Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach
Christvesper, 24.12.2014
Weihnachten – Bild oder Rahmen?
Predigt zu Lukas 2:1-20, verfasst von Gert-Axel Reuß
Ich nehme einen großen, vergoldeten Bilderrahmen (ohne Bild) für die Predigt mit auf die Kanzel.
Liebe Gemeinde,
in meinen Händen halte ich einen Rahmen (Rahmen hoch halten). Das Bild hat irgendjemand herausgenommen. Vielleicht wurde es verkauft? Vielleicht ist es auf andere Weise abhanden gekommen. - Auf jeden Fall muss dieses Bild sehr kostbar gewesen sein, denn es hatte diesen großen, goldenen Rahmen. Was wohl darauf zu sehen war?
Stellen Sie sich für einen Moment vor, dieses Bild hinge bei Ihnen im Wohnzimmer! Was für ein Bild müsste das sein, damit sie es so aufhängen würden? - Ein Familienerbstück vielleicht? Oder ein ganz besonderes Geschenk?
Ich hänge meine Bilder normalerweise ganz anders auf. Es sind ja auch nur Poster oder billige Kunstdrucke, die nichts anderes brauchen als einen schlichten Wechselrahmen. Die kann ich austauschen wie meine Einrichtung. Ein Sofa kauft man sich heute ja auch nicht mehr für das ganze Leben.
Aber zwischen den Plakaten und gerahmten Fotografien gibt es ein Bild, das mir im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen ist. Das ich nicht aus dem Rahmen genommen habe beim letzten Umzug. Das auch die unterschiedlichsten Farbgestaltungen der Wände überdauert hat. Irgendwann gab es das Gefühl: Ein billiger Wechselrahmen soll es jetzt doch nicht mehr sein. Das Bild ist mir kostbar geworden. Und das soll der Rahmen auch zeigen.
Bestimmt war das bei diesem Bild auch so. Am Anfang noch ganz ohne Rahmen, aber dann wurde es immer wertvoller. Und der Rahmen wurde größer und kostbarer, bis jemand diesen goldenen Rahmen für das Bild machte.
Liebe Gemeinde,
jedes Fest braucht einen Rahmen. Die Geschenke, der Tannenbaum. Das festliche Essen, die gefühlvollen Lieder. Die Sehnsucht nach „weißen Weihnachten", vielleicht auch der Gottesdienstbesuch. Jede Familie hat ihre eigenen Rituale und Traditionen. Jede, jeder von uns hat ganz eigene Vorstellungen von dem, was zu Weihnachten unbedingt dazu gehört.
Auf den richtigen Rahmen kommt es an! Für mich wird es erst Weihnachten, wenn ich die Weihnachtsgeschichte gehört oder gelesen habe. In den vertrauten Worten des Lukasevangeliums, die ich mitsprechen kann seit Kindertagen. So wie wir sie vorhin gehört haben. Genau so.
Liebe Gemeinde,
das ist der kostbare, aufwendig gestaltete Rahmen, der nicht fehlen darf, damit dieses Fest gelingt. Aber was ist auf dem Bild zu sehen? Warum feiern wir Weihnachten?
Ich vermute, jede / jeder von uns hat eine sehr genaue Vorstellung, was Weihnachten für sie / ihn bedeutet. Vielleicht ist uns das nicht immer bewusst. Vielleicht können wir es auch nicht richtig beschreiben. Und trotzdem gibt es dieses Gefühl, dieses Bild, diese Vorstellung. Die Sehnsucht nach einer „heilen Welt". Dieses Bild der Harmonie und des Friedens, von dem die Menschen ja schon lange vor Jesu Geburt geträumt haben. Und es noch immer tun.
Auf meinem Weihnachtsbild ist viel Glanz und Licht. Ganz wie die mittelalterlichen Maler es uns vor Augen stellen:
- Die Könige, die niederknien vor diesem Kind. Weil auch die Mächtigen zu Weihnachten demütig werden und diesem Kind das Kostbarste schenken, was sie haben. Gold, Weihrauch und Myrrhe. Es gibt viele Deutungen für diese Geschenke. Die für mich schönste stammt von Martin Luther, der diese Geschenke in Verbindung bringt mit „Glaube, Liebe und Hoffnung".
Ich stelle mir vor: Wie würde unsere Welt aussehen, wenn Glaube, Hoffnung und Liebe die kostbarsten Gaben wären, dargebracht - sagen wir einmal: von Barack Obama, von Wladimir Putin und Angela Merkel?
- Die Hirten natürlich. Vielleicht sind sie nicht so wohlgenährt und sauber, wie wir sie uns meistens vorstellen. Für mich wärmen sie sich auf in diesem Stall. Und ihre harten, wettergegerbten Gesichter werden weicher. Offener. Kindlicher. So als hätten sie das ganze Leben noch vor sich und müssten den Hunger und die Kälte nicht fürchten.
Ich stelle mir vor: Wie würde es sein auf dieser Welt, wenn die Bootsflüchtlinge nicht mehr im Mittelmeer ertränken, weil sie unter der Sonne Afrikas ein schönes, ein auskömmliches Leben führen könnten? Wie würde es sein, wenn die Menschen im Osten der Ukraine Frieden finden würden? Wie wäre es, wenn die amerikanischen Besatzungstruppen im Irak Respekt und Toleranz statt Hass und Gewalt gesät hätten?
- Maria. Sie ist die stille Heldin der Geschichte. Und - so kommt es mir vor: die einzige Frau! Kein Wunder, dass sie vergöttert wurde. So schön, so makellos. Ein Mensch, wie er, nein: wie sie sein sollte. Wie Gott uns (Menschen) gemeint und geschaffen hat.
Kein Wunder, dass dieses Bild Risse hat. Frauen, die anders sein wollen als eine „Madonna". Der Maler Max Ernst stellt dar, wie Maria das Jesuskind züchtigt (so der Titel des Bildes). Ihm Schläge auf den Po gibt. Erfrischend normal inmitten so viel Heiligkeit.
Maria verkörpert wie keine andere die Sehnsucht nach einer „heilen" Welt. Die beinahe übernatürliche Aura, die diese „Magd Gottes" sie umgibt, so würden wir gerne sein. Und sind es doch nicht.
Wie wäre diese Welt, wenn wir ‚wir selbst' sein könnten? Wenn wir uns nicht mehr dadurch aus der Verantwortung stehlen, indem wir Maria zur Heiligen stilisieren?
Wenn wir in Maria eine ganz normale Frau und Mutter sehen könnten, eine Frau aus dem Volk, die uns um Hilfe und Unterstützung fragt? Was hindert uns daran, für eine Welt einzutreten und zu arbeiten, in der die Zukunft der Kinder uns alle angeht und nicht nur die Mutter, die ein Kind geboren hat?
Wie würde diese Welt aussehen, wenn Frauen und Männer in gleicher Weise das Überleben der Menschheit als höchstes Gut ansehen?
- Josef, nicht zu vergessen. Diese Randfigur der Weihnachtsgeschichte, die irgendwie dazu gehört. Und doch auch wieder nicht. Mein inneres Bild bleibt an dieser Stelle undeutlich. Wo ist er gerade? Kocht er die Suppe, wie es auf einem Bild im St. Annen-Museum in Lübeck zu sehen ist? Oder schließt er das Gold in eine Schatztruhe ein, wie es in der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist? Oder sammelt er draußen Holz, damit das Feuer nicht ausgeht, das seine Frau mit dem neugeborenen Kind wärmt?
Ich werde die Geburt unseres ersten Kindes nie vergessen. Das ungläubige Staunen darüber, dass dieses Kind jetzt zu mir gehören soll. Dass ich für diesen neuen Erdenbürger sorgen werde, ihn begleiten mein Leben lang. Ist das wirklich wahr?
Lange habe ich vor dem Brutkasten gesessen, in dem der zu früh Geborene lag. Winzig klein, aber gesund. Ich habe gestaunt und gebetet zugleich.
Nun ist dieses Kind lange erwachsen geworden und führt ein selbständiges Leben. Aber ich bin doch immer noch mit meinem Sohn verbunden, und freue mich sehr, dass er heute hier ist. Dass er Weihnachten „nach Hause" gekommen ist.
Wie mag es Josef ergangen sein, als sein Sohn erwachsen wurde? Als er die Lehre schmiss und auf gar keinen Fall in den väterlichen Betrieb einsteigen wollte. Ob er verstanden hat, was Jesus umgetrieben hat? Wie verzweifelt muss er gewesen sein, als alles am Kreuz endete?
Die Bibel erzählt nichts über ihn. Er bleibt ein unbeschriebenes Blatt. Aber gerade deshalb bietet er sich als Identifikationsfigur an. Er öffnet uns die Möglichkeit, dass wir selbst in dieses Bild hineinfinden. Dass wir eintreten in diesen Stall, um das Wunder von Weihnachten zu schauen, zu spüren, zu erleben.
Liebe Gemeinde,
Bild oder Rahmen? Wir brauchen beides!
Der Rahmen, den ich hier hochhalte(Rahmen hoch halten), er ist nicht leer. Er ist gefüllt mit unseren Bildern einer friedlichen, einer menschlichen Welt. Er ist gefüllt mit unseren Hoffnungen, mit unserer Sehnsucht nach einem Leben, wie es sein könnte: achtsam, liebevoll. Mit dem Blick auf uns selbst, auf unsere Möglichkeiten. Auch auf unsere Bedürfnisse. Mit dem Blick auf andere, die uns brauchen. Und die uns zugleich geben, was wir brauchen: Anerkennung und Liebe.
Ein kleines Kind, ein Neugeborenes macht uns zu Menschen. Vor ihm können wir sein, wie wir sind, ohne uns etwas vorzumachen oder uns zu verstecken: Begabt und bedürftig zugleich.
Ich wünsche uns allen, dass wir immer wieder hineinfinden in die Geschichte Gottes mit den Menschen, die in der Weihnachtsgeschichte das vielleicht schönste Bild gefunden hat. Ich wünsche uns, dass wir inmitten all der Symbole und Bräuche entdecken, dass dieses Christkind mit seiner Botschaft gerade uns meint. In der Liebe, die wir teilen, in den Liedern, die wir singen, in den Gesprächen, die wir führen - im Familienkreis und darüber hinaus - ist Gott mitten unter uns.
Amen.