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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahr 2015, 01.01.2015

Herr, du hast uns gesandt zu predigen das Gnadenjahr des Herrn
Predigt zu Lukas 4:16-21, verfasst von Karl Wilhelm Rennstich



„Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war
und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und
wollte lesen. Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er
das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht ‚Der Geist des Herrn
ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen;
er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und
den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und
ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.‘ Und als er das
Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der
Synagoge sahen auf ihn. Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses
Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren."


Liebe Gemeinde!
Ein gutes Neues Jahr wünschen wir uns am Morgen des 1. Januar. Sie tun uns gut diese Wünsche ,ob wir sie sagen oder ob sie uns zugesagt werden. Wünsche deuten Wohlwollen an. Festzeit ist  eine von Wohlwollen erfüllte Zeit Wohlwollen stärkt.  Gott selbst provoziert nach den biblischen Berichten Wünsche: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande scheint es hell." Wünsche bringen
Lebenskraft.  Wer wunschlos glücklich ist, hat das Leben bereits aufgegeben.  Lebenskraft kommt oft aus der Erinnerung. Nur so konnte der Pfarrer Kurt Reuber Weihnachten 1942 im Kessel die Stalingrad-Madonna zeichnen.
Erinnerung an Licht, Leben, Liebe, Gottes Wohlwollen  und seine Gnade gebiert Hoffnung und
Lebenskraft  in der Realität des Lebens und darüber hinaus. Profitgier schafft keine Lebenskraft und keinen Mut. Gottes Geschichte provoziert zu neuem Wünschen, das uns ganz und gar verändert, so dass wir selbst neu werden. Der Predigttext zum heutigen Neujahrstag spricht
davon. In Lukas 4,16-21 lesen wir:

„Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht:
Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das
Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie
frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den
Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das
Gnadenjahr des Herrn.‘

Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und alle Augen in der Synagoge sahen auf ihn. Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren."

1. Herr, du hast uns  gesandt zu predigen das Gnadenjahr des Herrn
Das Evangelium den Armen, die Freiheitspredigt den Gefangenen, den Blinden das Sehen, den Zerbrochenen die Befreiung- eine Vision ist das,  eine gefährliche Erinnerung, die alle Verhältnisse umkehrt.
Im Alten Israel gab es die religiöse Einrichtung des so genannten Erlassjahres. Aus der Geschichte Israels wissen wir, dass dieses Jahr ursprünglich verbunden war mit der Tradition des Ackerbaus. Alle sieben Jahre  sollten die Äcker ruhen.  Es durfte nichts angebaut
werden. Also gab es auch keine Ernte. Das Erlassjahr  soll daran erinnern: das Land gehört Gott.  von dem das Leben kommt. Erlassjahr steht für Schuldenerlass,
Hilfe für die Armen und Freilassung der hebräischen Sklaven. Die durch Schulden
versklavten Menschen kamen wieder frei. Das Gnadenjahr ist das göttlich institutionalisierte
Wohlwollen. Es ermöglicht einen neuen Lebensanfang. Die große Befreiung für
Belastete und Gebeugte wird mit der Ankündigung des „Heute" überboten.

"Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war und
ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge. Er stand auf um zu lesen.
" Des Zimmermanns  Sohn kommt wieder einmal heim zu den Eltern. Er ist inzwischen eine berühmte Persönlichkeit geworden. Wie gewohnt geht er am Sabbat in die Synagoge. Er muss nun vorne Platz nehmen und selbstverständlich die Schriftlesung übernehmen. Er liest den
Text aus dem Propheten Jesaja »wo geschrieben steht: Der Geist des Herrn ist
auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er
hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und
den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und
ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«

Aller Augen in der Synagoge seines Heimatortes waren auf ihn gerichtet. Was wird er wohl zu diesem Text sagen? Man hatte seltsame Dinge über ihn gehört. "Den Terrorismus des Geschwätzes" (Gerüchteküche) und die»"mentale Erstarrung", (spiritueller Alzheimer - nennt
es Papst Franziskus - gab es schon zu Jesu Zeiten. Wie wird der »Handwerker-
Theologe und Botschafter des Friedens« Jesus diesen Text auslegen? Charismatisch
oder revolutionär? "Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren"
sagte Jesus. Das erregte ungeheueres Aufsehen. Der weitere Verlauf der
Geschichte zeigt es deutlich: fromme Fundamentalisten waren schon immer bereit
Gottes Gnade nach ihrer Façon  auszulegen. Zunächst waren alle begeistert. Als er
aber sagte: "In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija. (...) Aber
zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei
Sidon". Sie war eine Ausländerin. Als Jesus dann auch noch sagte:"Und viele Aussätzige waren in Israel zu des Propheten Elisa Zeiten; und deren keiner wurde gereinigt denn allein Naeman aus Syrien". Da platzte den Zuhörern der Kragen. "Sie standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn auf einen Hügel des Berges, darauf ihre Stadt gebaut war, daß sie
ihn hinabstürzten. Aber er ging mitten durch sie hinweg."


2. Ausländer rein
Die Worte Globalisierung, Rezession, Wirtschaftskrise, Klimawandel, Korruption und die Bilder der fliehenden Frauen und Kinder, der Vertriebenen auf der Suche nach Wasser, Brot und einem schützenden Zelt schreien heute noch zum Himmel. In der Tat gibt es Menschen,
denen das Wünschen vergangen ist. Gelernt haben sie den Kampf ums Überleben
oder die Resignation. Wünsche können absterben oder stumpf werden. Sie können
aber auch neu belebt werden durch den Stern der Gotteshuld, den des Sterngöttlichen
Wohlwollens.

"Der letzte Christ" nannte Adolf Holl sein Buch über Franz von Assisi. Für Hans Norbert
Janowski ist Franz von Assisi der Inbegriff »Ökologische(r) Brüderlichkeit« und
ein aus Argentinien in das Land seiner Väter zurückgekehrter Papst wählt genau
diesen Namen, um anzuzeigen, wie er sein päpstliches Amt versteht. Franz von
Assisi war nicht der letzte Christ. Immer und immer wieder taucht der Nazaräer
in unterschiedlichen Gestalten unter uns Menschen auf und zeigt uns »wo`s lang
geht". Nicht nur die Kurie in Rom, wir alle sind nach den Worten des Franziskus
»dazu aufgerufen uns zu verbessern und in Gemeinschaft, Heiligkeit und Weisheit zu  wachsen«.
 

Wenn die Inländer nicht verstehen wollen ruft Gott andere  

Papst Benedikt erinnerte an Giuseppina Bakhita. Sie war ungefähr 1869 in Darfur im Sudan
geboren. Mit neun Jahren wurde sie von Sklavenhändlern entführt, blutig
geschlagen und fünfmal auf den Sklavenmärkten des Sudan verkauft. Zuletzt war
sie als Sklavin der Mutter und der Gattin eines Generals in Diensten und wurde
dabei »täglich bis aufs Blut gegeißelt, wovon ihr lebenslang 144 Narben
verblieben.« Sie wurde schließlich 1882 von einem italienischen Händler für den
nach Italien zurückgekehrten italienischen Konsul Callisto Legnani gekauft.

Nun lernte Bakhita einen ganz anderen ,,Patron'' kennen -
,,Paron'' nannte sie in dem venezianischen Dialekt, den sie nun lernte, den
lebendigen Gott, den Gott Jesu Christi. Im Gegensatz zu den bisher gekannten
Patronen, die sie verachteten, misshandelten und bestenfalls als nützliche
Sklavin betrachteten, erfuhr sie, dass der Herr aller Herren die Güte selbst
ist. Sie erfuhr, dass dieser Herr sie kennt, sie geschaffen hat und sie liebt.
Dieser Patron hatte selbst das Schicksal des Geschlagenwerdens auf sich
genommen und wartete nun ,,zur Rechten des Vaters'' auf sie.
Durch diese Hoffnungserkenntnis war sie ,,erlöst''. Sie war ein
freies Kind Gottes ,weil sie Gott kennen lernte. So fand auch sie eine neue
Hoffnung. Am 9. Januar 1890 wurde sie getauft und gefirmt und empfing die erste
heilige Kommunion aus der Hand des Patriarchen von Venedig. Am 8. Dezember 1896
legte sie in Verona die Gelübde der Canossa-Schwestern ab. Neben ihren Arbeiten
in der Sakristei und an der Klosterpforte "rief sie in verschiedenen Reisen in
Italien zur Mission auf." Die Befreiung, die sie selbst durch die Begegnung mit
Jesu Christi empfangen hatte, sollte auch möglichst vielen anderen geschenkt
werden. Ebenso sollte die Hoffnung, die sie ,,erlöst'' hatte, zu allen kommen.

Walter Benjamin (1892- 1940) nennt den neuen Glauben Europas „Kapitalismus". Im
Zusammenhang der Auslegung des Ersten Gebots der Bibel: „Ich bin der
Herr, Dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir ha­ben,"  kommt er in den 1920er Jahre immer mehr zur Erkenntnis, dass der Kapitalismus die" neue Religion des 20. Jahrhunderts" zu werden beginnt.

Der in Berlin geborene jüdische Schriftsteller, Essayist, Literaturkritiker und
Wissenschaftler Walter Benjamin starb durch Freitod kurz vor der Verhaftung
durch die Gestapo in Port Bou (Spanien) am 27.9. 1940 Für Benjamin bedeutete Religion „die konkrete Totalität von Erfahrung". Für Benjamin ist der Kapitalismus die alles umfassende Erfahrung, die keine andere Erfahrungen mehr zulässt. Da alles in einer ökonomischen
Funktion steht, beerbt der  Kapitalismus, was einst Religion genannt wurde. Der neue Missionsauftrag heißt nun: „Wachset und mehret" (das Kapital). Kaufen und besitzen wird nun zum eigentlichen Vollzug dieser neuen Religion. Es gibt keine „Ruhetage der Besinnung". An die Stelle der Vergebung der Schuld tritt nun die universale Verschuldung als Grundlage eines neuen Credo (ich glaube an) mit dem Namen Kredit und Konsum. Der Kapitalismus macht Schulden zum  neuen Weltgesetz. Das Menschenschicksal  wird darin einbezogen. Der »Übermensch« hat gelernt, mit seiner Schuld zu leben. Er braucht nicht, wie der mit dem
Nazarener im lebenslangen Kampf verbundene Pfarrersohn Friedrich Nietzsche uns
lehrte, „umkehren" oder „sich bekehren". Er muss sich also nicht entscheiden
zwischen Gott und dem Mammon.  Der Übermensch erwählt sich selbst als Gott, denn "Gott ist tot".
Nach  Albert Schweitzer (Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. Verlag C.H. Beck. 1997 (7. Auflage). ISBN 3-406- 35779) zeigt sich die gewissenlose Gesellschaft als neue Form des Übermenschen Die Verantwortungslosigkeit des Übermenschen. Der Niedergang des moralischen Gewissens sei dadurch gefördert worden, dass eine Trennung von Täter und dem immer auf seinen Vorgesetzten sich berufenden Befehlsgeber stattfinde. Hier trete unmerklich die zweite Ordnungshöhe des Übermenschen in
Erscheinung. Das System Mensch und das System Staat nehme eine neue Gestalt an.
Der Mensch wird  zum gewissenlosen Erfüllungsautomaten . Er  wurde
geschaffen zu wachsen und sich lebenslang zu entfalten. Nun wird er Teil einer
leblosen  Maschine, erfüllt irgendeine Aufgabe, die jederzeit  ein anderer lebendiger Automat übernehmen kann.  
Seine Belohnung ist die Entmenschlichung. Das Individuum wird Zum
Erfüllungsgehilfen staatlichen Interesses  wie Rudi Zimmerman in seine Gesellschaftsphilosoph (Juli 2012) so eindrücklich beschreibt.Jesus sagte in Nazareth: »Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren«  Er fordert uns auf, entweder für den lebendigen und wahren Gott (Jahwe) oder für den falschen Gott Mammon sich zu entscheiden. Glaube und Entscheidung gehö­ren zusammen. Juden, Christen und Muslimen nennen die „Beigesellung" Gottes (keine anderen Götter neben mir haben) Unglauben. Glaube und Vertrauen  (pistis)  setzen Gott ins Zentrum. Religion ist  nicht neutral.  Auch der Glaube an den Geld- Gott ist  Credo (ich glaube) wie
der Glaube an den Schöpfer Himmels und der Erden.

Amen.

 

Kirchenrat Prof.em.Dr. Karl Wilhelm Rennstich
Reutlingen
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