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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Weihnachten, 04.01.2015

„Kinder, wie die Zeit vergeht!“
Predigt zu Lukas 2:41-52, verfasst von Dörte Gebhard

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommt.                                                                                                               Amen.

 

Liebe Gemeinde,

Kinder, wie die Zeit vergeht!

Eben noch frisch gewickelt - in Windeln,

eben noch Weihnachten mit staunend-sprachlosen Kinderaugen,

eben noch konnte unser Sohn nicht sprechen,

jetzt ist er in der sechsten Klasse und hat Deutsch, Englisch und Französisch, bereitet PowerPointPräsentationen vor.

 

Kinder, wie die Zeit vergeht!

Eben noch frisch gewickelt - in Windeln,

eben noch Weihnacht, augenscheinlich-unglaublich,

eben noch Flucht und Mord und ungewisse Aussichten

für Gottes Sohn in Ägypten, im Ausland,

jetzt ist er 12 Jahre alt und diskutiert mit den Gelehrten im Tempel, liefert ebenso eine „PowerPointPräsentation". Jesus bringt es auf den Punkt, fragt kräftig nach und präsentiert Gott der ganzen Welt.

 

Kinder, wie die Zeit vergeht!

Schon damals verging sie so wie heute! Wenn wir in unserer Einfalt denken, nur uns vergeht die Zeit so schnell, dann liegt es daran, dass uns der Vergleich - meistens - fehlt. Heute aber lehnen wir uns beruhigt und ganz berückt zurück, es geht den Menschen wie den Leuten und zu allen Zeiten so.

 

Jedenfalls verging die Kindheit Jesu so schnell, dass niemand etwas Zusammenhängendes aufzeichnen, aufbewahren konnte. Das Lukasevangelium gibt davon ein lebhaftes Zeugnis: Jesus wird geboren, beschnitten nach jüdischem Brauch, ein paar Tage später in den Tempel gebracht. Dann gibt es doch 15 Worte, die die ersten 12 Lebensjahre beschreiben:

Das Kind aber wuchs und wurde stark, voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm.

Darauf kommt es an, wenn die Zeit auch noch so schnell vergeht. Und von welchem Menschenkind wollen wir das nicht hoffen und gern auch sagen?

 

Heute ist in unserer Kirche eine Reihe Tauftropfen dazugekommen, alle Täuflinge des Jahres 2014. Was werden wir für diese 22 grösseren und kleineren Kinder von ganzem Herzen erbitten? Dass sie wachsen, stark werden, voller Weisheit, dass Gottes Gnade bei ihnen ist und bleiben wird.

 

Über Jesu Kindheit erfahren wir nichts darüber hinaus. Wenn es nicht den einen, den einzigen Bericht vom 12jährigen Jesus im Tempel gäbe.

 

Er ist als Predigttext für den 4. Januar vorgeschlagen. Wir hören aus dem 2. Kapitel bei Lukas die Verse 41-52. Nur dort wird vom Sohn Gottes als bravem Lausbub überhaupt etwas überliefert.  

 

Der zwölfjährige Jesus im Tempel

Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten's nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn.

 

Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untertan. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen. (Lk 2, 41-52)

 

Kinder, wie die Zeit vergeht!

Nichts anderes kann man rufen, wenn man nachschaut, was aus dieser Kindheitserinnerung schon alles geworden ist.

Keinen anderen Spruch kann man bringen, wenn man alte Predigten nachliest, oder solche, die einem alt vorkommen.

Weil es nichts sonst über Jesu Kindheit gibt, wurde alles über Kindheit in diese Zeilen hineininterpretiert und herausgelesen. Die Szene vom 12jährigen Jesus im Tempel ist durch die Jahrhunderte ein immer wieder blankpolierter Spiegel gewesen, in dem sich die Pädagogik der jeweiligen Zeit scharf (und manchmal auch verzerrt) zeigte. Alles, was über Kindererziehung im Allgemeinen und über Wunderkinder im Besonderen zu sagen ist, hat man scheinbar hier gefunden. Jesus, den frühreifen, genialen Professor und den Rotzebengel, barfuss und im verdreckten Hemd auch. Letzteren hatte Max Liebermann gemalt, aber das Bild fiel durch und der Künstler übermalte die Jesusfigur: Sandalen an die Füsse, Hemd etwas weisser, Haare viel schöner, ... schade![1]

 

Fast fässerweise wurde Tinte über das Kind und seine Eltern ausgegossen, und einig wurden sie sich nie. Denn manchmal schrieben Eltern für Eltern klug über Kinder, manchmal schrieben Kinder kindlich bis kindisch über Eltern, manchmal schrieben Eltern über Kinder, manchmal Kinder über Eltern, aber die Wenigsten merkten, dass sie am meisten von sich selbst schrieben. Denn wirklich viele, auch unter uns, sind nachweislich und unvermeidlich beides: Kinder ihrer Eltern und Eltern ihrer Kinder.

 

Es sollen auch schon Über-Eltern, Obereltern über Eltern nachgedacht haben, die dann extrem schlecht wegkommen.

Es blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten's nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten.

Was dächte man von solchen Eltern? Sie reisen von Jerusalem ab und merken nicht, dass ihr Sohnemann nicht dabei ist. Sie verlassen das Festgetümmel, das wir uns wohl wirklich orientalisch-eng vorstellen müssen und laufen einen ganzen Tag heimwärts, ehe ihnen wirklich auffällt, dass er wirklich auch nicht bei seinen Kollegen ist.

 

Ich stell mir vor, ich gehe zur Polizei und melde meinen Sohn am Abend vermisst, sage, er sei schon den ganzen Tag nicht mehr in Sicht gewesen und ja, wir waren an diesem Megaevent, am OsterOpenAir, aber ich bin nach Hause gefahren und habe es dort erst bemerkt. Ob das Jugendamt trotz Arbeitsüberlastung einen unangemeldeten Hausbesuch bei mir machen wird?

 

Andererseits haben auch schon ewige Kinder über die Leiden und Freuden der Dauerpubertät und die Verweigerung des Erwachsenwerdens ihre psychologischen Einsichten verbreitet.

 

Als die Eltern ihn endlich finden und seine Mutter zu ihm sprach: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Da er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht?

Wisst ihr nicht ...

 

Wenn das nicht der Beweis ist, dass Frechheit siegt?! Was dann?! -

 

Am interessantesten sind die Interpretationen, die der Überlieferung nach Lukas auch noch direkt widersprechen, weil nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf.

 

Dazu noch ein sprechendes Beispiel. 1835 schreibt Franz Stapf, offenbar ein Bayrischer Priester, der viel Tinte verbraucht hat, ausführliche Predigtentwürfe. Er sieht moralische Reflexionen vor und zwar „durch Worte" und „durch Beispiel". Damit Prediger nicht auf falsche Ideen kommen, gibt er zum Predigen Folgendes vor. Es soll gesprochen werden „über den Ort, wo Jesus gefunden ward, über sein Betragen im Tempel, über die Freude, die Maria und Joseph empfanden, als sie ihr Kind Jesus fanden - im Tempel - mitten unter den Lehrern." [2]

 

Es fällt auf und man fällt fast um, denn im Lukasevangelium heisst es unmissverständlich: Als sie, [die Eltern nämlich], ihn sahen, entsetzten sie sich ...

„Entsetzen" ist denn doch nicht ganz dasselbe wie „Freude".

 

Franz Stapf aber kennt kein Halten. Er sieht nur „Sein[en] Gehorsam gegen seine Aeltern, gegen Maria seine Mutter, und gegen seinen Pflegevater Joseph" und steuert darum auf ein pathetisches Finale zu:

„[Schluß:] O ihr Aeltern alle, spiegelt euch an dem schönen Beispiele Maria und Joseph.

O ihr Kinder alle, verlieret das unvergleichlich schöne Beispiel Jesu nie aus den Augen, und thuet wie er gethan hat. Wachset, wie an Jahren so an Weisheit, Tugend, und Liebens-Würdigkeit vor Gott und den Menschen."

 

Liebe  Gemeinde,

Kinder, wie die Zeit vergeht -

und wie die Erziehungsstile der Jahrhunderte kommen und vergehen ...

zum grossen Glück!

Was bleibt uns nun übrig?

 

Grosse Zuversicht, wenn wir künftig unsere Kinder erziehen und selbst schon erzogen worden sind! Uns bleibt die grosse Gewissheit übrig, dass es die perfekt guten Eltern nie gab und auch nicht ein einziges Superkind. Weder sind die Eltern je an allem schuld, noch auch die Kinder.

 

Fulbert Steffensky fasst für unsere - aber auch schnell vergehende - Zeit zusammen, was ich mir zu Herzen nehme:

„Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel.

Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Leben liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Lebens selbst, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit."[3]

Maria und Joseph sind halbgute Eltern, sie machen Fehler und sehen sie ein. Sie rennen los und sie kehren um.

Sie sind entsetzt und bewegen dann im Herzen, was ihnen widerfährt.

 

Jesus ist ein halbguter Sohn, er sagt nichts, als er hätte etwas sagen können.

Er ist gehorsam, aber erst nachher.

Er ist frech, aber auch einsichtig.

Kinder, wie die Zeit vergeht!

Wie sich die Zeiten geändert haben!

Wie aber doch Kinder immer noch Kinder und Eltern doch Eltern geblieben sind!

Nicht vollkommen, aber liebenswert.

Erst hinterher klüger, aber nicht beratungsresistent.

 

Bleibt noch der letzte Satz, ehe die Zeit dieser Predigt vergangen ist:

Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

 

Jesus nahm zu an Alter.

Das können wir auch!

Mit dem Alter ist es sehr leicht gegangen, wird es auch immer leichter werden.

Die Zeit vergeht über dem Reden und Hören, über dem Schweigen und Nachdenken, beim Predigen und Singen. Wir haben zugenommen an Alter, seit Weihnachten, in den letzten 12 Jahren, in den letzten 12 Minuten auch.

 

Jesus nahm zu an Alter und Weisheit.

Das sollen wir auch!

Das sollen wir - in aller vorläufigen Halbheit - von Jesus lernen. So ist es überliefert bei Lukas:

Da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.

 

Jesus vertauscht mutwillig und ziemlich dreist, wie es vielleicht nur 12jährige können, die Fragen und die Antworten, die er im Tempel bis dahin gehört hat. Er hinterfragt die Antworten derer, die immer glauben, dass sie diejenigen sind, die den anderen Fragen stellen. Er gibt seinen Eltern keine Antwort, sondern fragt zurück - nach Gott, seinem Vater.

 

Jesus nahm zu an Alter und Weisheit und Gnade bei Gott.

Das möchten wir auch!

Das möchten wir - in aller vorläufigen Halbheit - von den Eltern, von Maria lernen. So ist es überliefert bei Lukas:

Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. [...]

Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.

Erschreckender, aber zugleich unendlich tröstlicherweise wird festgehalten, dass die Eltern nicht verstanden, was ihr Sohn ihnen im Tempel sagte.

 

Wir nehmen schon zu an Gnade, wenn wir seine Worte im Herzen behalten.

Das tönt natürlich höchstens nach der Hälfte. 

 

Aber das Grosse und Ganze ist nur bei Gott. Wir nehmen nicht weiter zu an Gnade, wenn wir alle Fragen beantworten können oder es uns einbilden, nicht, wenn wir alles begreifen, den Sinn hinter allem sehen oder sehen wollen. Wohl aber, wenn wir wie Kinder einsehen, wie die Zeit vergeht!

Wir nehmen zu an Gnade, wenn wir wie Maria und Joseph auf halbem Wege umkehren und Jesus suchen gehen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne auf diesem Weg,                          Amen.



[1] Hamburger Kunsthalle: Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik. Saal der Meisterzeichnung. 18. April bis 18. Juli 2010

Mit dem zwölfjährigen Jesus im Tempel (1879) von Max Liebermann (1847-1935) besitzt die Hamburger Kunsthalle eines seiner wenigen und zugleich frühesten religiösen Werke. Als das Gemälde 1879 auf der Internationalen Kunstausstellung in München zu sehen war, löste es einen Skandal aus. Mit diesem Gemälde, so die damalige Kritik, hätte sich der jüdische Maler an dem christlichen Thema des zwölfjährigen Jesus im Tempel vergangen: den Heiland hätte er als jüdischen Lausebengel charakterisiert, barfuß und mit fleckigem Hemd, und ihn somit in den Schmutz gezogen. Liebermanns Bemühen um eine wirklichkeitsnahe Darstellungsweise wurde dabei von den auch antisemitisch gefärbten Vorwürfen ignoriert. Die Empörung, die das Gemälde hervorrief, traf Liebermann so sehr, dass er den Jesusknaben übermalte. Bis heute hat das Gemälde nichts von seiner Bedeutung verloren und ist mit seinem Thema, das an die Wurzeln des Judentums wie des Christentums rührt, höchst aktuell. Neben dem Gemälde, Skizzen und Studien Liebermanns sind Werke desselben ikonographischen Themas zu sehen: z.B. Druckgraphiken von Dürer und Rembrandt, ein Gemälde von Heinrich Hofmann und ein Pastell von Adolph Menzel. Neben dem Skandal wird auch die Geschichte des Gemäldes Thema sein: 1911 von Lichtwark erworben, 1941 aus politischen Gründen verkauft, 1989 für die Kunsthalle zurückerworben.

Mit freundlicher Unterstützung durch die Kunst- und Literaturstiftung

Petra und K.-H. Zillmer (www.hamburger-kunsthalle.de).

[2] Alle Zitate bei Franz Stapf: Ausführliche Predigtentwürfe nach dem Leitfaden des neuen bambergischen Diözesan-Katechismus zum Gebrauche für alle Religions-Lehrer in jedem Bisthume, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1835, S. 36f.

[3] Fulbert Steffensky: Der Schmerz und die Gnade der Endlichkeit, hg. von der Hospizarbeit im Evangelischen Johanneswerk e.V., Bielefeld o. J. Auf der Website als Download verfügbar (http://www.johanneswerk.de/), S. 8.

 



Pfarrerin Dörte Gebhard
CH-5742 Kölliken
E-Mail: doerte.gebhard@web.de

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