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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Silvester, 31.12.2014

Predigt zu Lukas 12:35-40, verfasst von Rainer Oechslen

Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wenn er aufbrechen wird von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun. Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. Und wenn er kommt in der zweiten oder dritten Nachtwache und findet's so: selig sind sie. Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausherr wüsste, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er nicht in sein Haus einbrechen. Seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint.

Lukas 12, 35 - 40

 

Liebe Schwestern und Brüder!

 

„Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet."

 

Als ich nachdachte über dieses Wort unseres Herrn Jesus Christus, schlug ich die Zeitung auf. Nein, nicht die Seite „1", nicht die Schlagzeilen der Weltpolitik, die sich anhören wie eine Alarmglocke. Es war Samstagabend. Ich war müde und suchte die Artikel, die ich vertragen kann vor dem Einschlafen.

 

Zuerst las ich von Frau Doktor Hoesch, einer Hausärztin aus Berlin. Nach einem anstrengenden Tag in der Praxis und zwei Stunden Büroarbeit macht diese Frau noch Hausbesuche, erspart ihren Patienten die Klinik und den Krankenkassen viel Geld. Die Journalistin Evelyn Roll fragt: „Woher nehmen Sie die Kraft für Ihre langen Arbeitstage?" Als Antwort erzählt die Ärztin eine Geschichte. „Im Sommer vor einigen Jahren ist eine 48 Jahre alte Patientin an Krebs gestorben. Vier Kinder hatte sie, einen wunderbaren Mann dazu und einen Hund ... Kurz vor ihrem Tod hat sie sich  überlegt: ‚Warum sollen alle Verwandten und Freunde und der Chor, in dem ich 25 Jahre gesungen habe, erst bei meiner Beerdigung zusammenkommen, wenn ich nichts mehr davon habe?' - Und dann hat sie zu einem großen Konzert mit Gottesdienst in ihre Wohnung geladen. Alle sind gekommen, Freunde, Verwandte, auch die Freunde der Kinder, ein Pfarrer - und die Ärztin natürlich. Die Sterbende hat von einer Liege aus eine kleine Rede gehalten: ‚Ich danke euch, dass ihr gekommen seid, dass ihr das ausgehalten und euch mit mir unter das Kreuz gestellt habt.' Und als sie acht Tage später starb, sind alle Kinder, der Mann, der Pfarrer und die Ärztin bei ihr gewesen. Der Jüngste hat da plötzlich gefragt: ‚Mama, sollen wir singen?' Und dann

haben alle gesungen, erst Kinderlieder, dann Wanderlieder, und als niemand mehr ein Lied wusste, Weihnachtslieder. Weihnachtslieder im Hochsommer. Der Mann und jedes Kind hatte im Augenblick des Todes Berührung mit ihr, der Jüngste lag eng an sie geschmiegt."

 

Zum Schluss ihrer Geschichte sagt Frau Doktor Hoesch: „Es ist für eine Ärztin sehr beglückend, wenn sie einen so großen, tiefen und reichen Abschied erleben und ermöglichen kann. Da bekomme ich die Kraft, die ich einsetze, wieder zurück."

 

Ich las den Zeitungsbericht wie die Geschichte eines Wunders, eines Wunders der Wachheit. Nicht in der Bibel steht diese Wundergeschichte, nicht einmal im Lexikon der Heiligen. Ich habe sie in der Süddeutschen Zeitung gefunden.

 

Es wachen viele Menschen in dieser Geschichte: In der Mitte die Mutter, die ihr Sterben angenommen hat. Um sie herum der Mann, die Kinder, die Freunde, die mit ihm warten - und die Ärztin, die dieses gemeinsame Wachen ermöglicht und selbst daran teilnimmt. „Es ist für eine Ärztin sehr beglückend, wenn sie einen so großen, tiefen und reichen Abschied erleben und ermöglichen kann." - „Sehr beglückend" sagt die Ärztin. Wie sagt Jesus? „Selig sind die Knechte" - und die Mägde - „die der Herr, wenn er kommt wachend findet."

 

Ich glaube, was die Ärztin „reif" nennt, das nennt Jesus „wach": das bewusste Leben, die Bereitschaft für das Kommende, auch angesichts des Todes.

 

Nachdem ich beim Zeitungslesen auf ein Wunder gestoßen war, las ich weiter, und fand noch ein zweites. Eine andere Journalistin, Claudia Wessel, eine Frau in den Dreißigerjahren ihres Lebens, fährt nach Augsburg und besucht eine Dame von siebenundneunzig. Die Journalistin fragt: „Gewöhnlich heißt es, in einem gewissen Alter werde man müde und wolle gar nicht mehr leben?" Darauf die alte Dame: „Man ist immer wieder neugierig." - Ein wunderbarer Satz.

 

Ich glaube, die Grundeinstellung der Christen im Neuen Testament ist Erwartung, ja Neugier. Neugier im landläufigen Sinn ist keine angenehme Eigenschaft. Solche Neugier ist zudem sinnlos. Denn „die Sonne geht auf und geht unter" (Prediger Salomo 1,5) und die Menschen bleiben sich gleich im Lauf der Zeiten. All die kleinen und großen Schwächen unserer Mitmenschen, die wir mit unserer Neugier erschnüffeln, die gab es vor 1000 Jahren auch schon. Aber es gibt auch eine selige Neugier, eine Neugier auf das Leben, eine Neugier auf das, was von Gott kommt Tag für Tag. „Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. Und wenn er kommt in der zweiten oder dritten Nachtwache und findet's so: selig sind sie."

 

Noch eine andere Unterscheidung ist nötig: Ein Mensch kann nicht nur wach sein, sondern überwach, so dass er nicht mehr schlafen kann. Baldur von Schirach, ein Vertrauter Adolf Hitlers, schreibt in seinen Lebenserinnerungen, Hitler habe in den letzten Jahren des Krieges kaum noch geschlafen. Mit Drogen hielt er sich wach. Ständig war um ihn die Atmosphäre der Hochspannung, der gereizten Erwartung. Entsprechend hat die Diktatur auch das Volk ständig in Spannung gehalten: „Sei wachsam, der Feind hört mit." - „Pack das Nötigste in einen Koffer und stelle ihn neben dein Bett. Sei bereit für den Luftalarm."

 

Ich glaube, solche Bereitschaftspropaganda gibt es in allen Gesellschaftsordnungen. Wach bleiben. Sich parat halten. Schlafen ist Zeitvergeudung. Bei uns zum Beispiel giert die Reklame immer neu nach unserer Aufmerksamkeit. „Pass auf" sagt die Werbung - „sonst versäumst du etwas". Gegenüber solcher Propaganda ist Schlafen tatsächlich die beste Reaktion.

 

Jesus verkündet keine Wachsamkeitsparolen. Sein Gleichnis spricht eine andere Sprache. In seiner Geschichte ist ein großer Herr verreist, auswärts zu einer Hochzeit. Zuhaue wartet die Dienerschaft, dass der Herr zurückkehrt. Da kann kein Knecht zu Bett gehen. Wenn so ein Graf heimkommt, dann muss man die Tür öffnen, die Pferde versorgen, dem Herrn die Kleider abnehmen, ihm zu trinken bringen und warmes Wasser zum Waschen. Der Herr in der Geschichte aber kehrt heim und bittet die Knechte und Mägde zu Tisch. Dann bindet er sich eine Schürze um und serviert. Er bereitet dem Gesinde ein Fest. Der Herr wird „ihnen dienen", sagt Jesus.

 

Unerhört ist diese Botschaft, eine Umkehrung der gesellschaftlichen Ordnung. Der Evangelist Lukas weiß das sehr genau. Nur ein paar Seiten später im Lukasevangelium erzählt Jesus eine ganz andere Geschichte: „Wer unter euch hat einen Knecht, der pflügt oder das Vieh weidet, und sagt ihm, wenn er vom Feld heimkommt: Komm gleich her und setz dich zu Tisch? Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Bereite mir das Abendessen, schürze dich und diene mir bis ich gegessen und getrunken habe; danach sollt auch du essen und trinken?" - So ist es Brauch überall.

 

Wenn Jesus aber von der Erwartung der Christen spricht, dann redet er anders, dann kehren die Verhältnisse sich um, dann dient der Herr dem Knecht.

 

Wir Pfarrer sprechen manchmal von den „letzten Dingen". Wir meinen damit unser Sterben, das neue Kommen unseres Herrn, die Auferstehung der Toten, das Jüngste Gericht. Der Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt hat jüngst die Lehre von den letzten Dingen erklärt: „Am Ende werden uns große Neuigkeiten erwarten, noch nie Gehörtes, nie Gesehenes, nie Erfahrenes." So spricht einer, der die Bibel kennt. Wir Christen erwarten das, „was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat". (1. Kor 2,9)

 

In seinem Gleichnis aber zeigt uns Jesus ein Bild von dem, was kein Auge geschaut hat. Er redet von dem Herrn, der kommt, um uns zu dienen.

 

Vorhin, in dem Bericht der Ärztin aus Berlin, habe ich einen Satz ausgelassen. Die Ärztin hat die sterbende Mutter „die Dienerin ihrer Familie" genannt. Ich glaube, das ist kein Zufall. Gewiss war diese Frau eine fröhliche Dienerin. Gewiss hat sie den Ihren gern gedient. Aber wer den Menschen gedient hat, der kann auch ermessen, was das bedeutet: Es kommt der Herr, der uns dient. Der hört die Worte wie eine herrliche Musik: „Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. Und wenn er kommt in der zweiten oder in der dritten Nachtwache und findet's so: selig sind sie."

 

So beschließen wir das alte Jahr und beginnen das neue. Wir bitten Gott um die selige Neugier des Lebens. Wir bitten um die Kraft, die Tage, die Gott uns gibt, mit Mut zu empfangen. Wir bitten Gott, dass er uns die Musik der Befreiung hören lässt. Es kommt der Herr, der uns zu Tisch bittet und uns dient.

 

Amen.



Kirchenrat Dr. Rainer Oechslen
München
E-Mail: rainer.oechslen@elkb.de

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