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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Advent, 21.12.2014

Kraftvolle Barmherzigkeit
Predigt zu Lukas 1:46-55, verfasst von Stefan Knobloch

Wie passt in diese vorweihnachtliche Stimmung, die am 4. Advent schon nach uns greift, wie passt da der Lobpreis auf Gott hinein, den das Lk-Ev im Magnifikat Maria in den Mund gelegt hat?  Angesichts ihrer ihr sicherer werdenden Erfahrung, dass sie offenbar ein ganz besonderes Kind austrage?

 

Worum geht es in diesem Magnifikat eigentlich? Gewiss zunächst um Mariens begeistertes, geradezu stürmisches, aus tiefster Seele kommendes Lob auf Gott. Sie nennt Gott ihren Retter. Sie erfährt sich mitten in der Niedrigkeit, man könnte auch sagen, in der Banalität ihres Lebens als von Gott persönlich angeschaut. Das aber spricht sie nach dem Magnifikat  nicht in der Ich-Form aus, sie spricht nicht von „meiner" Niedrigkeit, sondern von ihrer Niedrigkeit als Magd Gottes. Diese Formulierung fällt auf. Sie scheint eine Brücke zu bauen von der Person Mariens hinüber zum gesamten auserwählten Gottesvolk. Denn dieses verstand sich aufgrund seiner besonderen Erwählung als Gottes Diener bzw. in der weiblichen Form als Gottes Magd. Kaum hätten wir diesen Perspektiven- bzw. Subjektwechsel zur Kenntnis genommen, deutet sich noch ein weiterer an. Nämlich diesmal der über das erwählte Volk Gottes hinaus auf die Wirklichkeit der Menschheit insgesamt. Von Menschengeschlechtern, sozusagen von allen Völkern, von allen Kulturen ist da die Rede. Man kann das Magnifikat so lesen, dass die Völker, die Kulturen an der Erwählung des auserwählten Volkes Anzeichen ihrer eigenen Heilsgeschichte, ihrer eigenen Rettung durch Gott erkennen.

 

In der Tat tut man dem Magnifikat mit dieser Deutung keinen Zwang an. Sie legt sich vielmehr von seinem Aufbau her nahe. Ab einer bestimmten Ebene (ab Vers 50) ist nicht mehr von einer Einzelperson, nicht mehr von Maria die Rede, sondern es stehen die Menschengeschlechter im Mittelpunkt, und es steht im Mittelpunkt, welches Unrecht sie einander antun.

 

Dem gebietet das Erbarmen, gebietet die Barmherzigkeit Gottes Einhalt. Die Barmherzigkeit Gottes bildet im Magnifikat das beherrschende Thema, in einer Weise, die die Lebensbedingungen der Menschen revolutionär auf den Kopf stellt. Nein, mehr als das: die diese Lebensbedingungen revolutionär auf den Kopf gestellt hat. Der starke Arm Gottes hat die, die sich in ihren Gedanken und in ihren Taten über die anderen erheben, von dannen gejagt. Er hat Dynastien verjagt und die ewig Erniedrigten, die ewig Getretenen und ewig Unterlegenen nach vorne gebracht. Er hat denen, die vor Hunger nicht mehr können, denen nur noch bleibt zu verhungern, neue Lebensgrundlagen, neue Lebensmittel erschlossen, Wasser, medizinische Versorgung, Arbeit, Bildung. Die aber, die alles haben, alles im Überfluss haben, leiden an der Erschöpfung der Öde und Leere ihres Lebens. Gott hat sich in seinem Erbarmen seines erwählten Volkes angenommen. Und er hat sich in diesem Volk aller Völker, aller Kulturen, aller Religionen angenommen. Gott hat sich, heißt es am Ende des Magnifikat, seines Erbarmens erinnert.

 

Gott hat ..., Gott hat... ! Klingen diese Sätze nicht zynisch? Tun sie nicht geradezu weh? Ja, sie tun weh. Aber nicht, weil sie an der Wirklichkeit vorbeigehen, sondern weil wir uns so wenig oder gar nicht vom Primat der Barmherzigkeit Gottes anstecken lassen. Gottes vor allem in Jesu Worten und Taten offenbar gewordene Barmherzigkeit hat uns zu wenig oder noch gar nicht erreicht.

 

Das Evangelium Jesu ist ein Evangelium der Barmherzigkeit Gottes. Dieser Satz mag für uns zunächst abstrakt und unverbindlich klingen. Er scheint einem Verständnis von Frömmigkeit anzugehören, das nicht unbedingt unseres ist. Allein schon der Begriff Barmherzigkeit hat es heute schwer. In ihm schwingen Nuancen mit, durch die die Barmherzigkeit gegenüber anderen etwas Erniedrigendes, Beschämendes, etwas die menschliche Würde Missachtendes annehmen kann. Leider.

 

Die Barmherzigkeit des Evangeliums, die von der Barmherzigkeit Gottes zeugt, ist von anderer Art! Sie ist, wie das gesamte Wirken und Auftreten Jesu zeigt, eine ungerechte gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Strukturen anklagende und aufdeckende Barmherzigkeit. Sie stellt sich an die Seite der Menschen, an die Seite ihrer Alltagsnöte, ihrer Krankheiten, ihrer Demütigungen, ihrer sozialen Abhängigkeiten. Viele der Gleichnisse Jesu spielen deshalb in der Welt der kleinen Leute.

 

Die Barmherzigkeit Jesu ist eine kraftvolle Barmherzigkeit, die die Freiheit und Verantwortung der Menschen ansprechen will, barmherzig zu sein, wie der himmlische Vater barmherzig ist (vgl. Lk 6,36). Durch sie kommt ein neuer Zug ins Leben der Menschen herein. Nicht gespeist von rein menschlicher Kraftanstrengung, nicht gespeist von der Mentalität, mal in die Hände zu spucken, dann gehe es schon. Sondern gespeist von der Gewissheit, die eine Glaubensgewissheit ist, dass Gottes Barmherzigkeit, seine empathische Zuwendung, seine Liebe zum Menschen die Grundlage unseres Lebens ist, auf der wir unser Leben, unsere sozialen Beziehungen, auf der sich die Beziehungen zwischen Ländern, Staaten und Blöcken entfalten sollen.

 

Das nimmt sich wie Schalmeienklänge aus. Und ist doch viel mehr. Es ist das Ansinnen an uns, unser Leben, unsere Gegenwart in Freiheit und Verantwortung anzunehmen. Uns nicht in die Nische der Angst, der Furchtsamkeit, der Kleinlichkeit von Bedenkenträgern zurückzuziehen, die auf der anderen Seite vielfach meinen, alles besser zu wissen. Wir leben in bewegten Zeiten. Für manche erscheint unser Land überschwemmt von Fremden, von Flüchtlingen, von Migranten, von Asylanten. Und viele Gemeinden tun sich rein technisch-administrativ schwer, Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen. Manche Gruppen schüren bewusst Überfremdungsängste und finden Widerhall. Da gab es vor einigen Wochen inszenierte Auseinandersetzungen zwischen Hooligans und Salafisten. Da gibt es so genannte „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) in Dresden. Da gibt es Ableger dieser Gruppierung in Düsseldorf namens „Dügida", also „Düsseldorf(er) gegen die Islamisierung des Abendlandes". Es lassen sich Tendenzen beobachten, die die abscheuliche Unmenschlichkeit der IS-Kämpfer auf irakisch-syrischem Territorium auf unverantwortliche Weise in einen Topf werfen mit dem Islam selbst. Wo Angst, wo Furcht, wo Fremdenfeindlichkeit kultiviert werden, da wachsen Distanz, Abwehr und Aggression. Da bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. Da haben wir uns meilenweit von der jesuanischen Tradition der Offenheit, der Barmherzigkeit, der Solidarität entfernt.

 

Wie aber kommt es, dass Tendenzen der mentalen Verschlossenheit, der Verschanzung, der verschlossenen Türen zum Teil bis in kirchliche Gemeinden hereinreichen? Daran mag mit Schuld tragen, dass in ihnen, gewiss in unterschiedlicher Ausprägung, eher die Stimmigkeit der Lehre als das hohe Gut der Barmherzigkeit betont wurde bzw. noch betont wird. Im Raum der römisch-katholischen Kirche versucht Papst Franziskus den Primat der Barmherzigkeit vor der Lehre zu betonen. Und das nicht nur im Bereich der derzeitigen Auseinandersetzung um Ehe und Familie. Dieser Primat ist umfassender zu beziehen auf das Verständnis des Christeins überhaupt, auf unsere Art, in unserer Gesellschaft zu leben und an den augenblicklichen Diskussionen in der Gesellschaft teilzunehmen - und sei es in der bierernsten Atmosphäre von Stammtischen.

 

Barmherzigkeit ist an diesem 4. Advent das Grundwort des Magnifikat. Es möge uns begleiten hinüber in die Feier von Weihnachten, in wenigen Tagen.



Prof. em. Stefan Knobloch
Passau
E-Mail: dr.stefan.knobloch@t-online.de

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