Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Christvesper, 24.12.2014

Predigt zu Lukas 2:1-20, verfasst von Christoph Meyns

I.

Wenn ich diese Tage die Weihnachtsgeschichte lese, muss ich an die Geburt unserer Kinder zurückdenken: die Monate der Schwangerschaft meiner Frau, die Besuche beim Arzt, die ersten Ultraschallaufnahmen, die Einrichtung des Kinderzimmers, die Anschaffung eines Kinderwagens, das ewige Warten, bis es endlich losgeht, dann das Einsetzen der Wehen, die Fahrt ins Krankenhaus, die Geburt, in unserem Fall der Kaiserschnitt, und dann der Moment, in dem ich sie das erste Mal auf den Arm nahm. Das war einer der ergreifendsten Momente meines Lebens.

Das wird Ihnen, den Eltern der Kurrendesänger auch so gehen, wenn Sie an die Geburt ihrer Kinder zurückdenken. Und, liebe Chorsänger, so ist das: an seine eigene Geburt kann man sich nicht erinnern, sondern man hört nur Geschichten darüber: „Ach was warst du süß als Baby", „du warst so schrumpelig, ich war erst ganz entsetzt", „es lag Eis und Schnee, wir mussten über vereiste Straßen ins Krankenhaus ", „die Geburt hat unglaublich lange gedauert", „Papa ist ohnmächtig geworden", „wir haben uns so gefreut". Ihr kennt eure persönliche Geburtsgeschichte bestimmt genau, habt sie öfter gehört, sagt vielleicht sogar schon wie unsere Kinder: „Papa, das haben wir doch schon tausendmal gehört."

So ist das auch mit der Weihnachtsgeschichte. Wir haben sie schon so oft gehört in unserem Leben: in der Kinderbibel gelesen, im Kindergarten im Krippenspiel erlebt oder sogar selbst mitgespielt als Hirte oder als Schaf, als Joseph oder Maria, in der Grundschule als Bilderbogen angemalt, im Chor als Musical gesungen, bis heute: „alle Jahre wieder". Aber sie wird nie langweilig. Es gibt eben Geschichten, die sind so wichtig, dass man sie immer wieder erzählt und immer wieder gerne hört, weil es dabei um etwas geht, was das eigene Leben tief berührt.

 

II.

Dabei geht es bei Lukas im zweiten Kapitel erst mal relativ unspektakulär zu. Sicher, die Umstände waren nicht optimal: erst hochschwanger fünf Tagesreisen unterwegs von Nazareth nach Bethlehem, das muss anstrengend gewesen sein; dann kein Bett, sondern nur ein Stall, keine Verwandten zur Hilfe, keine Hebamme in der Nähe. Andererseits: Die Menschen waren anspruchslos in der Antike; hohe Kindersterblichkeit, die meisten Menschen wurden nicht älter als 50, keine medizinische Versorgung, alles zu Fuß oder auf einem Esel, den Lebensunterhalt mit der Kraft der eigenen Hände verdienen, Feldarbeit mit der Hacke, Fischfang mit dem Netz. Immerhin bot der Stall eine einigermaßen weiche Unterlage und die Wärme der Tiere. Das muss reichen. Kinder sind schon unter viel schlimmeren Umständen zur Welt gekommen. Der Ehemann kann als Geburtshelfer einspringen, es geht eh, wie die Natur es will. Schließlich ist alles gut überstanden, das Kind liegt auf den Armen seiner Mutter. Sicher geht es Joseph und Maria in diesen Stunden wie allen Eltern mit ihrem Neugeborenen: Sie sind erschöpft, aber glücklich.

Die zweite Szene der Weihnachtsgeschichte ändert dann jedoch alles: nichts daran ist normal. Der Himmel bricht auf, die Klarheit des Herrn leuchtet, das Licht der Ewigkeit scheint auf die Erde, der ewige Gesang der Engel dringt durch bis zu den Menschen. Zwei Dinge fallen dabei besonders aus dem Rahmen.

Zum einen hätte der Engel nach damaliger Vorstellung zu einer prominenten Persönlichkeit sprechen müssen: zum Kaiser Augustus oder zum Hohepriester des Tempels in Jerusalem. Oder er hätte einen Propheten berufen müssen wie Amos, Elia, Jeremia oder Jesaja, der dann aufbricht und ausschließlich Gottes Wort verkündigt. Aber nein, die Hauptpersonen sind einfache Leute, Hirten, wie es sie zu Zehntausenden in Israel gab.

Zum anderen waren die Menschen von Gott eher warnende Botschaften gewohnt, deswegen fürchteten sich die Hirten auch so. Die Propheten hatten überwiegend den Auftrag, Kritisches zu sagen: sie warnten Könige vor dem Untergang, sie ermahnten die Mächtigen, die Armen nicht auszubeuten, sie gaben politische Zeitansagen. Der Engel der Weihnachtsgeschichte aber bringt eine frohe Nachricht: Euch ist heute der Heiland geboren, der Retter, der Christus, der Sohn Gottes.

Darum spricht uns wohl die Weihnachtsgeschichte bis heute an: Sie stellt keinen Held ins Licht, dem wir zujubeln sollen und der uns fühlen lässt, wie klein und unbedeutend wir sind. Sie erzählt von der Geburt eines Kindes, wie viele von uns sie erlebt haben, sie erzählt von einem Stall, wie ihn damals viele Menschen hatten, sie erzählt von Menschen wie du und ich, denen in dieser Nacht etwas Wunderbares widerfahren ist, die auf besondere Weise zu Zeugen Gottes wurden. Die Weihnachtsgeschichte lässt die Kleinen groß rauskommen, und sie beschenkt uns.

Das ist es, was mich immer wieder anrührt, wenn ich die Weihnachtsgeschichte höre: wie dort Himmel und Erde, Reichtum und Armut, Licht und Dunkelheit, Großartigkeit und Elend zusammenkommen und einander berühren. Auf der einen Seite Kaiser des römischen Reiches, von dem es in einer Inschrift aus der Zeit um Christi Geburt heißt: „Die Vorsehung, die über allem Leben waltet, hat diesen Mann, Kaiser Octavian Augustus, mit reichen Gaben ausgestattet, indem sie ihn uns und allen kommenden Geschlechtern als Retter gesandt hat." Aber der Glanz dieser Heiligen Nacht geht völlig an ihm vorbei. Der wahre Retter kommt aus Bethlehem, nicht aus Rom

Auf der anderen Seite die Hirten, einfache Leute in einem unbedeutenden Ort einer kleinen Provinz am Rande des Römischen Reiches, mitten im Nichts der Steppe. Gerade ihnen aber erscheinen die himmlischen Heerscharen in aller ihrer Herrlichkeit. Auf der einen Seite ein armseliger Stall, ein einfaches Paar, einige Tiere und in einem Futtertrog ein neugeborenes Kind. Auf der anderen Seite die himmlische Botschaft: In diesem Kind kommt Gott selbst zu uns Menschen auf die Erde und will unser Leben mit uns teilen. Welche Ironie der Geschichte, welch eine Umwertung aller menschlichen Werte und Erwartungen. Menschliche Stärke, Klugheit, Reichtum und Macht zählen bei Gott gar nichts. Er bekämpft sie nicht einmal, er ignoriert sie einfach.

 

III.

Wer sich deshalb bildlich gesprochen zu Weihnachten aufmacht wie die Hirten zur Krippe kommt, der erlebt, wie alles, was ihn als Mensch in den Augen anderer zu einer Lichtgestalt macht, seine Bedeutung verliert: sein sozialen Status, seine Bildung, sein Besitz, seine guten Beziehungen, seine Kraft, seine Schönheit, die Geschichte seiner Leistungen. Aber auch die Dunkelheiten verlieren ihre Wichtigkeit: Sorgen, Traurigkeiten, Grenzen, Beschränkungen, Angst und Schuld verschwinden nicht einfach, aber irgendwie lässt man sie doch hinter sich, sie berühren einen kaum noch.

Es ist, als würde man durch eine Schleuse an den Ort eines neuen Lebens treten, an dem ich nur noch Mensch bin, zusammen mit vielen anderen Menschen, frei von allen Bindungen und allen Lasten, und an dem mich das göttliche Licht anstrahlt und wärmt. Das ist etwas Irritierendes und Umwälzendes, was da passiert, aber auch etwas ganz Befreiendes und Frohmachendes. Mit den Worten von Martin Luther ein „fröhlicher Wechsel": Gott wird Mensch und nimmt in Jesus Christus auf sich, was uns von ihm trennt, was uns hindert, uns als seine geliebten Geschöpfe zu sehen. Wir bekommen dafür seine Liebe und sein Licht, sein Vertrauen und seine Kraft, seine Freude und Freiheit.

 

IV.

In diesem Geschehen hat die Weihnachtsgeschichte des Lukas indes nicht nur eine persönliche, geradezu mystische Seite, sondern zugleich eine, die über den privaten Bereich hinausgeht. Es geht um die große Freude, die allem Volk wiederfahren wird und nicht zufällig ist vom Kaiser in Rom die Rede.

Man stelle die Gesellschaft des Römischen Reiches vor: hierarchisch aufgebaut, der Kaiser an der Spitze genießt religiöse Verehrung und herrscht mit der Gewalt seiner Legionen. Die Mächtigen knechten die kleinen Leute, die Sklaven schuften, Senatoren, Generäle und adelige Familien zählen viel, die einfachen Leute nichts.

Und dann lese ich als römischer Bürger davon, dass Gott nicht dem Kaiser Augustus erschien, sondern einfachen Hirten, dass nicht der Kaiser, sondern ein kleines Kind in einem Stall der wahre König sei, nicht in Rom, dem Zentrum der damaligen Welt, sondern irgendwo am Rand des Reiches in einem unbekannten Dorf. Das wäre schon als Geschichte überaus provokant.

Aber darin spiegelt sich ja eine soziale Realität, die man schon, damals, als sich das Lukasevangelium verbreitete, erleben konnte. Denn in den christlichen Gemeinden lebten Männer und Frauen, Reiche und Arme, Menschen unterschiedlicher religiöser und ethnischer Herkunft, Freie und Sklaven gleichberechtigt zusammen. Man lese etwa die Grußliste, die Paulus an die Gemeinde in Rom am Ende des Römerbriefes (Röm 16,1-24) schreibt: Dort findet man jüdische, griechische und lateinische Namen, man findet Männer und Frauen, man findet Namen, die auf edle Herkunft schließen lassen und solche, die typisch für arme Leute und Sklaven waren. Oder man lese im 1. Korintherbrief, wo die ganze bunte soziale Vielfalt der Gemeinde zwischen den Zeilen erkennbar wird. Man lese im Galaterbrief die revolutionären Worte: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Gal 3,28)

Kein Wunder, dass Christen in den ersten Jahrhunderten verfolgt und als Atheisten beschimpft wurden: Denn sie leugneten, dass der Kaiser mehr sei als ein menschlicher Herrscher. Sie lebten in, mit und unter der bestehenden Gesellschaft nach ganz eigenen Regeln. Die Wichtigkeiten, Rangordnungen und Schranken dieser Welt wurden in ihrer Bedeutung stark relativiert, wenn nicht sogar ganz ignoriert.

Es ist ja nicht zufällig, dass gerade in der Adventszeit die Zahl der Spendenaufrufe und karitativen Aktivitäten enorm zunimmt. Vom Stall in Bethlehem geht eine verändernde Kraft aus, die diejenigen, die sie ergreift, die Augen öffnet für andere Menschen und das, was sie von uns brauchen, weil da nichts mehr ist, was uns voneinander trennt.

In diesem Jahr ist es vor allem das Schicksal der Flüchtlinge, die zu uns kommen, die uns bewegt. Ich bin froh und glücklich darüber, dass wir hier im Braunschweiger Land eine Kultur der Gastfreundschaft pflegen mit vielen Beispielen dafür, dass Menschen ihr Herz öffnen. Ich denke im Blick auf unsere Landeskirche etwa an die beiden wenig bekannten Fälle von Kirchenasyl in Walkenried oder an die Aktivitäten der Dorfgemeinschaft in Lelm, für die sie in diesem Jahr in dieser Kirche den Gemeinsam-Preis erhielt. Viele andere Beispiele innerhalb und außerhalb des kirchlichen Lebens könnte ich nennen.

Doch viel wichtiger als die Hilfe vor Ort ist die Unterstützung der Flüchtlingslager in der Türkei. Dort leben 1,5 Mio. Menschen unter erbärmlichen Zuständen. Weitere in Jordanien, im Libanon, insgesamt 4,5 Mio. Menschen, die meisten Frauen und Kinder. Denn nur wenige schaffen es bis nach Deutschland, nur etwa 90.000. Ich bitte Sie sehr herzlich um eine Spende, nicht nur in diesen Wochen, sondern immer wieder auch im neuen Jahr, z. B. über die Diakonie-Katastrophenhilfe.

Als zweites möchte ich uns heute an einen Lebensbereich erinnern, mit der wir nicht so gerne zu tun haben, der aber auch zu uns gehört: die Justizvollzugsanstalten, von denen eine in unserer unmittelbaren Nähe in Wolfenbüttel liegt. Menschen, die eine Straftat begangen haben und deshalb eine Haftstrafe absitzen müssen, sind keine angenehmen Zeitgenossen, Leute, neben denen man gerne sitzen würde hier im Dom. Sie haben betrogen, gestohlen, erpresst, geraubt, Drogen verkauft, Menschenhandel betrieben, missbraucht, vergewaltigt oder sogar getötet, manche von ihnen zum wiederholten Mal. Sie haben schwere Schuld auf sich geladen. Es gibt wohl keinen Ort, der gefühlt ferner wäre von der Vorstellung der Geburt eines Kindes als ein Gefängnis.

Und doch sind es im Lichte des Stalls von Bethlehem betrachtet Menschen wie du und ich. Sie sind mehr als ihre Taten und Untaten. Sie haben eine Lebensgeschichte, oft keine besonders schöne. Viele von ihnen haben Familien, sorgen sich um ihre Kinder, leiden unter der Monotonie des Alltags, haben Angst vor der Zeit nach dem Ende der Strafe. Ich denke zugleich an die Menschen, die täglich mit ihnen zu tun haben: die Angestellten und Beamten im Justizvollzug, die Psychologen, Therapeuten, die Mitarbeiter in den Arbeitsbetrieben, die Bewährungshelfer und nicht zuletzt die Pfarrerinnen und Pfarrer. Ihre Arbeit stellt sie vor hohe psychische Herausforderungen. Sie erleben viele schwierige Situationen, geraten immer wieder an Grenzen, müssen menschliche Abgründe und schwierige soziale Situationen aushalten.

Hier geht es mir anders als beim Umgang mit Flüchtlingen nicht um praktische Hilfe, sondern um etwas anderes: dass wir die Lebenswirklichkeit in unseren Justizvollzugsanstalten nicht verdrängen, sondern ihn akzeptieren als einen Lebensbereich, der zu uns dazugehört, dass wir den Menschen, die dort arbeiten, unseren Respekt, unsere Achtung und unsere Anerkennung zusprechen, dass wir kontinuierlich alle Themen des Strafvollzugs und der Resozialisierung öffentlich diskutieren, und dass wir Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, nicht aufgeben.

 

V.

In Husum an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste gibt es einen Weihnachtsladen. Dort kann man das ganze Jahr über in einem Museum historische Ausstellungen zum Thema Weihnachten besuchen, verschiedene Räume mit Weihnachtsdekoration bewundern und Weihnachtsartikel kaufen. Wenn man im Sommer daran in der Innenstadt vorbeigeht, ist man immer irgendwie irritiert, weil das so gar nicht zum Sommerwetter, den Schafen auf den Deichen, den vielen Touristen und den Krabbenkuttern passt. Aber eigentlich ist es genau das, was wir brauchen, eine Erinnerung daran, dass das Licht des Stalls von Bethlehem das ganze Jahr über leuchtet und wir jederzeit zur Krippe kommen können, um ums davon berühren zu lassen.

Ich wünsche Ihnen und euch nicht nur ein gesegnetes Weihnachtsfest, sondern auch, dass es auch im neuen Jahr immer wieder gelingen möge, in Kontakt mit dem Glanz und der Freude dieses Tages zu kommen. Vielleicht können Sie ja nach Silvester ein kleines Stück Weihnachtsdekoration bis zum nächsten Jahr irgendwo in einer Ecke aufhängen oder eine Weihnachtskarte an der Pinnwand lassen, damit der Blick immer einmal wieder darüber stolpert und Sie sich daran erinnern: Das Licht, das die Hirten sahen, es leuchtet für mich, und es leuchtet das ganze Jahr.

 

Amen.



Landesbischof Dr. Christoph Meyns
Wolfenbüttel
E-Mail: landesbischof@lk-bs.de

(zurück zum Seitenanfang)