvollzieher, sondern als Freudenbringer. Und glücklich ist, wer sich nicht an ihm ärgert. Nein, das Feuer des Gerichts brennt noch nicht. Aber die Glut des Erbarmens Gottes ist da. So groß ist Gott, so groß seine Liebe, dass er als hilfloses Kind in diese Welt hineingeboren wird. Und sich jetzt mit seiner Freudenbotschaft den Armen und Elenden zuwendet.

Glücklich ist, wer an ihm, seiner armseligen Gestalt, nicht irre wird. Es ist, als ob Jesus mit diesem letzten Wort den Täufer und auch uns auf den Knien bittet, Gott nicht in den Arm zu fallen, nicht göttlicher sein zu wollen als Gott selbst. Sondern Gottes konkretes Kommen und sein Erbarmen gefallen zu lassen und aus diesem Er­barmen zu leben.

Das Feuer wird kommen zu seiner Zeit. Der Gekreu­zigte wird kommen als der Weltrichter und seine Tenne fegen und die Spreu verbrennen zu seiner Zeit. Jetzt aber ist das gnädige Jahr des Herrn ausgerufen. Gottes Erbarmen ist für alle und darum auch für uns Mensch geworden in dem Einen, der Jesus heißt.

Dietrich Bonhoeffer schrieb am 21. November 1943 aus der Gefängniszelle in Berlin-Tegel an seinen Freund: „So eine Gefängniszelle ist übrigens ein ganz guter Vergleich für die Adventssituation; man wartet, hofft, tut dies und jenes - letzten Endes Nebensächliches - die Tür ist verschlossen und kann nur von außen geöffnet werden."

Die Tür ist noch verschlossen - wie bei Johannes und vielen Menschen. Sie kann nur von außen geöffnet werden. Deshalb geht hin und sagt, was ihr seht und hört. „Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!" Amen.



Pastor der Ev.-ref. Kirchengemeinde Stapelmoor und Präses des Synodalverbands Rheiderland der Ev.-ref. Kirche Manfred Gerke
Weener
E-Mail: Gerke.Manfred@t-online.de

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