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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahr 2015, 01.01.2015

Ein Gnadenjahr
Predigt zu Lukas 4:16-21, verfasst von Güntzel Schmidt

Liebe Gemeinde,
nachdem
gestern das alte Jahr mit dankbaren oder kritischen Rückblicken, mit viel
Alkohol und großer Knallerei verabschiedet wurde, sind wir heute Morgen -
vielleicht nicht ganz ausgeschlafen - zusammengekommen, um einen Blick nach
vorn zu werfen auf die weite Fläche Zeit, die das neue Jahr 2015 vor uns
ausbreitet. Gute Vorsätze wurden gestern Nacht für das neue Jahr gefasst. Pläne
für 2015 sind schon längst geschmiedet worden, und zahlreiche Termine stehen
bereits fest im Kalender. Manche haben das neue Jahr vollständig verplant.
Seine weite, unbeschriebene Fläche Zeit ist längst parzelliert und eingezäunt;
für Wildwuchs, für Unvorhergesehenes ist da kein Platz mehr.

Andere
wiederum haben keine Termine, nicht einmal einen Kalender, und wissen doch
schon, was ihnen im neuen Jahr bevorsteht: Ein weiteres Jahr der Einsamkeit.
Ein weiteres Jahr voller Mühsal und Beschwerden, die das Alter mit sich bringt.
Ein weiteres Jahr vergeblicher Bemühung um Arbeit, demütigender Erfahrungen in
der Arbeitsagentur, im Sozialamt, bei Bewerbungsgesprächen. Ein weiteres Jahr
des Wartens auf die große Liebe, auf die Genehmigung des Asylantrages, auf die
Heilung von einer Krankheit, auf das Ende der Haftstrafe.

Die
einen wie die anderen wissen schon jetzt, was das neue Jahr ihnen bringen wird.
Und alle sehen sie mit gemischten Gefühlen, dass das neue Jahr so wenig Raum
für Ungeplantes und Überraschendes lässt.


Am
ersten Tag des neuen Jahres hören wir noch einmal das Evangelium, den
Predigttext für den Neujahrstag, bei Lukas im 4. Kapitel und fragen uns dabei,
welche Perspektive es uns für das neue Jahr eröffnet:
"Jesus kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war. Er ging nach seiner Gewohnheit am
Sabbat in die Synagoge und stand auf, um zu lesen. Da reichte man ihm das Buch
des Propheten Jesaja. Und als er die Buchrolle aufrollte, fand er die Stelle,
wo geschrieben stand:

  ‘Der Geist Gottes ist auf mir,
  weil er mich gesalbt hat, Armen gute Nachricht zu bringen.

  Er hat mich gesandt, Gefangenen die Entlassung aus der
  Gefangenschaft zu verkündigen,
  Blinden die Wiedererlangung des Gesichts,

   Unterdrückte in Freiheit zu setzen
   und ein von Gott begünstigtes Jahr auszurufen.'

Als er die Buchrolle zusammengerollt und dem Küster übergeben hatte, setzte er
sich. Aber aller Augen in der Synagoge blickten gespannt auf ihn. Da hob er an
und sagte zu ihnen: ‘Heute hat sich diese Schriftstelle erfüllt, weil ihr sie
gehört habt.'"

(Eigene Übersetzung)

Das
Evangelium schildert eine ähnliche Situation wie die, die wir gerade erleben:
Jesus predigt im Gottesdienst über einen biblischen Text - mit dem Unterschied,
dass er nicht so viele Worte macht wie ich, sondern nur einen einzigen Satz
sagt. Und dass ich nicht Jesus bin.

Jesus
sagt diesen einen Satz: ‘Heute hat sich diese Schriftstelle erfüllt, weil ihr sie gehört habt.'

Beim
ersten Hören meint man, Jesus beziehe damit die Worte Jesajas auf sich: "Heute
hat sich erfüllt" meint, dass Jesus derjenige ist, von dem die Worte Jesajas
reden. Auf ihm liegt Gottes Geist; er wird kurz vor seinem Tod am Kreuz durch
eine Prostituierte gesalbt. Jesus heilt Blinde und verkündigt den Armen das
Evangelium.


Und
doch wäre es ein bisschen mager, wenn Lukas diese Geschichte nur erzählte, weil
Jesus sich darin sozusagen "geoutet" hat als der, den die Bibel
weissagt. Vor allem für uns wäre es ein bisschen wenig, wenn es in dieser
Geschichte allein darum ginge. Denn was sie erzählt, ist schon lange her und
hat mit unserem alltäglichen Leben, mit dem vor uns liegenden Jahr 2015, nichts
zu tun.

Genau
genommen haben auch die Worte aus dem Propheten Jesaja, die Jesus vorliest,
nichts mit uns zu tun - nicht einmal mit seinen Zuhörerinnen und Zuhörern
damals. Jesaja richtete sie - ein halbes Jahrtausend vor Jesus - an das
Volk Israel, das in der babylonischen Gefangenschaft vor einem weiteren Jahr
des Exils stand. Einem weiteren Jahr des Lebens als Menschen zweiter Klasse,
als Ausländer, die nicht dazugehören, die nicht die gleichen Rechte, das
gleiche Ansehen wie die Einheimischen haben. Dazu gab es unter den Israeliten
in der Gefangenschaft noch einmal Unterschiede: Da waren die, die es in der
Fremde zu etwas gebracht, die sich mit dem Leben im Exil arrangiert hatten. Und
da waren die anderen: die Armen, denen es nicht gelungen war, sich in der
Fremde eine Existenz aufzubauen. Die Aufsässigen, die sich nicht anpassen
wollten oder konnten und dafür im Gefängnis landeten. Die Kranken, die ohne
Versorgung vor sich hinvegetierten. Die Schwachen und Wehrlosen, die man
ausbeutete und unterdrückte.

Jesus
überträgt die Worte Jesajas, die seinen damaligen Zeitgenossen im Exil galten,
auf sich und seine Zeitgenossen, indem er sie vorliest und damit zu
seinen eigenen Worten macht. Das "Ich", das aus den Worten Jesajas spricht, ist
Jesus. Er nimmt nicht nur für sich in Anspruch, von Gott gesandt zu sein. Er
verspricht auch den Armen, Gefangenen, Kranken und Unterdrückten seiner
Zeit eine bessere Zukunft. Es sind seine Zuhörerinnen und Zuhörer, die er damit
meint und denen er diese bessere Zukunft verspricht.

Nun
werden damals in der Synagoge in Nazaret ebenso wenig Arme, Gefangene, Kranke
und Unterdrückte gewesen sein wie heute hier in dieser Kirche. Deshalb wurden
und werden diese Worte auch von Jesu Zeiten an bis heute im übertragenen Sinne
verstanden:

Wir
mögen nicht materiell arm sein. Aber sind wir nicht alle manchmal aus den
verschiedensten Gründen arm dran? Wir mögen nicht wirklich gefangen, ja,
niemals mit dem Gesetz in Konflikt geraten sein. Aber sind wir nicht Gefangene
unserer Angst, unserer Vorurteile? Wir mögen nicht wirklich blind sein. Aber
sind wir nicht oft blind für die Schönheit wie für die Not anderer Menschen?
Wir mögen nicht wirklich unterdrückt sein. Aber leiden wir nicht unter Schuld,
unter belastenden Erfahrungen, unter bösen Menschen?

Die
Kraft der Worte Jesajas und ihre Aktualität liegen darin, dass wir sie auf
beiderlei Weise verstehen können: gerichtet an Menschen in ganz konkreten
Notsituationen und zugleich im übertragenen Sinne an uns gerichtet. Wir hören
die altehrwürdigen Worte Jesajas aber nicht deshalb als an uns gerichtet, weil
sie im Buch Jesaja stehen. Wir hören sie als Worte an uns, weil Jesus sagt:

‘Heute hat sich diese Schriftstelle erfüllt, weil ihr sie gehört habt.'

"Heute"
war zur Zeit Jesu dieser eine Sabbat, an dem Jesus in der Synagoge predigte.
"Heute" war es immer, wenn dieses Evangelium vorgelesen wurde. Deshalb ist
"heute" für uns heute, dieser Neujahrstag, an dem die Worte Jesu
vorgelesen wurden und an dem wir sie hören als seine Worte an uns. Ohne
dass wir sie hören, bleiben sie altehrwürdige Worte, aufbewahrt in einem dicken
Buch. Erst wenn wir sie hören, werden sie lebendig, bedeutsam und wirkmächtig.
Sie bewirken, was sie sagen.

Indem
wir hören, dass Jesus heute ein von Gott begünstigtes Jahr ausruft, wird
dieses vor uns liegende Jahr zu einem "Gnadenjahr", zu einem Jahr, das unter
einem guten Stern steht. Es wird zu einem Jahr, das - trotz aller bereits fest
stehender Termine, trotz des Alltagstrottes und der Einsamkeit, die schon auf
uns warten - Neues, Überraschendes für uns bereithalten wird. Eben weil es ein
günstiges, ein von Gott begünstigtes Jahr ist. Und weil wir als Getaufte Gottes
Kinder sind, denen er solch ein gutes Jahr gönnt und schenken will.

Aber
eins müssen wir dabei bedenken: Gott tut keine Wunder. Jedenfalls nicht in dem
Sinne, das mit einem Schnipp in unserem Leben alles neu und anders wird: alle
Probleme gelöst, alle Sorgen dahin, alle Schmerzen beseitigt, alle Krankheiten
geheilt. In den Worten Jesajas, die Jesus zu den seinen macht, heißt es gerade nicht,
dass die Armen nicht mehr arm sind. Jesus sagt nicht, dass er die
Gefangenen befreien wird. Er spricht davon, dass er es ihnen verkündigen
wird. - "Ah," werden Sie jetzt vielleicht denken, "was für ein billiger Trick:
Nichts tun, nur große Worte machen - das kennen wir schon. Vor den Wahlen
versprechen uns Politiker alles mögliche, und nach den Wahlen erinnern sie sich
nicht mehr daran, und keins ihrer großen Versprechen wird wahr."

Die Worte Jesajas - nichts als leere Versprechungen?

Man
kann sie so hören. Wenn man sich nur darauf verlässt, dass Gott es schon
richten wird, werden es wohl leider auch leere Versprechungen bleiben. Diese
Worte versprechen nicht, dass Gott uns alle Steine aus dem Weg räumt. Sie
wenden sich vielmehr in doppelter Weise an uns: als Trost und als Appell.

Als
Trost machen sie uns Mut, dass unsere Lage nicht so bleiben muss, wie
sie ist. Dass wir auf Überraschungen, auf Veränderungen gefasst sein sollen und
hoffen können. Weil Jesus uns auch durch dieses vor uns liegende Jahr
begleitet, weil wir nicht allein sind, nicht allein tragen müssen, was wir an
Lasten mit uns schleppen. Und weil Menschen sich von diesen Worten zum
Mitgefühl für uns - für Arme, Gefangene, Kranke und Unterdrückte bewegen lassen
und sich uns zuwenden.


Das
ist zugleich der Appell, den diese Worte an uns richten: die Armut der
Armen zu sehen, das Elend der Gefangenen, das Leiden der Kranken und die
ohnmächtige Wut der Unterdrückten. Uns davon anrühren, berühren zu lassen. Mit
ihnen zu fühlen, mit ihnen zu leiden und nicht länger hinnehmen zu wollen, dass
es Menschen so ergeht.

Wenn
das geschieht, dann beginnt tatsächlich ein von Gott begünstigtes Jahr, ein
Gnadenjahr: Wenn wir die Worte, die Jesus damals in Nazaret sagte, als Worte
für und an uns hören. Wenn wir hoffen und glauben, dass Jesus bei uns ist und
durch uns das verwirklicht, was die Worte Jesajas verheißen. Wenn wir glauben
und hoffen, dass Jesus bei uns ist in den Menschen, die, von diesen Worten
bewegt, uns begegnen, mit uns fühlen, für uns eintreten.

Ein
neues Jahr liegt vor uns, eine weite Fläche Zeit. So gewiss zu sein scheint,
was uns in diesem neuen Jahr erwartet, so gewiss ist, dass auch in diesem Jahr
Gott bei uns sein und auch dieses Jahr zu einem günstigen Jahr für uns machen
wird. Günstig zum Vertrauen auf Gottes Nähe, günstig zum Vertrauen darauf, dass
unsere Mitmenschen so für uns da sein werden wie wir für sie.

Amen.



Pfarrer Güntzel Schmidt
Meiningen
E-Mail: guentzel.schmidt@gmx.de

Bemerkung:
Liedvorschläge:
Wie schön leuchtet der Morgenstern EG 70, 1-2+4,
Vom Himmel kam der Engel Schar EG 25,
Vom Himmel hoch EG 24, bes. Str. 15


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