Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Advent, 14.12.2014

Predigt zu Matthäus 11:2-6, verfasst von Martin Honecker

Der eine oder die andere kennt vielleicht den Spruch: „Die Hälfte seines Lebens wartet der Mensch vergebens." Denn jeder unter uns kennt die Erfahrung des Wartens. Da sitzt man beim Arzt im Wartezimmer und wartet, bis man dran ist. Und danach sitzt man unter Umständen erneut und wartet auf die Mitteilung des Befundes, auf die Diagnose und die entsprechenden Maßnahmen zur Therapie. Oder man steht auf einem kalten und zugigen Bahnsteig und wartet auf einen verspäteten Zug und ist unruhig, weil man befürchtet, einen Termin zu versäumen oder einen Zuganschluss nicht zu erreichen. Aber da gibt es noch viel schwierigere Situationen des Wartens: Junge Menschen warten auf eine Lehrstelle oder einen Arbeitsplatz. Oder man wartet auf ein Lebenszeichen eines nahe stehenden Menschen, von dem man lange nichts mehr gehört hat. Man kann sich noch viele weitere Situationen des Wartens ausmalen. Es ist dann ein ungeduldiges, ein ängstliches, ein vergebliches Warten. Der Volksmund weiß: Da kannst du warten, bis du schwarz wirst.

Was vom Warten im Kleinen, im alltäglichen Leben gilt, das trifft genauso auch im Großen zu. Da gibt es politische und gesellschaftliche Situationen und Verhältnisse, in denen Menschen auf den starken Mann, die starke Frau warten und hoffen, auf einen Heilsbringer, einen Führer, einen Erlöser. Ich will zur Veranschaulichung nicht näher auf die deutsche Geschichte zurückblicken, auf das Ende der Weimarer Republik und den Anbruch des Dritten Reiches. Es gibt auch Beispiele in der Gegenwart. Beispielsweise im Nahen Osten, in Syrien und im Irak, wenn sich ein Kalif als Verkörperung des Islam an bietet und ausruft und seine Anhänger mit Gewalt und unmenschlicher Grausamkeit diesen Anspruch durchzusetzen suchen. Oder wenn in der Ukraine ein starker Mann, ein Oligarch, als Präsident für Frieden und Wohlstand sorgen soll und der andere starke Mann in Moskau etwas ganz anderes will. Oder erinnern wir uns noch an die riesigen Erwartungen, die in Deutschland vor mehr als fünf Jahren vor der Wahl an den amerikanischen Präsidenten gerichtet wurden und wie enttäuscht man heute ist. Ja, zu allen Zeiten wurde und wird in der Gesellschaft gewartet, manchmal mit großen und teilweise übertriebenen Erwartungen, ein anderes Mal mit starken und angstvollen Befürchtungen und Sorgen. Auf diesem Hintergrund eigener und weit verbreiteter Erwartungen hören wir die Frage unseres Predigttextes: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andren warten?" Johannes der Täufer, der als Vorläufer Jesu bezeichnet wird, stellt diese Frage. Selbst kann er Jesus nicht die Frage stellen. Denn er sitzt im Gefängnis.

Zunächst ist das Verhältnis zwischen Johannes dem Täufer und Jesus in Blick zu nehmen. Beide sind nämlich zu derselben Zeit aufgetreten; beide hatten eine Botschaft zu   verkündigen. Und das Auftreten wie die Botschaft beider steht im Zeichen einer Krise. Wir wissen, dass die Zeit, in der Jesus lebte, eine unruhige und unsichere Zeit war. Die Juden erfuhren die Herrschaft der Römer in Syrien und Israel als Bedrängnis. Es gab Unruhen, eine Bewegung im Untergrund, um die Herrschaft der Römer abzuschütteln. Zugleich verarmten viele Menschen und mussten im Land umherziehen, um Nahrung und Unterkunft zu suchen. Kulturell war es auch eine Zeit des Umbruchs. Die römische und griechische Lebensweise stieß auf die jüdische Frömmigkeit. So bildete sich ein Reformjudentum, das wir beispielsweise als Pharisäer, besonders Fromme, kennen. Oder Mitte des 20. Jahrhunderts  wurden in der Wüste nahe beim Toten Meer die archäologischen Zeugnisse einer Reformsekte entdeckt, die in Qumran lebte und viele Schriften hinterließ. Die Zeit des Täufers und die Zeit Jesu war also auch eine Zeit religiöser Gärung. Hierhinein gehören Botschaft und Auftreten Johannes des Täufers und Jesu. Der Täufer rief die Menschen zur Buße, zur Umkehr. Er kündigte das kommende Gericht an. Und er nahm kein Blatt vor den Mund. Er mahnte und verurteilte jedermann. So predigte er und so ermahnte er den König Herodes, der seinem Bruder Philippus die Frau Herodias ausgespannt hatte. Das war nicht schön, würden wir heute sagen, aber es passiert halt. Herodias, die Frau, war empört und wütend und wollte sich an Johannes deswegen  rächen. Wir kennen den Ausgang der Geschichte: Herodes ließ den Täufer ins Gefängnis werfen. Bei einem Fest versprach Herodes der Salome, der Tochter der Herodias, nach deren Tanz ihr einen Wunsch zu erfüllen. Nach Einflüsterung der Mutter landete - viel gemalt - der Kopf des Täufers auf einem silbernen Tablett. Das war eine Folge der Buß- und Gerichtspredigt des Täufers. Als Johannes Jesus die Frage stellen ließ, saß er im Gefängnis und wusste nicht, was ihm bevorsteht und was er zu erwarten hätte. Er ahnte freilich, dass er seine Verkündigung kaum fortsetzen würde können. Daher schickt er, als er von den Werken Jesu im Gefängnis hört, seine Jünger zu Jesus mit der Frage: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir eines anderen warten?" Auffallend ist, dass der Evangelist den Angeredeten Christus nennt. Christus ist das griechische Wort für das hebräische Wort Messias. Die Juden zur Zeit Jesu warteten auf einen Messias, auf einen Erlöser und Erretter Israels. Das Wort Christus, Messias kommt im Matthäusevangelium ganz selten vor.  Der Täufer fragt also: Bist du der Messias, der erhoffte und erwartete Heilsbringer? So die Frage. Und dann die eine Antwort Jesu. Er antwortet nicht direkt, sondern indirekt. Er sagt nicht: „Ja, ich bin's", ich bin der Messias. Vielmehr sagt er zu den Jüngern, den Anhängern des Täufers: „Geht hin und berichtet Johannes, was ihr seht und hört". Verwiesen wird auf das, was durch Jesu Wirken und Reden geschieht: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf." Jesus erinnert mit seinen Worten an die Hoffnung Israels, dass in der Heilszeit Krankheiten und Leiden beseitigt werden. Nun könnte man dazu kritisch rückfragen: Sind solche Wunder wirklich geschehen? Die Antwort darauf ist, dass Jesus offensichtlich therapeutisch auf Menschen gewirkt hat. Er hat psychisch Gestörte, die Bibel nennt sie Besessene, zurecht gebracht. Und dass er bei anderen psychosomatisch bedingten Leiden Menschen Hilfe gebracht  hat, ist durchaus möglich, denkt man an den damaligen Stand der Medizin. Aber an den Wundertaten als solchen sollten wir uns heute nicht aufhalten. Denn - müssen wir nicht sagen: Ja, damals, in der Zeit Jesu geschah so etwas, aber wie ist es heute? Nun ja: die Aufforderung Jesu führt hier weiter: „hört und seht". Es gibt doch auch bei uns eine für viele Menschen hilfreiche Diakonie, man kümmert sich um Bedürftige, um Alte und Kranke, um Menschen in Notlagen, auch um Ratlose und Hilfesuchende. In vielen Notlagen weltweit wird Hilfe geleistet. Sagen wir also nicht: Damals gab es die Werke Christi, aber das ist Vergangenheit. Nein: Es ist Gegenwart.

Nun habe ich den entscheidenden Punkt noch gar nicht angesprochen: „Und den Armen wird das Evangelium verkündigt." Auffallend ist, dass Jesu Aufforderung „hört und seht" nicht mit der Feststellung endet: „Tote stehen auf", sondern mit der Aussage: „den Armen wird das Evangelium verkündigt." Werk und Wort Jesu gehören zusammen. Nach der prophetischen Botschaft des Alten Testamens ist die Zusage des Evangeliums, des Heils an die Armen das Kennzeichen der Heilszeit schlechthin. Während Johannes der Täufer ein Bußprediger und Gerichtsprediger war und ist, ist Jesus der Heilsprediger. Das Evangelium gilt den Armen. Lassen wir uns das mit Nachdruck gesagt sein: Das Evangelium richtet sich an die Armen; sie sind die Adressaten und Empfänger des Evangeliums, des Heils. Wo sind heute die Armen? Sicherlich in den Menschenmassen in Lateinamerika, Afrika und Asien gibt es viele, die nach Heil suchen und auf die christliche Botschaft hören. Das riesige Wachstum der Pfingstgemeinden in Brasilien oder in Nigeria oder in Südkorea gibt davon Zeugnis. Und bei uns in Europa? Sind wir nicht zufrieden, selbstzufrieden und haben uns eingerichtet und warten auf gar nichts mehr, sondern sind froh, wenn wir den vorhandenen Bestand erhalten und absichern können? Diese Beobachtung dürfte nicht völlig abwegig und unzutreffend sein. Gleichwohl gibt es auch unter uns Menschen, auch unter Menschen im Wohlstand, die auf der Suche sind, und fragen, was ihrem Leben Sinn und Ziel gibt, was ihr Herz froh und hell macht. Sie sind auf ihre Weise Arme. Die Bergpredigt spricht von „geistlich Armen". Auch ihnen, gerade ihnen ist das Evangelium, die Zusage der Gnade und des Geistes Gottes verheißen.

 Damit bin ich bei einer Frage, die mich seit geraumer Zeit umtreibt und beunruhigt: Auf was wartet man in der deutschen evangelischen Kirche heute? Ich rede nicht von Rom, auch wenn diese Frage genauso an die katholische Kirche gestellt werden kann. Was ich höre und sehe, worauf man wartet, ist vor allem, dass das Geld weniger wird und die Zahl der Kirchenmitglieder und damit der Kirchensteuerzahler schwindet, dass man sparen und umbauen muss. Man erwartet, dass alles weniger wird, und dass man sich darauf einstellen und darauf gefasst sein muss. Nun weiß ich selbstverständlich aus meiner früheren Lehrtätigkeit, wie wichtig Prognose und Planung für eine Gesellschaft sind. Man hat doch heute zu bedenken, was man morgen, in Zukunft zu verantworten hat, und dafür, nach dem Maß menschlicher Einsicht, Vorsorge zu treffen. Das gilt im Blick auf den Klimawandel und Klimaschutz, auf die Energieversorgung oder auch auf die Bildung und Chancen der jungen, nachwachsenden Generation. Zukunftsverantwortung muss sein. Allerdings sollte man dabei zweierlei nicht aus dem Auge verlieren: Jede Zukunftsvorhersage geht vom heutigen Stand aus. Also können gegenwärtig angestellte Prognosen und Planungen keineswegs mit Sicherheit vorhersagen und festlegen, wie es kommt. Vor Überraschungen ist man nicht gesichert. „Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt".

Zum anderen stimmen die Maßstäbe eben nicht, wenn man alles nur unter dem Gesichtspunkt der Finanzierbarkeit betrachtet. Sicher: Man braucht Geld. Aber die Umrechnung von geistigen und kulturellen Gütern in ihren Geldwert ist verhängnisvoll. Eine Monetarisierung, Vergeldlichung aller gesellschaftlichen Kommunikation, von Kultur und menschlichem Zusammenhalt, ist außerordentlich fragwürdig. Die Berechung von künftigem Gewinn oder Verlust kann verführerisch und zugleich verhängnisvoll sein.

Das gilt auch und besonders von und in der Kirche. Jesus mahnte seine Jünger: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon." Wenn in der Kirche Geld und Finanzen das beherrschende und alles bestimmende Thema werden, gerade dann sollte man auf unseren Predigttext hören und ihn bedenken. Jesus antwortet dem Täufer auf seine Frage doch nicht: Die Spenden sind erheblich und die Finanzen sind in Ordnung. Wie gesagt, ich sage dies nicht im Blick auf die römisch-katholische Kirche, auch wenn dazu durchaus Positives , aber auch recht Kritisches zu sagen wäre. Der Papst aus Lateinamerika scheint den Auftrag der Verkündigung an die Armen begriffen zu haben. Ich sage es im Blick auf die deutsche evangelische Kirche und auf Landeskirchen. Die Sorge um das Geld ist weder Ersatz noch Garant für den Geist Gottes. Und die ausschließliche Orientierung an der Bestandssicherung kann geradezu zur Bremse, zum Hemmnis für Gottes Geist werden und falsche Prioritäten setzen.

Andersherum, und nun positiv, evangeliumsgemäß gesagt: Die Kirche braucht Gottes Geist. Sie soll im Geist Christi handeln und reden. Christi Geist, Gottes Geist ist kein Geist der Sorge und der Angst, sondern ein Geist der Hoffnung und Zuversicht. Er ist kein Geist der Abgrenzung, sondern ein Geist der Offenheit und der Freiheit. Er ist kein ängstlicher Geist, dass in Zukunft alles schlechter und weniger wird, sondern ein Geist des Gottvertrauens. Er ist kein Geist der Entmutigung. Vor allem ist er kein Geist des Neides, der Selbstbehauptung um jeden Preis. Die Botschaft des heutigen Evangeliums lautet: Lasst uns auf diesen Geist warten. Denn dieser Geist kommt je und dann zu uns und ist gegenwärtig bei uns, in der Diakonie, auch in der Predigt. Es gibt das Wort Begeisterung. Das brauchen wir. Begeisterung ist nicht durch Geld aufzuwiegen. Es geht um Geistes-Gegenwart. Ein Sprichwort rät: „Warte nie, bis du Zeit hast." Nein, jetzt ist die Zeit, die Stunde des Evangeliums.

Was die Zukunft der deutschen evangelischen Kirche angeht, so kann man derzeit in der Tat besorgt sein und ängstlich warten. Aber das hat seinen entscheidenden Grund nicht in dem mangelnden Geld -  wovon derzeit noch nicht allzu viel zu merken ist - sondern im Mangel an Gottes Geist, am Geist Christi. Diesen Geist kann man freilich nicht herstellen, nicht herbeizwingen, nicht an sich reißen, auch nicht mit Gewalt. Im Zusammenhang der Aussagen Jesu zum Täufer wird in einem rätselhaften Spruch von denen gesprochen, die dem Reich Gottes Gewalt antun. Der Geist kommt von selbst oder er bleibt eben aus. Man kann um die Gegenwart des Geistes nur bitten und auf sein Kommen hoffen. Mir selbst ist nicht bange. Ich bin davon überzeugt, dass das Evangelium bleibt und dass Gottes Geist wirkt, wenn nicht bei uns, dann in den Pfingstgemeinden in der südlichen Erdhälfte. Gottes Geist ist nicht abhängig vom Geld, auch wenn man natürlich für die irdische Gestalt der Kirche Geld benötigt und es sinnvoll verwenden sollte.

Unser Bibelwort endet mit einem Wort Jesu: „Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert." Ärgern bedeutet Anstoß nehmen. Was heißt das? Gottes Geist ist nicht wie eine Impfung, die man über sich ergehen lässt. Glaube kann nicht eingeimpft werden. Er wird zur orientierenden Kraft nur dann, wenn wir ihn annehmen. Glauben gibt dem Leben eine Grundorientierung. Sie bevollmächtig und befähigt zum Vertrauen auf den Beistand und die Leitung durch den Geist Christi, zum Tätigwerden in der Hilfe für Menschen, die darauf angewiesen sind, sie schenkt Mut zum Glauben und Kraft zum Vertrauen auf das Evangelium. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard formulierte: „Christus will keine Bewunderer, sondern Nachfolger." Lasst uns also nicht auf eine günstige Gelegenheit warten, die vielleicht kommt oder auch nicht, sondern heute und hier Gottes Stimme hören, darauf achten, was Christi Geist von uns erwartet. Das geschieht oft in den kleinen Dingen. Sowie Jesu Hinweis auf sein Wirken in dem Hinweis gipfelt: Und den Armen wird das Evangelium verkündigt.

Amen.



Prof. Dr. Martin Honecker

E-Mail: honecker@gmx.de

(zurück zum Seitenanfang)