Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Invokavit, 22.02.2015

Die Erhabenheit Gottes und die Tiefe des Glaubens
Predigt zu Matthäus 4:1-11, verfasst von Kay-Ulrich Bronk

Liebe Gemeinde,

man kann viele moralische Predigten über die Versuchung Jesu halten, die von Schokolade, Fernsehen, Alkohol oder Erotik handeln und wie man widersteht, Predigten über das Maßhalten. Aber geht es wirklich nur um die Zähmung von Sinnlichkeit in dieser Geschichte? Die kann richtig und wichtig sein. Keine Frage. Aber solche Deutungen hinterlassen den Eindruck, dass etwas Entscheidendes nicht gedacht und nicht gesagt wird. Die Geschichte von der Versuchung Jesu stellt drei Grundfragen: Woran hängen wir unser Herz? Wie viel Freiheit vertragen wir? Und schließlich: Kann man Gott glauben, der - groß und mächtig wie er ist - den Teufel auf Jesus los lässt?  

Ich anmaße mir nicht, irgendetwas sagen zu können, das darauf Anspruch machen könnte, eine gültige Antwort zu sein. Ich taste im Dunklen. Das ist überheblich genug. Darum hole ich mir Hilfe.  

II.

In Dostojewskijs Roman “Die Brüder Karamasow” erzählt einer der Brüder, Iwan seinem frommen Bruder Aljoscha, eine Geschichte, die er sich ausgedacht hat. Christus kehrt zurück auf die Erde nach Sevilla. Er erweckt ein totes Mädchen wieder zum Leben als gerade der Kardinal Großinquisitor des Weges kommt. Er lässt den wiedergekommenen Christus sofort einsperren und als Ketzer verurteilen. In der Nacht vor der geplanten Hinrichtung besucht er den Wiedergekommen in seiner Zelle.

Es folgt ein großartiger Monolog, der mit Christus abrechnet, gerade weil er den Versuchungen widerstanden hat. Die Angebote des Teufels waren doch klug. Sie zeugen von großer Menschenkenntnis, sagt der greise Großinquisitor sinngemäß. Brot, Wunder und Macht. Damit hätte Christus alle menschlichen Bedürfnisse befriedigen und die Menschheit befrieden können. Stattdessen habe er diese Möglichkeiten ausgeschlagen, um den Menschen eine Freiheit zu schenken, die sie völlig überfordere.

„Siehst Du die Steine in dieser nackten und glühenden Wüste?“, zitiert der Inquisitor die Erzählung, „… verwandle sie in Brote, und die Menschheit wird Dir nachlaufen wie eine Herde, dankbar und gehorsam, wenn sie auch ewig zittern wird, Du könntest Deine Hand zurückziehen, und Deine Brote würden ein Ende nehmen. Doch Du wolltest den Menschen nicht der Freiheit berauben und lehntest den Vorschlag ab, denn was wäre das für eine Freiheit, dachtest du, wenn der Gehorsam mit Broten erkauft würde“

„Du willst in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit dem vagen Versprechen einer Freiheit, das sie in ihrer Einfalt und angeborenen Zuchtlosigkeit nicht einmal begreifen können, vor dem sie sich fürchten und das sie beängstigt - denn nichts ist jemals dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft unerträglicher gewesen als die Freiheit.“ „Die Unfreiheit dieser Schwachen ist eigentlich ihr Glück. „Mache sie zuerst satt, und dann verlange von ihnen Tugend!“

Der greise Kardinal fügt noch etwas hinzu. Er hält Jesus vor, dass er außerdem die Gewissen der Menschen hätte entlasten sollen. „Nichts kann den Menschen mehr verführen als Gewissensfreiheit, aber auch nichts ist qualvoller für ihn. Doch statt ihm die Grundlagen zu geben, damit er sein Gewissen ein für allemal beruhigen kann, wiesest Du ihm alles zu, was es an Ungewöhnlichem, Rätselhaftem und Unbestimmtem gibt, alles, was über die Kräfte der Menschen geht. Du handeltest also, als liebtest Du sie überhaupt nicht …“. Die Macht über Brot und Gewissen. Aber Christus widerstand.  

 

Und warum ist Jesus nicht von der Zinne des Tempels gesprungen? Der Inquisitor hält Christus vor, dass er von den Menschen einen Glauben erwartet habe, der ohne Wunder auskommt. „ … du wußtest nicht, daß der Mensch, sobald er das Wunder ablehnt, auch Gott ablehnt, denn den Menschen verlangt es nicht so sehr nach Gott als nach Wundern.“

Und schließlich hätte Christus die weltliche Macht nicht abweisen sollen. „Hättest Du die Welt und den Purpur des Kaisers angenommen, so hättest Du ein Weltreich begründen und der ganzen Welt Ruhe bringen könne. Denn wer anders sollte denn über die Menschen herrschen, wenn nicht die, in deren Händen ihr Gewissen und ihr Brot sind?“

Die Pointe der Rede ist, dass Menschen wie der Großinquisitor, die Kirche, die Macht und die Möglichkeiten an sich genommen habe, die Christus verweigert hat: „Oh, wir werden sie davon überzeugen, daß sie erst dann frei sein werden, wenn sie zu unseren Gunsten auf ihre Freiheit verzichtet und sich uns unterworfen haben.“ „Sie werden schüchtern werden und zu uns emporblicken und sich in ihrer Angst an uns schmiegen wie die Küken an die Glucke.“

 

III.

Sind wir so? Arme Küken? Hängen wir unser Herz ans Brot, an eine warme Stube und an ein gutes Einkommen? Na klar tun wir das! Wie könnte es anders sein? Denn es sind ja die Bedingungen unseres Überlebens. Brot, Wärme, Einkommen sind notwendige Gnadengaben des Lebens. Selbstverständlich hängen wir unsere Herzen daran. Der Mangel an Brot, Wärme und Einkommen ist ganz und gar nicht erstrebenswert. Er ist schrecklich. Die Bilder von Hunger und Mangel in der Welt sind allgegenwärtig. Zu Recht muss allem Mangel der Kampf angesagt werden. Und wünschen wir uns nicht tatsächlich manchmal eine Autorität, die uns sagte, was richtig und falsch ist, und uns von Gewissensnöten befreite? Und gibt es nicht tatsächlich eine Sehnsucht nach einem klaren, gewissen Glauben, der über alle Zweifel erhaben ist, einen beweisbaren Glauben, den man demonstrieren kann, einen Glauben, den man anderen zeigen kann: „Da seht her, hier ist die Wahrheit, ihr könnt sie nicht übersehen. Hier ist das Wunder, hier ist Gott.“ Sehnen wir uns schließlich nach dem Purpur der Macht? Imponieren uns nicht insgeheim das Machtwort und die mächtige Tat? Jedenfalls dann wenn sie dem Bösen widerstehen wollen? Wir gingen in diesem Fall vielleicht ja doch auf die Knie und beugten uns den Teufeleien, die wir damit einkaufen? Jesus geht nicht auf die Teufelei ein.

Aber worin bestehen sie eigentlich? Sie bestehen zunächst darin, den Menschen zu einem Wesen zu machen, das in der Befriedigung biologischer Bedürfnis aufgeht. Der Mensch wird beim Teufel zu einem Triebwesen mit großer sinnlicher Oberfläche - aber ohne Tiefe. Der Mensch braucht aber Tiefe. Der Mensch lebt davon, „ … daß sein Leben einen Sinn hat, davon, daß es Gott gibt, davon, daß Gott ihn meint und mit ihm redet …“. (Eugen Drewermann) Der Mensch braucht ein tiefgehendes Vertrauen zu seinem Schöpfer. Er braucht Ziele, Liebe, Freiheit und Vergebung, wenn er sich in seiner Freiheit verfehlt. Satt zu sein ist etwas Schönes, aber noch keine Erfüllung.    

Jesus verachtet das Brot nicht. Man denke an die Geschichte vom Brotwunder. Aber er meinte, dass es etwas gäbe, das tiefer, höher und weiter reicht als das Brot. Jesus bestritt auch nicht, dass Gottes Engel den Fallenden auffangen können. Aber er meinte, dass das Wunder sich unserer frommen Kalkulation entzieht. Wir können nicht auf das Wunder pochen. Es käme vielmehr darauf an „Gott so zu lieben, daß es seiner Geschenke nicht mehr bedarf, um ihm zu vertrauen. So erst läßt man sich fallen in Gott, und so erst findet man seinen Schutz in Gott“, wie der Theologe Eugen Drewermann es einmal formuliert hat. Christus hat auch nie bestritten, dass es weltliche Mächte geben müsse, weshalb dem Kaiser zu geben wäre, was des Kaisers ist. Aber er meinte, dass Kniefall und Anbetung, nur Gott zustünden. Die Ehrfurcht, die im 1. Gebot steckt, komme nur dem Urgrund aller Dinge selbst zu, auch diesem nur das bedingungslose Vertrauen, in dem wir uns wie ein Kind an die Hand nehmen und manchmal in dieselbe fallen lassen. Es gebührt nur Gott.  

Und so wäre aus Jesu Antworten zu lernen, dass über allem, woran wir unser Herz alltäglich hängen, noch ein Größeres waltet: ein Gott hinter und über unseren Alltagsgöttern, die unseren Ängsten und Bedürfnissen zu Diensten sind; ein Gott der nicht in der Dinglichkeit von Brot, Wundern und Macht aufgeht; ein Gott, der nicht hier oder da ist; ein Gott, der nicht einfach dieses tut und jenes unterlässt; ein Gott, der nicht konkret wie ein Götze ist; ein Gott, vor dessen Geheimnis und Erhabenheit wir zwar erschrecken, der uns aber zu einem verantwortlichen Glauben herausfordert. Dieses Geheimnis und diese Erhabenheit verweisen uns nun an den Erzählrahmen der Geschichte.

 

IV.

„Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde.“ Das ist ein erstaunlicher, ein erschreckender Satz. Denn er legt die Frage nahe, wer Jesus in der Wüste versuchte? Konnten diese Teufeleien – im Bild gesprochen – an Gott vorbei geschehen? Geschah hier etwas, das Gott eigentlich nicht wollte? Oder geschah hier etwas, das mit Gottes Billigung oder sogar auf Gottes Veranlassung hin geschah? Der erste Vers der Geschichte legt diese Vermutung tatsächlich nahe. Christus wird von Gott ausgeliefert.

Eine Rückblende. Im Alten Testament steht die andere große Versuchungsgeschichte. Es ist die Erzählung von Hiob, diesem gottesfürchtigen und gerechten Mann, an dem Gott seine Freude hat. Aber der Teufel sät Zweifel. Hängt nicht die Frömmigkeit des Hiob an seinem Reichtum und Wohlergehen, fragt er. Was, wenn Gott ihm alles nähme? Was würde dann von seinem Glauben übrig bleiben? Ist sein Glaube wirklich bedingungslose Gottesliebe oder schlicht das Ergebnis erwiesener Wohltaten?

Es geschieht das Unerhörte. Gott überantwortet das Schicksal Hiobs dem Teufel. Er solle ihn ruhig prüfen – nur sein Leben soll unangetastet bleiben. Der Teufel leistet, mit Gottes Billigung, ganze Arbeit. Hiob wird alles genommen. Er verliert seinen Besitz, seine Kinder und seine Gesundheit. Aber Hiob besteht die grausame Prüfung. Er sagt. „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt.“ (Hiob 1,21) Und an anderer Stelle: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (Hiob 2,10)

Das ist eine dramatische Geschichte. Sie erzählt nicht weniger, als dass Gott selbst der Versucher ist. Hiob sieht das jedenfalls so. Hiob lässt sich nicht täuschen. Für Hiob ist Gott Geber und Zerstörer zugleich, ein gnädiger und ein fürchterlicher Gott. Er zerreißt Gott nicht in einen himmlischen Vater und einen Teufel. Er hält an seiner Einheit fest. Daher beklagt Hiob sich bei seinen drei Freuden über den einen Gott, der der seine ist: „Denn die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir … und die Schrecknisse Gottes sind auf mich gerichtet.“ (Hiob 6, 4) Der Teufel ist bei Hiob nur die Larve für eine dunkle Seite Gottes.

Später wird der Kirchenvater Augustin in seinen Bekenntnissen ebenso verzweifelt nach der Herkunft des Bösen so fragen: „Ist der Teufel der Urheber, nun woher stammt denn der Teufel? Und wenn er selbst erst durch Verkehrung seines Willens aus einem guten ein böser Engel ward, woher kam ihm dieser böse Wille, durch den er zum Teufel ward …. ?“ Und Martin Luther riskierte den Satz: „Sofern Gott in allem der Bewegende und der Wirkende ist, ist er es notwendig auch in Satan und im gottlosen Menschen.“ (in: Vom unfreien Willen) Und wir beten im Vaterunser ja vielleicht nicht ohne Grund: „und führe uns nicht in Versuchung.“

Damit stellt sich die Frage, wieso lässt Gott den Teufel von der Leine? Und nur um ein paar Millimeter davon entfernt ist die Frage: Wie kann Gott Böses zulassen? Das ist eine bedrängende Frage. Viele meiden diese Frage aus gutem Grund. Wir finden nämlich keine Antwort, die uns beruhigen könnte. Vielleicht sollte man tatsächlich besser davon schweigen. Die Bibel tut es nicht. Fassen wir uns ein Herz und fragen einmal: Wie aber, wenn Jesus in der Wüste Gott selbst begegnet ist? Wie aber, wenn der Prophet Amos mit seinem furchterregenden Satz Recht hätte: „Ist etwa ein Unglück in der Stadt, dass der Herr nicht tut“, (Amos 3,6) Wie aber, wenn es wirklich auch kein böses Geschehen gäbe, das völlig außerhalb von Gott wäre? Können wir Gott dann vertrauen?

 

V.

Martin Luther hat mit dieser Frage gerungen. Er meinte, dass wir sie nicht ignorieren können. Wir müssen sie denken und sagen können. Wir müssten aber sofort anerkennen, dass sich Gott uns in seiner Erhabenheit und Majestät entzieht. Wenn wir von Gott reden, dann reden wir von einer Dimension des Lebens, die größer, weiter und tiefer ist als alles, was wir erkennen oder uns ausdenken können. Wir reden von einer Dimension, die zugleich in, an und über allen Dingen ist. Wir reden von einer Größe, die alles, was es gibt, umfasst und nichts fallen lässt – auch nicht die Teufeleien des Versuchers in der Wüste. Diese Dimension ist nicht zu fassen. Sie geht nicht auf in unserem menschlichen Reden von Gott. Sie geht nicht auf in unseren Vorstellungen von Gut Böse. Es gibt immer einen großen geheimnisvollen, dunklen Überschuss. Daher können wir nicht beanspruchen, die Majestät des Göttlichen erforschen oder ihr auf den Grund gehen zu können. Wir können uns ihr nur mit einem letzten kreatürlichen Respekt (Karl Rahner) nähern, wie Abraham als er Gott für die Bewohner Sodoms in den Ohren liegt. „Ach siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin.“ (1. Mose 18,27) Wir können uns vor der Majestät des Göttlichen nur verneigen.

Können wir aber Gott, dieser Dimension des Allgegenwärtigen und Allwirksamen, vertrauen? Luthers Antwort lautet, dass wir das in einer bestimmten Hinsicht sehr wohl können. Wir sollten uns mit unserem Vertrauen - ganz und gar und vorbehaltlos - auf Jesus Christus beziehen. Das klingt in Luthers Schrift „Vom unfreien Willen“ so: „Wir sagen noch einmal, daß man den geheimen Willen des erhabenen Gottes nicht ergründen kann noch soll. Der Mensch, der gern verwegen zudringt und in seinem Unverstand immer wieder, statt das Notwendige zu bedenken, das Unerreichbare sucht und angreift, muß sich zurückhalten und bescheiden. Er darf sich nicht damit befassen, die Geheimnisse des Erhabenen zu erforschen, der, wie Paulus sagt, in einem Lichte wohnt, da niemand zukommen kann (1. Tim. 6,16). Der Mensch befasse sich vielmehr mit dem fleischgewordenen Gott, mit Jesus, dem Gekreuzigten, in dem alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen liegen (Kol. 2,3).“ Dieser „ … gepredigte Gott geht darauf aus, Sünde und Tod zu vertreiben und die Menschen selig zu machen“.

Es ist wie wenn man durch einen dunklen Wald ginge und nicht Hand vor Augen sieht und plötzlich auf eine Lichtung kommt. Die Dunkelheit des Waldes weicht und es wird hell. Seine Schweigsamkeit endet und ein freundlicher Wind rauscht durch die Blätter. So finden wir den menschenfreundlichen Gott im Leben Jesu - mitten im Unergründlichen. Die Mächtigkeit des Urgrundes aller Dinge zeigt uns in Jesu Leben ein freundliches Antlitz: in der Zuneigung für die Kranken, für die Schuldbeladenen, für die Ausgegrenzten und schließlich in der Auferstehung. Da kommt ein ferner Gott ganz nah. Aus dem Gott über uns wird ein Gott für uns. Majestät verwandelt sich in Barmherzigkeit. Macht erscheint als Liebe. Vor dieser Verwandlung kann man auch den berühmten Ausruf Hiobs verstehen: „Aber ich weiß, daß mein Erlöser lebt“. (Hiob 19,25)

Diese Sätze klingen nun irgendwie doch nach Antworten, wie Merksätzen aus einem Katechismus. Das ist aber nicht ihr Anspruch. Sie beschreiben vielmehr, wie wir ohne Antworten vor dem großen Geheimnis Gottes leben können. Sie sind Ausdruck einer einfachen Lebens-und Glaubenserfahrung. Sie lautet: was uns zu schwer ist, das dürfen wir ablegen. Wir können das Geheimnis Gottes nicht ergründen. Wir können Gottes Liebe nicht mit dem Bösen in der Welt abgleichen. Das ist zu schwer. Luther meinte, dass wir diese Fragen zwar wissen, uns dann aber an das halten sollten, was uns Halt gibt: Jesu Leben, Sterben und Auferstehen. Hier sei ein Raum, der sich uns öffnet und in dem Gewissheit und Glauben wachsen können. Nicht dass sich damit alle Fragen erledigt hätten. So einfach ist es nicht. Aber wir können unsere Fragen erst einmal in diesen Raum hineintragen und ihre drückende Last loswerden. Nur die Mühe, die Lasten dahin zu tragen, bleibt uns nicht erspart.      

VI.

Die Erzählung vom Großinquisitor endet so: „Nachdem der Inquisitor verstummt ist, wartet er eine Weile, was sein Gefangener ihm antworten werde. Dessen Schweigen bedrückt ihn. Er hat bemerkt, wie der Gefangene ihm die ganze Zeit über zugehört hat und eindringlich und ruhig in die Augen geblickt hat und ihm offenbar nichts hat entgegnen wollen. Der Greis möchte, daß Er ihm etwas sage, sei es auch etwas Bitteres, Furchtbares. Er aber nähert sich schweigend dem Greis und küßt ihn still auf seine blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist seine ganze Antwort.“

Die Unbegreiflichkeit Gottes findet in einer Geste der Liebe, die noch den greisen Inquisitor erreicht, eine Antwort. Der erhabene Gott öffnet ein Fenster, durch das es hell wird. Der Greis fährt unter dem Kuss zusammen als hätte ihn ein Licht geblendet.    

„Siehe ... (Gott) steht und ist bereit, in Gnaden zu helfen, und durch die Fenster des dunklen Glaubens lässet er sich sehen“, schreibt Martin in seiner Schrift „Von den guten Werken.“ Er lässt sich sehen und in seinem Licht sehen wir das Licht (vgl. Ps 36,10): wir erkennen das Gute und Schöne dieser Welt, die tausendfachen Gnaden, von denen wir leben und die unergründliche Liebe, die uns gilt. Jesu Botschaft handelt davon.

Es ist die Tiefe und die Weite unseres Glaubens, dass er die Majestät des Göttlichen achtet und sich zugleich an den Vater Jesu Christi hält. Er verneigt sich vor dem Einen und hängt das Herz an den Anderen - und weiß gleichzeitig, dass beide, die Majestät und die Liebe, auf unerklärliche Weise Eines sind. Es ist die Tiefe und die Weite unseres Glaubens, dass wir uns diese Spannung nicht abmarkten lassen: auch nicht mit Brot, Wundern und Machtworten.  

                                    

                                                                                                               Amen



Propst Dr. Kay-Ulrich Bronk
Niebüll
E-Mail: propst.bronk@kirche-nf.de

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