Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Invokavit, 22.02.2015

Wer hat die Macht?
Predigt zu Matthäus 4:1-11, verfasst von Manfred Gerke

Liebe Gemeinde, wir sind eingeladen zu einem einzigartigen Bühnenstück. Keine Provinzposse. Sondern Welttheater auf höchstem Niveau. Es trägt den Titel „Wer hat die Macht?“, und das Drehbuch steht in Matthäus 4,1-11:

Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde.  Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5. Mose 8,3): »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben (Psalm 91,11-12): »Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.« Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben (5. Mose 6,16): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben (5. Mose 6,13): »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm.

Erste Szene, der Vorhang geht auf. Wir sehen nur die spärlichen Kulissen: Wüste, nichts als Wüste, soweit das Auge reicht. Klar, ich kenne auch den großartigen Dokumentarfilm von Walt Disney „Die Wüste lebt“, habe gehört, wie sie sich verwandelt, wenn der Regen kommt, wie Wadis sich füllen, Leben erblüht.

So kann Wüste sein. So wird Wüste sein. Doch meist ist sie Land, das nicht mehr empfängt und nichts mehr schenkt, nichts nährt und durch nichts genährt wird, ausgeschieden aus dem Kreislauf des Lebens. Wüste – das Antlitz des Todes. Und nicht einmal das. Sondern Öde, das Ausgelöschte, Getilgte. Sie ist Ausgesetztsein und Verlorensein, das Hoffnungslose in mattester, letzter Gestalt. Sie ist das Endlose ohne Trost.

Wüste! In dieser Wüste erscheint der erste Hauptdarsteller: Jesus. Nein, er betritt nicht selbstbewusst die Bühne. Er wird geführt, vorsichtig geleitet wie ein Blinder, geführt vom Geist. Jener Geist Gottes, der gerade vor ihm und allen seine Stimme erschallen ließ: „Dies ist mein lieber Sohn!“

Dort am Jordan, bei Johannes dem Täufer und den vielen, die zu ihm strömten, ihn hörten und sich von ihm taufen ließen. So wie Jesus. Doch jetzt ist er nicht mehr am Wasser, sondern in der Wüste, geführt vom Geist.

Die nächsten vierzig Tage und Nächte müssen wir im Zeitraffer miterleben. Sonst säßen wir Ostern noch hier. Jesus fastet: Tag und Nacht, Nacht und Tag. Vierzig Tage und Nächte. Kein Heilfasten unter fachkundiger Aufsicht, um zu entschlacken und abzunehmen. Auch kein Nachweis seiner Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung.

Sondern – das steht nicht im Drehbuch. Wir können es nur vermuten. Um sich mit seinem Volk auf dem Wüstenweg zu solidarisieren. Um sich in eine Reihe zu stellen mit Mose und Elia. Um ganz offen zu sein für Gott. Oder um Vollmacht zu gewinnen, meint Johannes Calvin.

Jesus fastet – und ist am Ende seiner Kräfte, müde erschöpft. Er hat Hunger. Und genau jetzt tritt die zweite Hauptperson auf: der Versucher. Nun könnten wir lange diskutieren über die Existenz des Teufels, über Sinn und Unsinn der Rede vom Bösen.

Ganz gewiss nicht jene Gestalt mit Hörnern, Pferdefuß und Schwanz, halb Mensch, halb Tier. Ganz gewiss kein Schreckgespenst und Geisterwesen. Aber eine Macht, die wir spüren und erleben. An uns, in uns, um uns. „Den Bösen sind wir los“, notierte Goethe, „die Bösen sind geblieben.“

Unauffällig, freundlich steht der Versucher dort auf der Bühne und hat einen überzeugenden Vorschlag. Er ist so wunderbar sachlich und praktisch. Stärkung ist angesagt. Nahrungsaufnahme. Ein spanisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: Estómago con hambre no escuchar a nadie. Ein Bauch voller Hunger hört auf niemanden. Oder drastischer Bert Brecht: „Erst das Fressen, dann die Moral.“

„Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“ Du wirst satt. Und alle werden satt. Alle Menschen auf der Welt, die noch hungern. „Im Augenblick der Krise“, bemerkt Eugen Drewermann, „sieht die Versuchung aus wie das Versprechen eines größeren und reicheren, erfüllbaren und nicht so hungrigen, geborgenen und nicht mehr so ausgesetzten Lebens.“

Wenn du Gottes Sohn bist... Und ich denke an manche meiner Predigten. Ich denke daran, wie ich uns Gott vor Augen malte: einer, der uns liebt, für uns eintritt, uns beschenkt, uns bewahrt, immer da ist. Ein Gott, der unser Leben nur bereichert und erfüllt. Der Steine zu Brot macht. Kurzum: gut brauchbar in allen Lagen des Lebens.

Doch wo ist eigentlich Gott in dieser Szene? Kein Wort von ihm. Er bleibt verborgen. Hinter der Bühne. Jesus ist allein, ohne Gott. Er hat nur sein Wort. Sein Wort, an das er sich jetzt klammert. Sein Wort, das ihn erinnert. Erinnert an sein Volk auf dem Weg in die Freiheit. Erinnert an sein Volk in der Wüste, das hungerte und murrte – gegen Mose und gegen Gott.

Und mit einem Mal sieht er ganz klar. Mit einem Mal spürt er, wie sein Gegenüber Misstrauen sät, Misstrauen gegen den Vater, er könne, er wolle ihn nicht versorgen. Mit einem Mal spürt er den Zweifel, spürt er, dass er sich selbst zeigen und beweisen soll, ob er es auch wirklich ist oder nicht: Gott Sohn. Spürt er den Zweifel an der festen Zusage: „Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.“

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Sein Wort: eine Stärkung, eine Kraft, Licht auf dem Weg, Ermutigung zum Dank.

Der Vorhang fällt. Kurze Stille. Zweite Szene. Die Bühne öffnet sich. Der Blick wird frei. Wir sehen die heilige Stadt, Jerusalem. Und dort ganz oben auf der Zinne des Tempels die beiden Hauptdarsteller: Jesus und der Diabolos, der Durcheinandertreiber.

Vielleicht waren Sie schon mal ganz oben auf dem Kölner Dom, natürlich umgeben und geschützt von einer starken Brüstung, und sahen da unten die Menschen, klein wie Ameisen. So – und noch schwindelerregender – ist auch ihr Blick damals: ganz unten der Tempelvorplatz, viele Gläubige, erfüllt von einer großen Sehnsucht.

Der Sehnsucht nach dem Messias. Wenn er kommt, wird er allen Hunger und alle Not beseitigen. Er wird von der Zinne des Tempels wie ein Feldherr die Befreiung verkündigen, auch die Befreiung von dem drückenden Joch der römischen Besatzung.

Jetzt stehen sie dort, staunend, schweigend. Langsam und bedächtig spricht der Diabolos die Worte: „Bist du Gottes Sohn, dann stürze dich hinab! Denn es steht geschrieben: Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben und sie werden dich auf Händen tragen, dass du deinen Fuß nicht an einem Stein stößt.“

Auch der Teufel kennt die Bibel, zitiert ausgerechnet Psalm 91, Vers 11 und 12, Nummer eins auf der Hitliste der beliebtesten Taufsprüche. Diese Verheißung gilt doch. Und dir, dem Sohn Gottes erst recht. Also, wenn du wirklich Gottes Sohn bist? Was wäre das für eine einmalige Demonstration, wenn du von der Zinne springst und langsam herabschwebst und mitten unter den Menschen sanft landest. Sie würden dir zujubeln, dich feiern, dir glauben...

Und plötzlich höre ich Marschmusik. Sehe Soldaten mit Blumen an den Bajonetten. Sie lachen und winken den Zurückbleibenden zu. Graffiti auf den Eisenbahnwaggons: „Jeder Stoß ein Franzos, jeder Hieb ein Brit, jeder Schuss ein Russ.“ Und auf ihren Koppelschlössern steht „Gott mit uns“. „Vorwärts mit Gott“, das befahl der Kaiser, und das predigten die Pastoren.

Gott wird instrumentalisiert – für die eigenen Interessen, für die eigene Macht. Er ist Mittel für meine Zwecke, für mich, für meine Ehre, Stärke, für meinen Sieg. Gottes Hilfe wird erzwungen. Gott mit uns.

Jesus springt nicht. Er hält inne. Wieder erinnert er an sein Volk auf dem Weg in die Freiheit. Und wieder ist es ein Vers aus dem 5. Mosebuch, ein Wort, das aus dem Munde Gottes geht, das ihn davor bewahrt, seinen himmlischen Vater zu vereinnahmen, ihn für die eigene Publicity zu missbrauchen oder seine Tauglichkeit zu testen. Jesus sagt zu allem „Nein“. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“ Nicht versuchen, sondern ihm die Ehre geben, ihm allein, darum geht es.

Der Vorhang fällt und öffnet sich zum dritten Mal. Wir sehen einen hohen Berg, einen sehr hohen Berg. Vielleicht standen Sie schon auf einem Zwei- oder Dreitausender. Ein erhabener Anblick! Die Täler tief unten, die anderen Berge in der Ferne – was für eine Weite und Größe!

Doch jener Berg ist noch höher und noch gewaltiger. Dort oben sehen wir sie wieder: der Durcheinanderbringer, der scheinbar die Macht in den Händen hält, und Jesus, der von Gott bestimmte Herrscher. Und sie überblicken alle Königreiche der Welt und ihren Glanz: ihre Paläste und ihre Macht, ihre Armeen und ihre Schätze, ihr Wissen und ihre Bauwerke: die Hängenden Gärten von Babylon, der Koloss von Rhodos, die Pyramiden von Gizeh...

Sie stehen, sehen und staunen. „Dies alles will ich dir geben“, sagt der Diabolos in die Stille hinein, „wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Der letzte Angriff. Königskronen blinken. Staaten stehen bereit, von ihren Göttern und Götzen zu lassen, um Christus als das Haupt anzunehmen. „Die Erde für Jesus Christus“ hallt es von allen Seiten. Und er hört ein Rauschen wie von unzähligen Fahnen. Natürlich nur, wenn du vor mir niederfällst und mich anbetest!

Plötzlich sehe ich ein anderes Bild: Ein Fußballstadion voller Menschen. Sie jubeln, schreien, liegen sich in den Armen, singen. Unten die Spieler, die Siegermannschaft, läuft zu ihrem Trainer, nehmen ihn auf die Arme, tragen ihn im Triumph über das Spielfeld, lassen ihn hochleben. Wenig später die Siegerehrung oben auf der Tribüne. Er reckt den Pokal in die Höhe. Sieger! Wieder einmal!

Udo Lattek. Einer der größten Trainer mit den meisten Erfolgen, anerkannt in der Szene und zweifelsohne auch mit großen Verdiensten. Vorletzte Woche wurde er beerdigt. Die Fußballprominenz gab sich die Ehre. Noch sind die Lobeshymnen nicht verhallt. „Wo ich bin, ist immer oben!“ sagte er. Dem Erfolg ordnete er alles unter – auch Freundschaften. Er verhöhnte die Gegner, beleidigte Schiedsrichter und hasste Niederlagen. Ein Sportjournalist nannte ihn einen „einsamen Wolf, getrieben von der Sucht nach Erfolg, alleingelassen in der Niederlage und hart zu sich selbst“.

„Dies alles will ich dir geben, wenn du vor mir niederfällst und mich anbetest.“ Ganz oben sollst du sein. Wo du bist, da ist die Macht – wenn du mich anbetest. Wenn  du wie ein braver Hund – auf mein Kommando – vor mir niederfällst und kuschst. Ich könnte auch sagen: Wenn du dich von mir an die Leine legen lässt.

Jetzt fällt die Maske. Jetzt zeigt der Diabolos sein wahres Gesicht. Deshalb kann er auch nicht beginnen „wenn du der Sohn Gottes bist“, sondern kommt gleich zur Sache. Und wieder sagt Jesus „Nein“. Wieder ist es ein Wort aus dem Munde Gottes, aufgeschrieben im 5. Mosebuch, das Orientierung gibt: „Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“

Der Vorhang fällt. Und er öffnet sich ein letztes Mal zu einem kurzen Nachspiel. Der Teufel ist verschwunden. Er hat auf der Bühne keinen Platz mehr. Er muss abtreten. Jesus bleibt allein zurück. Nein, nicht allein. Die Engel Gottes erscheinen und dienen ihm.

Er ist und bleibt für alle Zeit der Herr. „Wenn du Gottes Sohn bist?“ Das ist nun keine Frage mehr. Sicher, auf seinem weiteren Weg bleibt er nicht ohne Anfechtungen. Sein eigener Jünger wird sich ihm in den Weg stellen wie der Versucher, in den Weg nach Jerusalem und ans Kreuz. „Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht.“ So beschwört er ihn. Brüsk wird er ihn zurückweisen: „Geh weg von mir, Satan, denn du meinst nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich ist.“

Und unter dem Kreuz sind es die höhnenden Schriftgelehrten und Ältesten, die lachen, spotten und ihn herausfordern: „Ist er der König von Israel, so steige er vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben.“

Doch er steigt nicht herab. Er stirbt. Und in die Finsternis hinein stößt der römische Hauptmann erschrocken aus: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Nicht nur gewesen. Wenig später stehen sie auf jenem Berg in Galiläa, die Jünger und der Auferstandene. Und er tritt in ihre Mitte und sagt ihnen diese Worte: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“

Der Vorhang fällt. Das Theaterstück ist zuende. Die Machtfrage geklärt. Doch jetzt kommen wir ins Spiel. Was wir miterlebt haben, hat Konsequenzen für uns, für unser Leben, für die ganze Welt.

Für mich heißt das zuerst: An seiner Seite sind wir niemals allein. An seiner Seite können wir bestehen: indem wir von jedem Wort leben, das aus dem Munde Gottes kommt, indem wir ihm die Ehre geben und ihn, unseren Herrn, allein anbeten und ihm dienen.

Die Passionszeit hat begonnen – und damit auch wieder die Aktion „7 Wochen ohne“. Vielleicht machen Sie ja mit: Sieben Wochen ohne Alkohol, ohne Süßigkeiten, ohne... – ich weiß nicht, worauf Sie vielleicht verzichten wollen.

Aber vielleicht könnten es ja auch sieben Wochen „mit“ werden: Sieben Wochen mit Worten, die aus Gottes Mund gehen, sieben Wochen mit singen und Gott ehren, und sieben Wochen mit ihm dienen und ihn anbeten. Und warum eigentlich nur sieben Wochen? Ein ganzes Leben lang. Wie Basilius, ein frommer Mann der alten Kirche:

Basilius hatte viel Gutes getan in seinem Leben und sich ganz auf Gottes Gnade verlassen. Als er stirbt, wird er zur Pforte der Ewigkeit gebracht. Der Himmel wartet auf ihn. Aber durch ein Versehen des Pförtners kommt Basilius in die Hölle. Inmitten der Flammen sitzt er da, von höllischem Feuer und qualvollem Geschrei umgeben. Basilius versteht das nicht, aber er tut, was er im­mer getan hat, er beginnt, Gott zu loben. Er lobt Gott für seine Gnadenerweisungen.

Und je mehr er Gott lobt, desto kleiner werden die höllischen Flammen, desto mehr erstirbt das leidvolle Geschrei um ihn her. Ganz erschrocken funkt der Oberteufel in den Himmel: „Holt schleunigst den Basilius ab, der macht uns die ganze Hölle kaputt.“

Der Teufel hat verloren. Die Machtfrage ist geklärt – für Basilius und auch für uns. Amen.

 

 



Pastor der Ev.-ref. Kirchengemeinde Stapelmoor und Präses des Synodalverbands Rheiderland der Ev.-ref. Kirche Manfred Gerke
Weener
E-Mail: Gerke.Manfred@t-online.de

(zurück zum Seitenanfang)