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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Silvester, 31.12.2014

Er wird ein Knecht und ich ein Herr
Predigt zu Lukas 12:35-40, verfasst von Sibylle Rolf

 

Liebe Gemeinde,

Simon unterdrückt ein Gähnen. Er stößt Markus in die Rippen. He, nicht einschlafen, sagt er. Das kannst du nicht bringen, sonst gibt's Ärger. Immer auf Habacht-Stellung musst du sein. Schließlich hast du hier nicht das Sagen. Die beiden sind Sklaven und kauern an der Tür. Ihr Herr ist bei einer Hochzeitsfeier eingeladen und hat verfügt, dass sie ihn erwarten sollen, wenn er nach Hause kommt. Wer weiß, wozu er sie noch braucht.

Markus schüttelt und reckt sich. Er reibt sich die Augen. Immer wieder wollen sie zufallen. Aber ich bin so müde, stöhnt er. Wir haben doch schon den ganzen Tag geschuftet. Das Haus sauber gemacht, gekocht, gebacken und Speisen aufgetragen. - So ist es halt, sagt Simon. So ist eben das Leben. Ach, sagt Markus, früher war alles besser. Da musste ich nicht einem anderen zu Willen sein. Ich war frei. Und vor seinem inneren Auge entsteht eine Vergangenheit, in der er glücklich war. Frei. Er ist sich nicht sicher, ob es diese Zeit wirklich gab. Aber es tut gut, davon zu träumen. - Wer weiß, sagt Simon. Vielleicht wird ja auch bei uns bald alles besser. Wenn die Arbeit geschafft ist. Wenn endlich alles erledigt ist und wir uns ausruhen können. Da werden wir vielleicht endlich wieder glücklich sein. Beide versinken in Schweigen.

Simon lässt seine Gedanken schweifen. Wie schön wäre es, denkt er, nicht nur aus Angst vor der Strafe wach zu bleiben. Wie schön wäre es, etwas zu erwarten, auf das ich mich wirklich freuen könnte! Wenn ich nicht mehr von einer goldenen Zukunft träumen müsste, um meine Gegenwart erträglich zu machen. Wenn mich meine Vergangenheit nicht mehr ständig beschäftigen würde. Er kramt mit einer Hand in seinem Gewand. Neulich hat er jemanden getroffen, der ihm eine Notiz zugesteckt hat. Da ging es auch um Knechte und Herren, auch um Warten und Bereitsein. Nach längerem Suchen hat er das Stückchen Papyrus gefunden. Er entkrumpelt es und liest langsam, Wort für Wort.


Lukas 12,35-40

35 Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen 36 und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun. 37 Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. 38 Und wenn er kommt in der zweiten oder in der dritten Nachtwache und findet's so: selig sind sie. 39 Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausherr wüsste, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er nicht in sein Haus einbrechen. 40 Seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint.

Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen. Die ersten Worte klingen in Simon nach. Er denkt an eine alte Geschichte. Auch die hat mit Warten, mit Freiheit und Knechtschaft zu tun. Seine Eltern haben sie ihm oft genug erzählt, er ist Jude wie sie. In der Nacht des Auszugs aus Ägypten sollten die Israeliten bereit sein. Schuhe an den Füßen haben. Ihre Lenden umgürtet haben, damit das Gewand nicht stört, wenn man eilig gehen muss. Ein Licht bei sich haben, damit sie sich in der Nacht orientieren können. In dieser Nacht sind sie losgezogen, aus der Knechtschaft in die Freiheit, ins Leben hinein. Auch sie haben gewartet, bis es losgeht. Und dann sind sie aufgebrochen in die Zukunft. Losgegangen.

Die Lenden umgürtet haben, denkt Simon, das zeigt so eine Art innere Bereitschaft. Wenn man damit rechnet, dass es jeden Moment losgehen kann. Wahrscheinlich haben sie so auch am Tisch gesessen. Nicht angelehnt, sondern auf der Stuhlkante, damit sie jederzeit aufspringen konnten. Wie muss das gewesen sein, fragt er sich. So bereit sein loszugehen, aufzubrechen. Sie konnten sich nicht allzu viele Gedanken darüber machen, was gestern war. Sie mussten alles hinter sich zu lassen. Und es hat nicht viel gebracht, sich den Kopf über das Morgen zu zerbrechen. Das Warten auf den Aufbruch muss sich in ihrer ganzen Körperhaltung ausgedrückt haben. Gespannt. Aufmerksam. Ganz Ohr, um den Ruf zum Aufbruch nicht zu verpassen.

Simon blickt seinen Kollegen Markus an. Worauf warten wir eigentlich?, fragt er sich. Dass unser Arbeitstag endlich beendet ist? Auf die Rente? Und wenn wir sie dann erreicht haben - sind wir dann glücklicher? Freier? Und wie wir hier so sitzen und auf unseren Herrn warten - sind wir ganz Ohr, um ihn nicht zu verpassen? In meine Gedanken schieben sich immer wieder Bilder aus den letzten Tagen und Wochen, Monaten und Jahren. Mir geht noch durch den Kopf, wie ich mich vorhin mit Sarah gestritten habe, wer den Krug zerbrochen hat. Manchmal beschäftigt mich noch der Unfall meines Sohnes. Und der Tod meines Vaters. Die Geister aus der Vergangenheit werde ich nicht los. Und manchmal träume ich von einer Zukunft, in der alles besser wird. In der ich mich nicht mehr so abhetze und meine Ruhe habe.

Wie mag es unseren Vorfahren gegangen sein in dieser Nacht?, fragt sich Simon. Haben sie vor ihrem inneren Auge die ägyptischen Baustellen gesehen und das Pfeifen der Peitschen gehört? Oder haben sie sich ausgemalt wie es sein würde, in der Freiheit, mit so kräftigen Farben, dass sie am Ende nur enttäuscht sein würden? Haben sie wirklich in dieser Nacht das Gestern loslassen und das Morgen getrost dahingestellt sein lassen können? Waren sie wirklich bereit zum Aufbruch, wann auch immer genau es losgehen sollte? Ganz bereit? Ganz Ohr?

Wie ginge es mir?, fragt Simon sich. Würde ich die Gefahren der Wüste fürchten oder das reichliche Essen in Ägypten betrauern? Würde ich mich auf einen Aufbruch ins Ungewisse einlassen, allein weil mir jemand verspricht, dass am Ende ein Leben in Freiheit steht? Und was würde mir dabei helfen? Er wiegt seinen Kopf. Es muss mit Vertrauen zu tun haben, denkt er. Vertrauen, dass der, der zum Aufbruch ruft, auch vertrauenswürdig ist. Dass er niemanden im Stich lässt und dass es sich lohnt, mit ihm zu gehen. Vielleicht ist es auch das gemeinsame Essen, das den Menschen in dieser Nacht damals gut getan hat. Die Gemeinschaft und die Stärkung. Die gegenseitige Vergewisserung. Niemand von uns ist allein. Vielleicht macht das unser Leben ja manchmal so mühsam. Dass wir uns allein wähnen und uns zu selten unserer Gemeinschaft miteinander vergewissern. Jeder in seinen Sorgen und Mühen gefangen... vielleicht brauchen wir darum auch die goldenen Zeiten - früher war alles besser, oder später wird alles besser sein, weil uns unsere Gegenwart so trostlos und einsam erscheint...

Es könnte auch ganz anders sein, denkt Simon. Noch einmal liest er den kleinen Streifen Papyrus. Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen. Vor seinem Auge entsteht ein neues Bild. Knechte, die auf ihren Herrn warten, der auf einer Hochzeitsfeier eingeladen ist. Wie Markus und er. Die dann aber nicht dem Herrn auftragen müssen, der zu Tisch liegt. Knecht, die ihren Herrn nicht bedienen müssen, ihm kein Bad einlassen und ihm nicht aus den Kleidern helfen, sondern die erleben, wie der Herr sein Obergewand ablegt und sich eine Schürze umbindet. Wie er sie an seinen Tisch bittet und ihnen dient. Ich habe es mir gut gehen lassen, sagt er vielleicht zu ihnen. Jetzt seid ihr dran, dass ich euch diene. Und aus den Knechten werden Freunde. Sie begegnen sich auf Augenhöhe. Sie essen miteinander und erleben Gemeinschaft.


Wenn das geschieht, wollen die Knechte nicht einfach ihre Ruhe haben und sehnen das Ende des Arbeitstages herbei, sondern sind voller Vorfreude, dass er endlich kommt. Auch mitten in der Nacht, zur zweiten oder dritten Nachtwache. Denn sie wollen miteinander feiern, seine Geschichten hören, es sich gut gehen lassen. Sie können es gar nicht erwarten, dass er wiederkommt. Wie mögen solche Knechte da sitzen, wenn sie auf die Rückkehr ihres Herrn warten? Und welche Gedanken mögen sie in ihrem Kopf bewegen? Gespanntheit vielleicht und Vorfreude. Das muss sich bis in die Körperhaltung hinein zeigen. Wie beim Aufbruch in die Freiheit in jener Nacht. Die Lenden sind umgürtet und die Lichter brennen.

Überraschend, denkt Simon und malt sich dieses Bild aus. Ein Herr, der seinen Knechten dient und der seine Knechte zu Freunden macht. Innerlich singt er: Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein. - Er stockt. Das gibt es doch eigentlich gar nicht. Wie kommt ein Hausherr dazu, so mit seinen Knechten und Mägden umzugehen? Das muss er doch gar nicht tun, dazu ist er doch gar nicht verpflichtet. Simon findet keine abschließende Antwort auf die Frage Warum. Er muss es wohl freiwillig tun, denkt er. Vielleicht liegen sie ihm am Herzen. Vielleicht liebt er sie sogar. Jedenfalls ist er bereit, neue Wege mit ihnen zu gehen. Etwas Neues mit ihnen zu beginnen. Und auf einmal wird die Knechtsgeschichte zur Freiheitsgeschichte. Zur Geschichte, in der erzählt, geteilt, gefeiert wird. In der einer dem anderen gut ist. Ihn gut sein lässt. Es sich mit ihm gut gehen lässt.

Simon träumt weiter. Wenn ich mir etwas wünschen darf, denkt er, so ist es vor allem eines: Geborgenheit. Einer, der für mich sorgt. Der mir die Suppe kocht und den Becher mit Wein füllt. Der mir eine Kerze anzündet und vor seinem Bauch einen Laib Brot hält, von dem er dicke Scheiben abschneidet. Nahrung für die Seele. Bei dem ich mich sicher fühlen kann. Bei dem ich spüre: er bereitet mir den Tisch, auch im Angesicht meiner Feinde. Er schenkt mir voll ein. Er meint es gut mit mir. Und er sieht den Menschen, den Freund in mir, nicht den Knecht, nicht die Funktion, die ich für ihn habe.

Woher kam die Notiz noch einmal?, fragt sich Simon. Richtig, Lukas, ein Bekannter aus dem übernächsten Haus, hat ihm das Stückchen Papyrus zugesteckt. Es kommt aus seinem Buch. Lukas nennt es Evangelium. Das Buch erzählt von einem, der Herr war und zum Knecht wurde, weil er es so wollte. Der gekommen ist, um zu dienen und sich zu verschenken, sich hinzugeben für viele. Einen Geborgenheitsraum zu schaffen. Für viele zu sorgen und ihnen einen Tisch zu bereiten. Lukas sagt, wir können ihn erfahren, immer wieder. Er lädt alle an seinen Tisch, weil er sie alle bewirten und ihnen dienen will. Und einst wird er wiederkommen, und dann wird er allen in allem dienen.

Simon weiß: in seinem Leben wird es nicht immer so sein, dass der Herr den Knechten dient. Immer wieder wird er sich bereit halten müssen, um auf seinen Herrn zu warten. Das ist halt seine Aufgabe. So geht es im Leben eben zu. - Aber das andere auch zu erwarten, mit dem anderen auch zu rechnen: damit, dass alles schon anders geworden ist, neu, weil es einen gibt, in dessen Dienst, in dessen Liebe er sich bergen kann und von dem er sich dienen lassen kann - das erfüllt seinen Weg mit Zuversicht und seine Gegenwart mit Hoffnung. Er muss vielleicht nicht von der goldenen Vergangenheit träumen, damit die Gegenwart erträglich wird. Und er muss sich keine rosige Zukunft herbeisehnen. In der Erwartung des Augenblicks liegt wohl die Verheißung. Amen.

 



Pfarrerin PD. Dr. Sibylle Rolf
Oftersheim
E-Mail: sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

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