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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Weihnachten, 28.12.2014

Großväter
Predigt zu Lukas 2:21-35, verfasst von Klaus Bäumlin

"Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, noch ehe das Kind im Schoss seiner Mutter empfangen wurde. Dann kam für sie der Tag der vom Gesetz des Mose vorgeschriebenen Reinigung. Sie brachten das Kind nach Jerusalem hinein, um es dem Herrn zu weihen, gemäss dem Gesetz des Herrn, in dem es heisst: Jede männliche Erstgeburt soll dem Herrn geweiht sein. Auch wollten sie ihr Opfer darbringen, wie es das Gesetz des Herrn vorschreibt: ein Paar Turteln oder zwei junge Tauben.

In Jerusalem lebte damals ein Mann namens Simeon. Er war gerecht und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war auf ihm. Vom Heiligen Geist war ihm offenbart worden, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe. Jetzt wurde er vom Geist in den Tempel geführt. Und als die Eltern Jesus hereinbrachten, um zu erfüllen, was nach dem Gesetz üblich war, nahm er es auf die Arme, lobte Gott und sprach: Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden, wie du gesagt hast. Denn meine Augen haben dein Heil gesehen, das du vor allen Nationen bereitet hast; ein Licht, das die Heidenvölker erleuchtet, und zum Ruhm für dein Volk Israel.

Sein Vater und seine Mutter staunten über die Worte, die über Jesus gesagt wurden. Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Siehe, dieser ist zum Fall und Auferstehen vieler in Israel gesetzt und zum Zeichen, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen."

 

Liebe Gemeinde! Jesus ist ein Kind Israels, ein Judenkind. Das betont nicht nur das Lukas-evangelium, sondern das gesamte Neue Testament. Hätten die christlichen Kirchen, ihre Theologen und Pfarrer diese Wahrheit nicht während Jahrhunderten verschwiegen und unterdrückt, dem jüdischen Volk und der Welt wäre entsetzliches Unrecht und unermessliches Leid erspart geblieben.

 

Jesus ist ein Judenkind. Schon die berühmte "Weihnachtsgeschichte", die Erzählung von der Geburt Jesu, die unserem Text unmittelbar voran geht, sagt es klar und deutlich. Jesus wird in Bethlehem, der "Stadt Davids" geboren, denn sein Vater Josef entstamme sogar dem "Hause und Geschlecht Davids". Und nun lesen wir, dass Jesus nicht nur seiner Geburt und Herkunft nach ein Judenkind ist, sondern von allem Anfang an in den Glauben und die Traditionen Israels hineingestellt ist. Seine Eltern lassen ihn acht Tage nach der Geburt beschneiden. Und sie bringen das kleine Kind nach Jerusalem in den Tempel, um die im Gesetz des Mose vorgeschriebene Reinigung zu erfüllen. Nach diesen Vorschriften musste sich eine Frau nach der Geburt eines Kindes einer rituellen Reinigung unterziehen, damit sie wieder am Gottesdienst teilnehmen konnte. Ebenso wird das Jesuskind im Tempel dem Herrn geweiht und die Eltern bringen ein Opfer dar. Wären sie begütert gewesen, hätten sie ein einjähriges Schaf opfern müssen. Dass sie aber bloss ein paar Turteltauben und zwei junge Tauben gebracht haben, lässt darauf schliessen, dass die Eltern Jesu nicht zu den wohlhabenden Leuten gehörten.

 

Eigentlich würde man erwarten, dass jetzt ein Priester auftritt, der die Weihehandlung vollzieht und das Opfer entgegennimmt. Lukas erwähnt ihn mit keinem Wort. Dafür tritt ein anderer Mensch auf: einer mit Namen Simeon. Viel erfahren wir nicht über ihn. Nur gerade, dass er in Jerusalem lebt und ein gerechter und gottesfürchtiger Mann ist. "Er wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war auf ihm." Aus seinen eigenen Worten: "Herr, nun lässt du deinen Knecht in Frieden scheiden" lässt sich entnehmen, dass Simeon ein alter Mann ist, der an der Schwelle des Todes steht.

 

*

Ach, wie gerne würde ich etwas mehr über diesen Simeon und über seine Lebensumstände erfahren! So nehme ich mir jetzt halt die Freiheit, mir diesen Menschen vorzustellen - im Wissen darum, dass ich das nicht im Text lesen, dass ich es nur vermuten kann. Also, Simeon ist ein alter Mann, ein hochbetagter Greis. Ich nehme jetzt einmal an, er sei verheiratet gewesen, seine Frau sei aber schon lange gestorben. Ich nehme weiter an, Simeon habe Kinder, Grosskinder, vielleicht Urgrosskinder. Mir ist dieser Simeon jedenfalls sympathisch, ich fühle mich mit ihm verbunden, vielleicht, weil ich selber Grossvater bin. Aber vielleicht ist der Umstand, dass ich Grossvater bin, der Grund, weshalb ich im alten Simeon ebenfalls einen Grossvater vermute. Man braucht manchmal Identifikations-figuren.

 

Über eines bin ich mir aber ganz sicher: Wenn Simeon seinen Lobgesang mit den Worten beginnt: "Herr, nun lässt du deinen Knecht in Frieden scheiden", dann denkt er nicht einfach an sich selbst. Simeon hat keine Angst vor dem Sterben. Es ist nicht die Frage, was mit ihm nach dem Tode geschieht, die ihn bekümmert, nicht die Frage nach seinem ewigen Leben. Seine Sorge gilt den Kindern und Kindeskindern. Nicht nur seinen eigenen, sondern den Kindern Israels und den Kindern dieser Welt. Seine brennende Sorge gilt seinem Volk Israel und seiner Zukunft. Denn die sieht düster aus. Die Leute in Galiläa und Judäa seufzen unter der römischen Unterdrückung und Gewalt-herrschaft. Jüdische Freiheitskämpfer zetteln blutige Aufstände an, die das Gegenteil dessen bewirken, was sie beabsichtigen: nämlich die völlige Zerstörung Jerusalems samt des Tempels durch die römische Supermacht, den Untergang Israels.

 

Simeon fürchtet sich nicht vor dem Sterben. Aber er möchte in Frieden sterben können, in der Gewissheit, dass es für seine Kinder und Kindeskinder und für sein Volk Israel eine menschen-würdige, lebenswerte Zukunft gibt. Er möchte sterben mit der Gewissheit, dass die Menschenwelt nicht in einem Chaos von Unrecht, Gewalt und Zerstörung versinkt.

 

Mir ist dieser Simeon sehr nahe. Und ich denke, es gibt überall auf der Erde viele Väter  und Mütter, Grossväter und Grossmütter, viele betagte Menschen, für die ist nicht das eigene Sterben das Problem, sondern die Sorge um die Zukunft der kommenden Generationen. Was wird geschehen, wenn in einigen Jahrzehnten die Erdölvorkommen erschöpft sind, von denen weltweit das gesamte ökonomische System und das tägliche Leben abhängig sind? Wird es rechtzeitig gelingen, Ersatz zu schaffen? Oder wird es zu unvorstellbaren Verteilkämpfen kommen? Wird man die Luft noch atmen können, ohne krank zu werden? Oder wird man seine Wohnung nur noch mit einer Gasmaske verlassen können? Wird man auch bei uns das Wasser noch trinken können, wo doch schon heute für Milliarden Menschen auf der Erde sauberes Wasser kaum zugänglich ist? Wird die andauernde Klimaveränderung dramatische Auswirkungen haben für das Leben der Menschen? Wird es noch sinnvolle Arbeit geben für die Mehrheit der Menschen oder werden immer mehr Menschen unter dem Eindruck vegetieren, dass sie eigentlich gar nicht gebraucht werden? Werden die heute Geborenen ein halbwegs materiell gesichertes und sorgenfreies Alter erleben? Werden die Menschen verschiedener Kulturen und Religionen den Weg zu einem toleranten und friedlichen Zusammenleben finden? Oder wird es, wie einige befürchten, zum weltweiten clash der Zivilisationen und Religionen kommen mit einer Eskalation der Gewalt, die zunehmend auch unseren Alltag bedroht? "Ob wir nicht noch ... bei dem Wort Freiheit weinen müssen" (Marie Luise Kaschnitz).

 

Fragen über Fragen, Sorgen über Sorgen, die einen Grossvater und eine Grossmutter bewegen,  wenn sie an ihre Grosskinder denken. Was für eine Welt hinterlassen wir ihnen?

 

*

 

Der alte Simeon kennt seine Bibel. Er kennt die alten Verheissungen der Propheten: Gott werde sein Volk nicht im Stich lassen. Er werde ihm den Messias senden; der werde Israel und die Völkerwelt zu Einsicht und Erkenntnis bringen. Die Heidenvölker werde er erleuchten und das Volk Israel von seinem Elend erlösen und zu Ehren ziehen. Simeon glaubt dieser Verheissung. Er glaubt ganz tief und existentiell, er werde nicht sterben, bevor er den Messias Gottes mit eigenen Augen gesehen habe. Und nun arrangiert der heilige Geist das Stelldichein: Er zitiert den Simeon genau auf die Stunde in den Tempel, da die Eltern das Kind Jesus .bringen. Und er flüstert ihm ein: Der ist's, auf den du gewartet hast! Da "nahm er es auf die Arme, lobte Gott und sprach: Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden, wie du gesagt hast. Denn meine Augen haben dein Heil gesehen, das du vor allen Nationen bereitet hast; ein Licht, das die Heidenvölker erleuchtet, und zum Ruhm für dein Volk Israel."

 

Jetzt kann der alte Simeon im Frieden sterben. Er hält den Beweis für Gottes rettendes Tun in seinen Armen. Er weiss: Dieses Kind wird der Mensch der Zukunft sein. Von ihm wird die Erleuchtung ausgehen über die Völkerwelt, und der Friede wird sich ausbreiten auf der Erde. Der alte Mann schaut die Zukunft seiner Kinder und Kindeskinder im Licht, das ausgeht von diesem Kind des Friedens, das er in seinen Armen hält.

*

 

Ach, lieber Simeon, sage ich als Grossvater, der 2000 Jahre später lebt, ach, lieber Simeon, ich gönne es dir von Herzen, dass du in Frieden sterben konntest. Aber wie könnten wir Grossväter und Grossmütter von heute im Frieden sterben, wenn wir an die Zukunft unserer Kinder und Grosskinder denken? Hat denn das Kind, das du in deinen Armen trägst, der Welt wirklich den Frieden gebracht? Vom Licht, das die Völker erleuchtet, ist nicht viel zu merken. Und von der Erlösung Israels auch nicht, obwohl es - oder gerade weil es - wieder einen eigenen Staat hat. Ach Simeon, die Zukunft der kommenden Generationen, die Zukunft unserer Erde ist ungewisser und finsterer denn je.

 

Simeon hat nicht nur ein Loblied gesungen. Zu Maria, der Mutter Jesu, hat er seltsame, dunkle Worte gesagt über ihr Kind: "Siehe, dieser ist zum Fall und Auferstehen vieler in Israel gesetzt und zum Zeichen, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen." Simeon hat geahnt, dass mit der Geburt des Jesuskindes die Welt nicht mit einem Schlag anders sein wird. Er hat geahnt, dass nicht alle den Messias des Herrn, den Menschen des Friedens, mit offenen Armen willkommen heissen, nicht in Israel und nicht in der Völkerwelt. Er werde "ein Zeichen sein, dem widersprochen wird". Die Mächtigen und Gewaltigen dieser Welt werden ihn ablehnen, weil das Gottesreich, das er in Wort und Tat verkündet und lebt, ihre eigene Herrschaft in Frage stellt. Jesus wird für den Frieden mit seinem ganzen Leben einstehen. Maria, die Mutter, der es jetzt warm ums Herz wird, wenn sie ihr Kind in den Armen des alten Mannes sieht, sie wird weinen und klagen vor Schmerz, wenn sie ihren Sohn am Kreuz hängen und sterben sieht: "Dir wird ein Schwert durch die Seele dringen." Und doch weiss Simeon, dass die Verheissung, die über diesem Kind liegt, keine Illusion ist. Was Gott versprochen hat, wird in Erfüllung gehen. Und was mit dem Jesuskind begonnen hat, wird keine Macht der Welt ungeschehen machen.

*

 

Und nun sollte ich Ihnen, liebe Gemeinde, zum Schluss sagen, was ein Grossvater von heute, so er sich mit Simeon verbunden weiss, hoffen und erwarten darf, damit er in Frieden sterben kann. Ich will es versuchen. Zunächst wird er hoffen und sich wünschen, dass seine Kinder und Grosskinder von grosser Not und Elend verschont werden und dass sie freie, mutige und verantwortungsbewusste Menschen sein werden, die nicht nur an sich selbst denken. Darüber hinaus darf er hoffen und darum beten, dass überall auf der Erde Kinder und Kindeskinder da sein werden, für die "Friede" kein leeres Wort und keine Illusion ist, Menschen, die den Messias Jesus in ihrem Herzen tragen und in seiner Kraft für den Frieden leben; Menschen, die auch in finstern Zeiten das Licht sehen und so selber zu einem Licht werden. Er darf darauf hoffen, dass auch morgen Menschen da sind, die im Namen Jesu das Vaterunser beten - "Dein Reich komme, Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden!" - und darauf vertrauen, dass dieses Gebet die Zukunft der Erde und aller Menschenkinder vorausnimmt.

 

Darauf kann der Grossvater vertrauen und deshalb wird er am Ende seiner Tage mit seinem Freund Simeon sagen: "Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden, wie du gesagt hast. Denn meine Augen haben dein Heil gesehen." Amen.

 

 

Gebet

 

Weil Du, Gott, Mensch geworden bist, sind wir Menschen in unserer Verkehrtheit und unserem Elend nicht verloren. Weil Dein Licht in der Finsternis scheint, kann Deine Schöpfung nicht in ewiger Finsternis untergehen. Weil Du alle Not und Schuld getragen hast, werden Not und Schuld uns nicht für immer verschlingen. Weil Du in Jesus, dem Messias, Deinen Frieden auf der Erde eingepflanzt hast, werden Hass und Gewalt ein Ende finden. Weil Du Deine Macht und Ehre verbunden hast mit der Niedrigkeit des Gekreuzigten, werden die Erniedrigten und Toten aufleben und Dich preisen.

 

Darum, Gott, bringen wir vor Dich: Unsere Trauer über das, was Menschen einander antun; unsere Ohnmacht gegenüber so viel Not und Elend; unsere Sorge und Angst über die Zukunft unserer Kinder und der ganzen Erde; alle die schweren Fragen und Zweifel, die uns bedrücken. Wir glauben, dass Dein Licht scheint in der Finsternis. Aber, ach Gott, wir möchten sehen und erleben, dass Dein Licht aufstrahlt für alle, die im Dunkeln sind. Wir möchten erfahren, dass Deine Kraft zur Vollendung kommt in der Schwachheit. Wir möchten dabei sein, wenn Dein Friede die Menschen und die Erde verwandelt. Wir glauben an Jesus, den Messias. Darum erheben wir unsere Herzen zu Dir und bitten Dich in seinem Namen: Vater unser im Himmel ...



Pfarrer i.R. Klaus Bäumlin
Bern
E-Mail: klaus.baeumlin@bluewin.ch

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