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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Silvester, 31.12.2014

Wenn es Zeit ist
Predigt zu Lukas 12:35-40, verfasst von Wolfgang Petrak

Liebe Gemeinde,

wir warten. Am Ende des alten Jahres. Darauf ist alles ausgerichtet. So
unterschiedlich wir auch sind, stimmen unsere Gedanken darin überein, zu
warten. Und sind uns auch darin ganz sicher, dass das Neue Jahr kommen wird, können
den Zeitpunkt genau ausrechnen, seien es, je nachdem vom Standpunkt aus, Tage,
Stunden oder Minuten. Selbst in diesem Gottesdienst wäre es möglich, einen
heimlichen, aber gewohnten Blick auf die Uhr oder das Smart - Phone zu werfen,
wäre es nicht eher unschicklich, hier jetzt im Kerzenlicht das Zifferblatt
abzulesen. Trotzdem könnte man es nicht ganz genau feststellen, wann es sein
wird: das Neue Jahr. Es ist das Messen selbst, das im Prinzip  das Maß der Unsicherheit enthält und Fehler
in sich birgt. Je größer die Genauigkeit, desto größer die Wahrscheinlichkeit
der Abweichung. Trotzdem sind wir ganz sicher: Es wird kommen.

Und wie es mit ihm?

Das Neue Jahr. Seinen Namen trägt es trägt nicht. Anno Domini ist eine Inschrift in
alten Fachwerkhäusern, deren Balken krumm und schief sind von der Last der
Zeiten. Warum hat in unserer Kultur (anders als in China) ein Jahr eigentlich
keinen Namen, sondern Ziffern?  2015.
Damit werden auch Autokennzeichen beziffert. Oder Schulden. Oder sonst was.
Doch wenn wir dieses Jahr zurückblicken, dann spüren wir, wie besonders es  gewesen ist und deshalb  einen Namen verdient hätte, mit dem man das
Gewesene nicht nur einfach  aufrufen
kann, als ginge es um eine Bestandsaufnahme, sondern so, dass es sich anreden
lässt und dass von ihm aus weiter erzählt werden könnte. Wie es uns, einen
jeden, eine jede für sich geprägt hat, nicht vergessen lässt,  wie Spuren der Trauer uns gezeichnet haben und wie andererseits Augenblicke des Glücks einen getragen haben und es immer noch tun. Obwohl es zugleich Ängste gibt vor den weltweiten jäh aufbrechenden
Konflikten voller Gewalt und Hass. Aber Lösungen scheinen nicht wirklich zu
erwarten sein, sodass die Zeit selbst die Wunden...wirklich? Im persönlichen
Bereich hingegen: „Doch,  doch, da ist alles im Lot, man kann nicht meckern, und 
von der Zukunft erhoffe ich mir, dass alles so bleibt"... Nein? Denn sie
ist weit, die Zukunft,  und offen und unbekannt.

Was kann kommen?
Wir erwarten. Das neue Jahr möge sich also an das alte anschließen und dort, wo es
aus eigener Sicht gut war, das Vergangene fortführen. Aber es möge auch das,
was unerträglich war, in der Vergangenheit belassen, abgeschlossen und somit
abgesichert sein lassen: was vergangen ist, soll vergangen bleiben...Nein? Denn
das vergangene Jahr war so vielfältig, unüberschaubar reich, so das man es kaum
fassen und zu Begriff bringen kann, es will nicht abgelegt werden, es will
immer über sich hinaus weisen und will befragt werden, will entdeckt und
werden.

Und was mache ich?

Es ist eigenartig: Immer muss ich am Silversterabend ‚Dinner For One' sehen, bin damit
selbst ein Teil der ,procedure of every year‘, weiß noch, wie wir uns in der
selben Zeit, also  in einer Zeit, in der
selbst die Tagesschau noch in dem gleichen trüben Schwarz-Weiß gesendet wurde
wie dieser hintergründige Film über Miss Sophie und Butler James, also wie wir
uns daran erfreut haben und in jedem Jahr etwas Neues entdeckt haben, zum
Beispiel den gelungenen Sprung über den ausgestopften Tigerkopf-. Die
Bewegungen des in vielen Dienstjahren ergrauten Butlers entsprechen denen eines
einjährigen Kindes, das gerade Laufen gelernt hat und nun seine Schnabeltasse
vorsichtig durch das Wohnzimmer balanciert: es ist Ausdruck scheinbarer
Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Lebensaltersstufen und deshalb verwirrend und
komisch, wie im sich abmühenden Greis das  entdeckende und fröhlich erobernde Kleinkind zum Ausdruck kommt; genau wie die (wie man im Englischen zu sagen pflegte) verewigten Mister Pommeroy und Winterbottom und Admiral van Snyder, nicht zu vergessen Sir Toby präsent sind und an der festlich eingedeckten Tafel mithalten, bis sich die
Männergesellschaft infolge der Aufwartung im Chaos auflöst, während Miss Sophie
sowohl Form wie auch letztlich im Prinzip Anstand zu waren weiß, obschon James
am Ende sie die Treppe hinaufzugeleiten hat, was ihn veranlasst, nochmals die
berühmte Frage nach dem Vorgehen und dem letzen Jahr zu stellen, um nach ihrer
Antwort treuherzig zu versichern: „Well, i do my very best". The same
procedure. Am Ende bleibt es, wie es immer gewesen ist. Die Begegnung und das
Leistungsvermögen kennen in der Feier der immer gleichen Gegenwart keine
Grenzen, keine Zeit. Zu komisch. Doch in der Komik verbirgt sich ein Ideal der
Moderne, in der sich Zeitlosigkeit und Potentialität miteinander verbinden. Im
Grund genommen kehrt in Butler James die Faust-Dichtung wieder, zu dem gesagt
wird: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen" Die Erwartung an
sich selbst und nicht die Erwartung an die Zeit soll vor den Mächten einer sich
permanent wiederholenden Gegenwartskultur bewahren, also vor jener Haltung, die
zum Augenblick gesagt hat: „Verweile doch, Du bist so schön". Was aber, wenn
James nicht mehr kann? Was, wenn die fortschreitende Zeit das Vergangene nicht
mehr einfach fortschreibt; was, wenn es Brüche  der erhofften Kontinuität gibt, hart und jäh und unverhofft?

Was also ist, wenn es plötzlich Zeit ist?

Habt
ihr über all den festlichen, fröhlichen, vielleicht auch besinnlichen Gedanken zurzeit
noch im Ohr, wie in der Bibel gesagt wird, dass er kommen wird wie ein
Einbrecher? Wer je einen Einbruch erlebt hat, weiß, wie schrecklich das ist.
Weil alles, was Bestand haben sollte, infrage gestellt ist, selbst das, was
noch vorhanden und scheinbar unberührt an seinem Platz steht,  von dem Einbrecher berührt und unter seine Verfügungsgewalt gestellt sein konnte. Dann ist nichts mehr, wie es war. Selbst wenn es ganz normal aussieht, ist es anders. Mit seinem Kommen wird es anders. Kann
ich noch warten?

Habe ich gelernt zu warten: nicht auf das, was anders ist, sondern auf ihn, der anders
ist?.

Was weiß ich von jenen Ungeduldigen, die nicht mehr schweigen wollen. Vielleicht
weil sie von dem eigenen Anspruch, für sich das Beste zu tun und rauszuholen,
was möglich ist, überfordert sind. Vielleicht, weil sie sich ausgegrenzt und
unterlegen fühlen. Vielleicht, weil ihre Meinung nicht gehört wird. Aber reden
wollen sie auch nicht, weil das, was sie sagen wollen, ihrer Meinung nicht
gehört wird, insbesondere nicht von den Politikern und von denen, die ihrer
Meinung nach das Sagen haben. Die sich seit Wochen montags vor der Semperoper
treffen, zunächst treuherzig zum Singen von Weihnachtsliedern einladen und frömmelnd
über Facebook fragen lassen: „Und du bist auch mit dabei? Öffnet alle eure Herzen und lasst das Licht euch wärmen, in dieser kalten Zeit". Und dann geht es los. Es wird eingeheizt: „Wir sind das Volk". Sie beanspruchen für sich eine Einheit, indem sie andere ausschließen. Sie
sagen: „Wir sind gegen die Überfremdung Deutschlands" -und nehmen jene dumpfe,
nicht an der Wirklichkeit gemessene Parole auf, die in der Entstehungszeit des
Nationalsozialismus eine so furchtbare Rolle gespielt hat. Weil sie diese sich
abschließende, dumpfe Einheit wollen, zielen sie zugleich auf Gefühle der Angst
und sichernder Gemeinschaft. Sie leugnen die Wirklichkeit. Einfache Symbole
helfen dabei. The same procedure. Dieses Mal aber nicht als Komik, sondern als
bitterer Ernst. Sie sagen, sie wollen unsere jüdisch-christliche Kultur, mindestens
aber das Weihnachtsfest, vor islamischer Überfremdung schützen und tragen
deshalb auf ihren stummen Demos neben Deutschlandfahnen und Fackelbanner auch
das Kreuz mit sich. Doch so wird  er nicht kommen. Niemals. Denn sein Kreuz, das er auf sich genommen hat, grenzt nicht aus. Viel mehr: es steht für die Versöhnung. Deshalb er ist als Kind in die Tiefe der Welt und ihrer Zeit gekommen, in Armut; er war, so wird erzählt, mit
seinen Eltern auf der Flucht.

Seine Sprache wäre mir fremd, hätten nicht andere für mich übersetzt haben und in den
Gottesdiensten seiner Religion könnte ich mich nicht bewegen, weil ich die
Zeichen und Vorstellungen nicht teile. Dass vier schreckliche Tiere mit
eisernen Zähnen und Klauen und vierfachen Köpfen und Hörnern mit Augen
gegeneinander kämpften bevor vor Abertausenden die Bücher offen gelegt und
Gericht gehalten wurde, bevor „einer mit den Wolken des Himmels wie eines
Menschen Sohn kam (Daniel 7,13)- dies kann ich eigentlich ehrlich gesagt nicht
glauben, weiß es aber einzuordnen, wie man es mir mal erklärt hat, also in die
spätjüdische Apokalyptik, in die Zeit des 2. Jahrhundert vor Christus; aber
auch er selbst ist durch die Vorstellungen und Bilder dieser Zeit geprägt und
hat seinen Auftrag in ihnen gegründet gesehen, hat im Stil der prophetischen
Gottesrede davon gesprochen, dass der Menschensohn kommen wird. Was soll das
Gelernte? Nicht um das Einordnen geht es, sondern um das Aufbrechen. es nicht
anders als so verstehen können, dass die Zeit in ihrem Gleichmacht und die Welt
in ihrem Machtgefüge bricht, und dass er es ist, der da kommen soll. Er ist
nicht der, über den Informationen gesammelt werden können. Seine
Lebensgeschichte ist nicht umfassend zu klären, Seine Zeit ist nicht
auszurechnen, seine Stunde ist nicht abzuzählen, Und trotzdem ist er einfach
da, will für Dich und mich kommen, auch wenn es uns schwer fällt zu glauben,
was irgendwo geschrieben steht, will sein Brot des Lebens geben, wenn die
Beschleunigungen unserer Zeit uns hungern lässt, will sein Ziel des versöhnten
Lebens uns klar vor Augen stellen, wenn Ansprüche und Interessen unsere Sinne
vernebeln. Es ist so, dass er unseren geschlossenen Zeitrahmen selbst öffnet.

Nein, wir auf einen anderen brauchen wir nicht zu warten.

Was wir tun müssen?

Wach müssen wir sein. Bereit loszugehen und sei es über die Straßen und über die
Berge und durch die Täler, um an dem Mal teilzunehmen, bei dem er aufwartet.
Das hat schon lange angefangen, aber immer können wir noch dazu kommen. Laut müssen
wir sagen: Keiner wird ausgegrenzt. Das wird ein Fest.

Was wir tun können?
Eine Freundin erzählte mir, dass sie auf  dem
Friedhof die Grableuchte entzünden wollte. Sie hatte aber als Nichtraucherin
keine Streichhölzer. Sie fragte eine unbekannte Frau, die still vor  einer anderen Grabstelle stand. Dort leuchte eine dieser Lampen, die immer brennen. Die Frau schüttelte zunächst den Kopf, dann aber nahm sie, ohne etwas zu sagen, ein Stück Papier aus der Tasche,
drehte es zu einer kleinen Fackel zusammen, zündete sie an der Lampe an und gab
ihr das Licht weiter. „Weißt Du", sagte die Freundin, „in Ruanda sagt man: Wenn
Du Licht brauchst, kannst Du zum Nachbarn gehen. Du wirst Freunde finden".

Was also wir tun dürfen?

Warten. Und: Hoffen.

Amen.



Pfarrer i.R. Wolfgang Petrak
Göttingen
E-Mail: w.petrak@gmx.de

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