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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Christmette, 24.12.2014

„Wenn man nur darnach Augen hat“
Predigt zu Matthäus 1:18-25, verfasst von Martin Schewe

„Am vierundzwanzigsten Dezember durften die Kinder des Medizinalrats Stahlbaum den ganzen Tag über durchaus nicht in die Mittelstube hinein, viel weniger in das daran stoßende Prunkzimmer. In einem Winkel des Hinterstübchens zusammengekauert saßen Fritz und Marie, die tiefe Abenddämmerung war eingebrochen, und es wurde ihnen recht schaurig zumute, als man, wie es gewöhnlich an dem Tage geschah, kein Licht hereinbrachte. Fritz entdeckte ganz insgeheim wispernd der jüngeren Schwester (sie war eben erst sieben Jahre alt geworden), wie er schon seit frühmorgens es habe in den verschlossenen Stuben rauschen und rasseln und leise pochen hören. Auch sei nicht längst ein kleiner dunkler Mann mit einem großen Kasten unter dem Arm über den Flur geschlichen, er wisse aber wohl, dass es niemand anders gewesen als Pate Drosselmeier. Da schlug Marie die kleinen Händchen vor Freude zusammen und rief: ‚Ach, was wird nur Pate Drosselmeier für uns Schönes gemacht haben.'"

 

(1) Die Erzählung, die so beginnt, liebe Gemeinde, ist zweihundert Jahre alt. Sie haben es an der Sprache gemerkt. Sonst hat sich in zweihundert Jahren wenig geändert. Fritz und Marie sitzen an Heiligabend immer noch im dunklen Hinterzimmer und können die Bescherung nicht erwarten. Im großbürgerlichen Haus des Medizinalrats Stahlbaum verspricht sie, üppig auszufallen. „Ach, was wird nur Pate Drosselmeier für uns Schönes gemacht haben", freut sich Marie und klatscht schon in die Hände. Der Pate Drosselmeier, ein Freund der Familie, kann nämlich Spielzeuge bauen und pflegt den beiden Kindern zu Weihnachten ein besonders kunstvolles Geschenk zu machen. Im Verlauf der Erzählung wird er sich noch von einer anderen Seite zeigen - ein etwas zwielichtiger, jedenfalls geheimnisvoller Charakter. Zunächst aber ist es endlich soweit. Die Eltern holen Fritz und Marie ins Weihnachtszimmer, und der Erzähler schildert uns, was es dort zu sehen gibt.

 

„Ich wende mich an dich selbst, sehr geneigter Leser oder Zuhörer Fritz - Theodor - Ernst - oder wie du sonst heißen magst, und bitte dich, dass du dir deinen letzten, mit schönen bunten Gaben reich geschmückten Weihnachtstisch recht lebhaft vor Augen bringen mögest, dann wirst du dir wohl auch denken können, wie die Kinder mit glänzenden Augen ganz verstummt stehen blieben, wie erst nach einer Weile Marie mit einem tiefen Seufzer rief: ‚Ach, wie schön - ach, wie schön', und Fritz einige Luftsprünge versuchte, die ihm überaus wohl gerieten. [...] Der große Tannenbaum in der Mitte trug viele goldne und silberne Äpfel, und wie Knospen und Blüten keimten Zuckermandeln und bunte Bonbons und was es sonst noch für schönes Naschwerk gibt, aus allen Ästen. [...] Um den Baum umher glänzte alles sehr bunt und herrlich - was es da alles für schöne Sachen gab - ja, wer das zu beschreiben vermöchte!"

 

Die Aufzählung der zahlreichen Geschenke, die auf die Kinder warten, wollen wir dem Schriftsteller E.T.A. Hoffmann überlassen, von dem die Erzählung stammt, und ein paar Seiten darin überspringen, bis wir zu den seltsamen Ereignissen kommen, die Marie in der Weihnachtsnacht erlebt. Nur ein Geschenk muss ich erwähnen, denn es spielt bei diesen Ereignissen eine wichtige Rolle: einen hölzernen Nussknacker in Husarenuniform. Marie findet, dass er dem Paten Drosselmeier ähnlich sieht. Allerdings ist der Nussknacker jünger und viel hübscher. Marie schließt ihn ins Herz und legt den Nussknacker, bevor sie selber schlafen gehen will, in ihr Puppenbett. Inzwischen ist es beinahe Mitternacht geworden, Marie allein im Zimmer zurückgeblieben.

 

„Sie verschloss den Schrank und wollte ins Schlafzimmer, da - horcht auf, Kinder! - da fing es an leise - leise zu wispern und zu flüstern und zu rascheln ringsherum, hinter dem Ofen, hinter den Stühlen, hinter den Schränken. - Die Wanduhr schnurrte dazwischen lauter und lauter, aber sie konnte nicht schlagen. Marie blickte hin, da hatte die große vergoldete Eule, die darauf saß, ihre Flügel herabgesenkt, so dass sie die ganze Uhr überdeckten, und den hässlichen Katzenkopf mit krummem Schnabel weit vorgestreckt. [...] Marien fing an sehr zu grauen, und entsetzt wär' sie beinahe davongelaufen, als sie Pate Drosselmeier erblickte, der statt der Eule auf der Wanduhr saß und seine gelben Rockschöße zu beiden Seiten wie Flügel herabgehängt hatte [...]."

 

Zur Geisterstunde kriechen aus allen Winkeln des Weihnachtszimmers Mäuse hervor, ein ganzes Heer, an seiner Spitze der Mausekönig mit sieben Köpfen, auf denen sieben Kronen sitzen. In dem Schrank, wo die Kinder ihr Spielzeug aufbewahren, erwachen die Zinnsoldaten und Puppen und rüsten sich zum Kampf gegen die Mäuse. Unter Führung von Maries Nussknacker auf der einen Seite und auf der anderen des Mausekönigs mit den sieben Köpfen und sieben Kronen treffen die beiden Truppen aufeinander. Auf dem Höhepunkt der Schlacht ist der Nussknacker von seinen Feinden umzingelt und droht, überwältigt und gefangen zu werden. Schon sprengt „im Triumph aus sieben Kehlen aufquiekend [...] Mausekönig heran. Marie wusste sich nicht mehr zu fassen, ‚o mein armer Nussknacker - mein armer Nussknacker!", so rief sie schluchzend, fasste [...] nach ihrem linken Schuh und warf ihn mit Gewalt in den dicksten Haufen der Mäuse hinein auf ihren König. In dem Augenblick schien alles verstoben und verflogen, aber Marie [...] sank ohnmächtig zur Erde nieder."

 

(2) Was es mit dem scheußlichen Mausekönig auf sich hat und wie es kommt, dass er gegen Maries Nussknacker Krieg führt, das überspringen wir wieder, liebe Gemeinde, damit Ihnen noch etwas zum Nachlesen übrig bleibt. So viel will ich jedoch verraten: Die Antwort steckt in einem Märchen, das der Pate Drosselmeier den Kindern erzählt - eine Geschichte in der Geschichte also, und zwar eine, die gut ausgeht. Mit Maries Hilfe besiegt der Nussknacker seinen Widersacher und überreicht ihr zum Dank die sieben Kronen von den sieben Köpfen des Mausekönigs. Dann nimmt der Nussknacker, der sich als Neffe des Paten Drosselmeier herausstellt, Marie mit in das Puppenreich, wo er als König herrscht. Dort sind die Häuser aus Zucker, und aus den Brunnen sprudelt Limonade. Schließlich erwacht Marie. Neben ihr steht die Mutter und sagt: „‚Aber wie kann man auch so lange schlafen, längst ist das Frühstück da!' [...] ‚O Mutter, liebe Mutter, wo hat mich der junge Herr Drosselmeier diese Nacht überall hingeführt, was habe ich alles Schönes gesehen!' Nun erzählte [Marie] alles beinahe so genau, wie ich es soeben erzählt habe, und die Mutter sah sie ganz verwundert an. Als Marie geendet, sagte die Mutter: ‚Du hast einen langen, sehr schönen Traum gehabt, liebe Marie, aber schlag dir das alles nur aus dem Sinn.' Marie bestand hartnäckig darauf, dass sie nicht geträumt, sondern alles wirklich gesehen habe [...]. [Sie lief] ins andere Zimmer, holte schnell aus ihrem kleinen Kästchen die sieben Kronen des Mausekönigs herbei und überreichte sie der Mutter mit den Worten: ‚Da sieh nur, liebe Mutter, das sind die sieben Kronen des Mausekönigs, die mir in voriger Nacht der junge Herr Drosselmeier zum Zeichen seines Sieges überreichte.'"

 

Märchenwelt und Wirklichkeit, liebe Gemeinde, gehen in der Erzählung von Nussknacker und Mausekönig eine unauflösliche Verbindung ein. Im Wohnzimmer der Familie Stahlberg tobt der Krieg zwischen Mäusen und Puppen. Der Pate Drosselmeier, bei Tage Obergerichtsrat, sitzt um Mitternacht als Eule auf der Wanduhr. Sein Neffe ist ein hölzerner Nussknacker und herrscht über ein Reich aus Spielzeug und Konfekt. „Du hast einen schönen Traum gehabt, liebe Marie", sagt die Mutter. Doch wo kommen dann die sieben Kronen her, die Marie der Mutter zeigt? Auch für den Erzähler steht nicht fest, was Phantasie ist und was Realität. Am Ende macht er die siebenjährige Marie zur Braut des Nussknackers. „Nach Jahresfrist hat er sie, wie man sagt, auf einem goldnen, von silbernen Pferden gezogenen Wagen abgeholt. Auf der Hochzeit tanzten zweiundzwanzigtausend der glänzendsten, mit Perlen und Diamanten geschmückten Figuren, und Marie soll noch zur Stunde Königin eines Landes sein, in dem man überall funkelnde Weihnachtswälder, durchsichtige Marzipanschlösser, kurz, die allerherrlichsten, wunderbarsten Dinge erblicken kann, wenn man nur darnach Augen hat."

 

Die Erzählung rechnet mit einer Welt hinter der Welt, oder besser: mit einer Welt, die die gewöhnliche Welt durchdringt; einer Welt, die sich mitten in den alltäglichen Dingen und Ereignissen zeigt und sie in einem neuen Licht erscheinen lässt. So wird ein Obergerichtsrat zur Eule, und eine Holzfigur entpuppt sich als Märchenprinz. „Wenn man nur darnach Augen hat."

 

Hören wir noch eine solche Erzählung, wieder eine, die zu Weihnachten spielt, diesmal aus dem Matthäusevangelium. „Die Geburt Jesu Christi geschah aber so", heißt es da: „Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist. Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen. Als er das noch bedachte, siehe, da erschien ihm der Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden. Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: ‚Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben', das heißt übersetzt: Gott mit uns. Als nun Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. Und er berührte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar; und er gab ihm den Namen Jesus."

 

(3) Wieder ein Traum, liebe Gemeinde. Oder doch keiner? Josef plant, seine Verlobte zu verlassen. Ganz klar ist nicht, ob aus Eifersucht oder aus Ehrfurcht - weil der fromme Josef schon ahnt, was es mit Marias Schwangerschaft auf sich hat. Dann träumt er. Aber was Josef träumt, ist nicht weniger wirklich als die Wirklichkeit und gilt auch noch am nächsten Morgen: dass ihm der Engel erschienen ist, womöglich derselbe, der in der anderen Weihnachtsgeschichte, aus dem Lukasevangelium, den Hirten erscheint und sie zu einer Krippe schickt. Als Josef erwacht, weiß er, was er zu tun hat. Wie E.T.A. Hoffmanns Marie ist Josef ein Bürger zweier Welten, und wie bei Marie durchdringt die Traumwelt die gewöhnliche Welt. Die alltäglichen Dinge und Ereignisse bleiben, was sie waren, aber der Traum lässt sie in einem neuen Licht erscheinen. Dadurch wird alles anders. „Wenn man nur darnach Augen hat."

 

Es geht nicht um Wunschträume und Illusionen. Dieser Verdacht liegt zwar nahe. Schon die Mutter vermutet, dass sich Marie die andere Welt bloß einbildet, in der sie schließlich Prinzessin wird. Und auch wenn Marie in der Erzählung recht behält und es die andere Welt dort tatsächlich gibt - die Erzählung wird dadurch noch nicht zum Tatsachenbericht. Den lebendigen Nussknacker und sein Puppenreich hat sich der Schriftsteller E.T.A. Hoffmann ausgedacht. Trotzdem hat seine Erzählung, mit all den unmöglichen Dingen, die darin vorkommen, etwas zu sagen, was genauso wahr ist wie ein Tatsachenbericht und mindestens genauso wichtig. Die Erzählung zeigt uns nämlich, dass es nicht nur auf die Tatsachen selbst ankommt, sondern auch darauf, wie wir sie wahrnehmen und was wir mit den Tatsachen anfangen - was sie für uns bedeuten. Wenn wir uns mit dem ersten Eindruck zufrieden geben, drohen wir, das Beste zu verpassen. Marie sieht genauer hin und entdeckt, dass der Alltag voll erstaunlicher Abenteuer steckt. Für uns gibt es keine Limonadenbrunnen und Marzipanschlösser zu entdecken, dafür Hoffnung und Hilfe, wo wir sie nicht vermutet haben. „Wenn man nur darnach Augen hat."

 

Dass die Geschichte von Nussknacker und Mausekönig zu Weihnachten spielt, ist kein Zufall, liebe Gemeinde. Denn auch für Weihnachten braucht man Augen. Auch zu Weihnachten verpassen wir das Beste, wenn wir uns mit dem ersten Eindruck zufrieden geben. Das Beste an Weihnachten sind ja nicht die Buden und die Musik auf dem Weihnachtsmarkt, auch nicht die Dekorationen in den Geschäften und die Lichter in den Vorgärten; nicht der Tannenbaum, noch nicht einmal die Geschenke, die darunter liegen. Um herauszufinden, worauf es zu Weihnachten wirklich ankommt, müssen wir es machen wie Marie und genauer hinsehen. Wenn wir das tun, entdecken wir Marias Kind. Und wenn wir das Kind gefunden haben, sehen wir am besten noch einmal und noch genauer hin. Wie Josef. Denn dann entdecken wir in dem Kind Gott selbst. Erst dann haben wir die Tatsachen ernst genommen und verstanden, was Weihnachten für uns bedeutet: wenn wir inmitten der Buden, Dekorationen und Geschenke auf die zweite Welt gestoßen sind, die die gewöhnliche Welt durchdringt.

 

Ein Kind, wahrhaftig ein Kind. Aber auch wahrhaftig der Schöpfer der Welt. Die alltäglichen Dinge und Ereignisse bleiben nach Weihnachten, was sie vorher waren. Trotzdem wird alles anders. Das verbindet uns mit E.T.A. Hoffmanns Marie und mit Josef im Matthäusevangelium. Zu Weihnachten werden auch wir zu Bürgern zweier Welten. Im Licht der Gegenwart Gottes zeigen sich Hoffnung und Hilfe, wo wir sie nicht vermutet haben. In dem Kind sehen wir den Himmel offen. „Wenn man nur darnach Augen hat."

 

 

[„Nussknacker und Mausekönig" zitiere ich, in modernisierter Rechtschreibung, nach: E.T.A. Hoffmann, Werke, Zweiter Band: Nachtstücke und andere Erzählungen, Frankfurt a.M. 1984, S. 296-351.]



Pfarrer Dr. Martin Schewe
Gütersloh
E-Mail: marschewe@yahoo.de

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