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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Invokavit, 22.02.2015

So wird das mit der Zeit
Predigt zu Matthäus 4:1-11, verfasst von Wolfgang Petrak

 

Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn.

Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“

Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: „Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“ Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“

Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“

11Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm.

 

Liebe Gemeinde,

 

Bilder der Zeit. Nicht dass der Verleumder zu sehen zu sehen wäre; auch der Herr entzieht sich den vorstellenden Blicken, ist es doch der Geist, der bei seiner Taufe über ihn gekommen war und der ihn auf diesen Weg geführt hat. Doch wir haben die Worte der Schrift, die sich aneinander reiben, um am Ende die Klarheit des Herrn einzufordern. Und wir haben in unserer Vorstellungswelt Bilder, die sich anmelden, um die Zeit kenntlich zu machen. So sehen wir irgendwie: die Wüste. Den Tempel, unter dessen Zinnen sich ein Abgrund auftut. Und jenen Berg, der alles überragt und deshalb Ort des Heiligen und der gebotenen Wahrheit sein müsste.

 

In Wirklichkeit stehen uns immer Bilder zur Verfügung, um die Zeit zu beschreiben. Im Internet sind sofort abrufbar: Bilder von Donezk. Ich kann ein Gebirge sehen (wahrscheinlich in der weiteren Umgebung): hinter langsam ansteigenden Wäldern erheben sich schroffe weiße Kalkfelsen, oben ein Plateau, von dem man Ausschau halten könnte, weit in das Land hinein. Ich kann mitten in der Stadt eine Kirche mit vergoldeten Kuppeln bewundern, die sich prachtvoll vor dem klaren blauen Himmel abheben; ich kann in die weite Ebene hineinsehen, mit ihren Abraumhalden und Industrieanlagen, könnte vielleicht auch das Stadion von Shaktar Donezk ausmachen, in dem heute Abend Bayern München spielen sollte, das Spiel wird aber in Lwiw ausgetragen. Weil die Zeit so ist. Gestern war zu sehen, wie ukrainische Soldaten vor ihren Panzern Fußball spielten. Weil die Zeit anders werden sollte. Ob sie heute auch noch spielen? Heute hingegen stieg in der Ebene von Debalzewe ein in den blauen frostklaren Himmel steigender Feuerball hinan: eine Öl-Pipeline ist von Granaten getroffen worden. Der Kampf um Debalzewe, diesem strategisch wichtigen Verkehrskotenpunkt, ist eröffnet. Und morgen? Die vereinbarte Feuerpause und die mühsamen Schritte in Richtung Entspannung: ist alles wieder dahin, sind die Worte der so mühsamen Verhandlungen vergebens, die Erklärungen ihr Papier nicht wert, weil alles durcheinander geworfen ist?

 

Nein, wir können ihn nicht sehen, den ‚diabolos’, den Verleumder, der so heißt, weil es diese Macht ist, die alles durcheinander wirft, alles verkehrt, beschuldigt, um Feindschaft zu säen. Und könnten wir ihn erkennen, ihn, der sich diesem Widersacher nicht einfach aus freien Stücken gestellt hat, sondern stellen musste, weil es um die Versuchung geht, die in seinem Sein, in seiner Gottes Sohnschaft liegt, - könnten wir ihn sehen, wenn wir mit den Menschen dort im Osten der Ukraine hoffen, dass die Stille nicht durch zerplatzende Geschosse geraubt wird, wenn wir in diese Ebene hineinsehen, die durch Menschen zur Wüste wird, wenn wir auf die Kathedralen und Klöster sehen, die stumm geworden zu sein scheinen, wenn wir das ferne Bergmassiv erblicken, dessen Schönheit sich wie ein stummer Protest gegen das, was getan wird, abhebt? Nein, sehen können wir nicht, aber wir können in die Zeit hinein hören, könnten auch vernehmen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt und dass wir Gott nicht versuchen sollen und dass es nur einen gibt, der der Herr ist. Und wenn wir hören, dann müssen wir reden. Von ihm. Und wie?

 

Ich muss an die Studienzeit zurückdenken, also viele Jahre zurück. Wie wir damals in Göttingen an den neuen Plastiktischen im neuen Theologicum und an den weißgescheuerten im Kleinen Rathskeller gesessen und ungeschützt über Gott und die Welt stritten hatten. Wir hatten Conzelmann gehört und Bultmann gelesen, einige aber auch Jüngel und Käsemann: Alles zur Kenntnis genommen. Sackgassen im Streit um den historischen Jesus. Dessen apokalyptischer Horizont: fremd und in seinen mythologischen Ausformungen unzugänglich und deshalb auch scheinbar interpretationsbedürftig. Bekannt und unmittelbar einleuchtend hingegen das Handeln des einzigartigen Mannes aus Nazareth: mit Vollmacht sein Ruf zur Umkehr, also zur Freiheit, durch die Zeit zu hören, provokant sein Eintreten für die Armen und Entrechteten, evident politisch sein Konflikt mit der römischen Staatsmacht. Zu diesen Auseinandersetzungen an den Tischen gehörten die Aufnahme und Einarbeitung der politischen Infos, die Schärfung des Gewissens und der Entwurf eines globalen Bewusstseins in neuer Zeit. Damals, als Bomben auf Haiphong gefallen waren, damals, als wir über den Sechs-Tage-Krieg Israels gegen seine arabischen Nachbarn irritiert und schockiert waren; damals, als wir erschrocken und traurig zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Freiheitsbewegung in der CSSR durch ein Einmarsch sowjetischer Truppen und ihrer Verbündeten gewaltsam beendet worden war. Ziele der Gedanken und ihrer aktionistischen Entsprechungen: gewiss Aufklärung, Abschaffung des Unrechts und überhaupt allen Leidens, aber dahinter die Suche nach einer unverstellten, bejahenden Menschlichkeit. Deshalb war mir der Gedanke Rudolf Bultmanns unmittelbar einleuchtend, den er in anderer Zeit formuliert hatte und den ich in meiner Zeit verkürzt so aufgenommen hatte: von Gott redet die Theologie, indem sie vom Menschen redet. Doch Jesus hatte zu Petrus gesagt:„Geh hinter mich, Satan! denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“( Mk 8,33).

 

Wie: Ist also das, was menschlich ist, des Teufels, der Ausdruck des Fürst dieser Welt und seines Machtbereiches? Mit anderen Worten: Wird das Menschliche, Allzumenschliche durch unseren Herrn hintangestellt?

 

In diesen Wochen und Monaten, in dieser Zeit, in der es einem oft genug schwer fallen kann, sich Nachrichtensendungen anzusehen oder Meinungen und Analysen über das Geschehen in der Welt zu verfolgen, in dieser bleiernen Zeit habe ich Thomas Mann gelesen, Dr. Faustus, bin den langen Sätzen und kunstvoll verwobenen Gedanken und Anspielungen nachgestiegen, um zu verstehen, warum der der deutsche Tonsetzer Adrian Leverkühn, dargestellt durch die Beobachtungen seines Schulfreundes Senerus Zeitblom, diesen Teufelspakt eingeht, sei es durch fiebrige Wahnsvorstellung in Palestrina, sei es durch den inneren Zwang, durch die Ausdrucksfülle neu zu komponierender Musik sich der Welt als Klangraum zu bemächtigen, also um die ganze Welt zu gewinnen, auch wenn die Seele daran schaden nimmt... Es ist der Versuch der Beschreibung einer Innenseite Deutschlands, deren Ausdruck die zerstörerische Gewalt des Nationalsozialismus gewesen ist. Lesend begegnend man jener Macht, die der Herr bei Petrus hintan gestellt wissen will. Doch sie ist da, und so geht Adrian Leverkühn als Student der Theologie in Halle zunächst zum Professor Ehrenfried Kumpf, um bei ihm Dogmatik und Ethik zu hören, sicherlich dadurch fasziniert, wie der gelahrte Professor der sich gern mit scheinbar lutherischer Beredsamkeit und Sprache sich der Rationalität bibelkritischer Vernunft öffnen und die Bedeutung des Widersachers für eher symbolisch halten konnte, andererseits aber selbst den „Schädling mit Teubel und Meister Klepperlin“ zum Ausdruck bringen konnte, also ironisch distanziert, so dass alles lachte, halb fasziniert von der Unheimlichkeit dämonischer Mächte war. Vor allem aber faszinierte er den Studiosus den Studiosus durch die Imitation lutherischer Tischreden, die er mit Gelagen und entsprechenden Reden zu verbinden wusste. So fasst er „eine Frau um die Hüften… und wies mit dem gepolsterten Zeigefinger in einen schattigen Winkel: Seht, da steht er im Eck, der Speivogel. Soll uns aber nichts anhaben. Age“. Er schmeißt zur Bekräftigung und zur scheinbaren Befreiung nun nicht gerade ein Tintenfass, wohl aber einen Semmel gegen die Wand, um „danach in die Saiten zu greifen und zu singen: Wer recht in Freunden wandern will“(Thomas Mann, Dr. Faustus, S.146). Ziemlich menschlich kommt dieser Ehrenfried Kempf daher, fast fröhlich-pfiffig und lebensbejahend .Er ist eingebunden in der Sprache der Tradition und bekennt sich zu den Grundbedürfnissen des Lebens: „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, bleibt ein Narr sein Leben lang“ (a.a.O).Wenn aus Steinen Brot würde, wäre es ihm gewiss recht. Thomas Mann hat mit Kempf nicht Martin Luther karikiert, sondern einen dumpfen deutschen Nationalismus männlich-sexistischer Ausprägung als Voraussetzung für die Macht des Nationalsozialismus. Es ist das Bedrückende an unserer Zeit, das Nationalismus wieder plausibel erscheint, als Suche nach Einheit, scheinbar religiöser Vergewisserung durch Abgrenzung und Dominanzsicherung gepaart mit Symbolen männlicher Macht: dass ein Präsident dem anderen zum Staatsbesuch eine Kalaschnikow schenken kann! Dass panhellenistische Träume genauso möglich sind wie die Idee eines rein türkischen Istanbul wie in Dresden die Warnungen vor der scheinbaren Überfremdung Deutschlands: Es ist so wie im 19. Jahrhundert. Menschliches, das in Katastrophen führte. Der Terror des IS ist Gegenwart. Dr. Faustus ist der Erklärungsroman einer Weltzeit, die noch nicht abgeschlossen und hintan gestellt ist.

 

Mir geht Dr. Schleppfuß durch den Kopf, der Religionspsychologie lehrt, aber die dialektische Einheit von Gut und Böse nachweist, weil Heiligkeit ohne Versuchung nicht denkbar ist. Diese Logik gegenseitigen Bedingens produziert ein geschlossenes System, in dem möglich und alles erlaubt ist. Die mitgedachte Gegenteiligkeit hat eine diabolische Dimension. Das Kalkül des Versuchers: Wenn der Sohn Gottes sich zum Erweis seiner Herkunft von den Zinnen des Tempels stürzt, verliert er seine Macht, weil er auf einen Beweis angewiesen ist. Das Kalkül der Kriegsparteien in der Ukraine: durch die Angriffshandlungen der Gegner sich in der Anwendung von Gewalt gerechtfertigt zu sehen.

 

Schließlich begegnet zum Ende des Romans ein gewisser polyglotter Weltmann namens Fitelberg, der als Konzertagent Leverkühn reizt, als Komponist die Welt zu gewinnen: er sagt zu dem im abgeschiedenen Kirchdorf lebenden Leverkühn: „Wie lange leben sie schon hier? Ich bin gekommen, sie zu entführen, sie auf meinem Mantel durch die Lüfte zu führen und Ihnen die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit zu zeigen, mehr noch, ihnen zu Füßen zu legen…Ich werde sie nach Paris führen, nach Brüssel, Antwerpen, Venedig, Kopenhagen. Man wird sie mit dem intensivsten Interesse empfangen. Ich stelle ihnen die besten Orchester und Solisten zur Verfügung“(579.583). Der Traum vom globalen Erfolg. Das diabolische Angebot aller Reiche der Welt und ihrer Herrlichkeit ließ laut einher grölen:„Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“. Der narzistische Erfolgswunsch ist der Grund für die schrankenlose Ausweitung. Es ist menschlich, wenn das Kind sagt: ich kann alles. Und meint: ich will alles. Es wird lernen müssen, dass es Grenzen gibt. Und dass es selbst begrenzt ist. Die Erwachsenen müssen es erst recht lernen. Der (kindlichen) Maxime ‚Verwirkliche dich selbst’ wird der Herr die Ankündigung seiner Passion und den Aufruf zur Nachfolge gegenüberstellen: „Folge mir nach“. So verändert sich unsere Perspektive: Er geht uns voran durch die Zeit voran; wir sind aufgefordert, ihm nachfolgen, damit wir endlich erkennen, wo wir stehen: der Mensch vor Gott. (Übrigens: so hatte Bultmann es gesagt). Oder mit Paulus: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind. Da ich ein Mann war, legte ich ab, was kindlich war. Jetzt erkenne ich stückweise“ (1.Kor 13,12). Leben in der in der Begrenztheit und Partikularität. Wie lernt man eigentlich Grenzziehungen? Wie lernt man, sie zu respektieren? Abzugrenzen ohne zu verletzten. Diese Aufgabe wird lösen sein, wenn die Menschen in der Ukraine sicher leben wollen.

 

Leben in begrenzter Existenz. Noch einmal der Tonsetzer Adrian Leverkühn. Er, der sich ganz menschlich, um sich auszuweiten, den diabolischen Mächten verschrieben hatte, kann nicht mehr. Sein letztes Werk, D.Fausti Wehklag, kann nicht mehr groß aufgeführt werden. Vielleicht nur ein paar Freunde, die hören sollen und mit ihm wachen.. Er bittet: „Hört nur den Schluss, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrig bleibt , womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr -Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem die Seele noch nachlauscht, und der der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht“. (711)

 

So ist es mit der Zeit. Mit uns und mit ihm. Es kann was werden. Denn es ist klar: Er allein ist der Herr. Amen

 

 

Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn.

Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“

Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: „Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“ Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“

Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“

11Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm.

 

Liebe Gemeinde,

Bilder der Zeit. Nicht dass der Verleumder zu sehen zu sehen wäre; auch der Herr entzieht sich den vorstellenden Blicken, ist es doch der Geist, der bei seiner Taufe über ihn gekommen war und der ihn auf diesen Weg geführt hat. Doch wir haben die Worte der Schrift, die sich aneinander reiben, um am Ende die Klarheit des Herrn einzufordern. Und wir haben in unserer Vorstellungswelt Bilder, die sich anmelden, um die Zeit kenntlich zu machen. So sehen wir irgendwie: die Wüste. Den Tempel, unter dessen Zinnen sich ein Abgrund auftut. Und jenen Berg, der alles überragt und deshalb Ort des Heiligen und der gebotenen Wahrheit sein müsste.

In Wirklichkeit stehen uns immer Bilder zur Verfügung, um die Zeit zu beschreiben. Im Internet sind sofort abrufbar: Bilder von Donezk. Ich kann ein Gebirge sehen (wahrscheinlich in der weiteren Umgebung): hinter langsam ansteigenden Wäldern erheben sich schroffe weiße Kalkfelsen, oben ein Plateau, von dem man Ausschau halten könnte, weit in das Land hinein. Ich kann mitten in der Stadt eine Kirche mit vergoldeten Kuppeln bewundern, die sich prachtvoll vor dem klaren blauen Himmel abheben; ich kann in die weite Ebene hineinsehen, mit ihren Abraumhalden und Industrieanlagen, könnte vielleicht auch das Stadion von Shaktar Donezk ausmachen, in dem heute Abend Bayern München spielen sollte, das Spiel wird aber in Lwiw ausgetragen. Weil die Zeit so ist. Gestern war zu sehen, wie ukrainische Soldaten vor ihren Panzern Fußball spielten. Weil die Zeit anders werden sollte. Ob sie heute auch noch spielen? Heute hingegen stieg in der Ebene von Debalzewe ein in den blauen frostklaren Himmel steigender Feuerball hinan: eine Öl-Pipeline ist von Granaten getroffen worden. Der Kampf um Debalzewe, diesem strategisch wichtigen Verkehrskotenpunkt, ist eröffnet. Und morgen? Die vereinbarte Feuerpause und die mühsamen Schritte in Richtung Entspannung: ist alles wieder dahin, sind die Worte der so mühsamen Verhandlungen vergebens, die Erklärungen ihr Papier nicht wert, weil alles durcheinander geworfen ist?

Nein, wir können ihn nicht sehen, den ‚diabolos’, den Verleumder, der so heißt, weil es diese Macht ist, die alles durcheinander wirft, alles verkehrt, beschuldigt, um Feindschaft zu säen. Und könnten wir ihn erkennen, ihn, der sich diesem Widersacher nicht einfach aus freien Stücken gestellt hat, sondern stellen musste, weil es um die Versuchung geht, die in seinem Sein, in seiner Gottes Sohnschaft liegt, - könnten wir ihn sehen, wenn wir mit den Menschen dort im Osten der Ukraine hoffen, dass die Stille nicht durch zerplatzende Geschosse geraubt wird, wenn wir in diese Ebene hineinsehen, die durch Menschen zur Wüste wird, wenn wir auf die Kathedralen und Klöster sehen, die stumm geworden zu sein scheinen, wenn wir das ferne Bergmassiv erblicken, dessen Schönheit sich wie ein stummer Protest gegen das, was getan wird, abhebt? Nein, sehen können wir nicht, aber wir können in die Zeit hinein hören, könnten auch vernehmen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt und dass wir Gott nicht versuchen sollen und dass es nur einen gibt, der der Herr ist. Und wenn wir hören, dann müssen wir reden. Von ihm. Und wie?

Ich muss an die Studienzeit zurückdenken, also viele Jahre zurück. Wie wir damals in Göttingen an den neuen Plastiktischen im neuen Theologicum und an den weißgescheuerten im Kleinen Rathskeller gesessen und ungeschützt über Gott und die Welt stritten hatten. Wir hatten Conzelmann gehört und Bultmann gelesen, einige aber auch Jüngel und Käsemann: Alles zur Kenntnis genommen. Sackgassen im Streit um den historischen Jesus. Dessen apokalyptischer Horizont: fremd und in seinen mythologischen Ausformungen unzugänglich und deshalb auch scheinbar interpretationsbedürftig. Bekannt und unmittelbar einleuchtend hingegen das Handeln des einzigartigen Mannes aus Nazareth: mit Vollmacht sein Ruf zur Umkehr, also zur Freiheit, durch die Zeit zu hören, provokant sein Eintreten für die Armen und Entrechteten, evident politisch sein Konflikt mit der römischen Staatsmacht. Zu diesen Auseinandersetzungen an den Tischen gehörten die Aufnahme und Einarbeitung der politischen Infos, die Schärfung des Gewissens und der Entwurf eines globalen Bewusstseins in neuer Zeit. Damals, als Bomben auf Haiphong gefallen waren, damals, als wir über den Sechs-Tage-Krieg Israels gegen seine arabischen Nachbarn irritiert und schockiert waren; damals, als wir erschrocken und traurig zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Freiheitsbewegung in der CSSR durch ein Einmarsch sowjetischer Truppen und ihrer Verbündeten gewaltsam beendet worden war. Ziele der Gedanken und ihrer aktionistischen Entsprechungen: gewiss Aufklärung, Abschaffung des Unrechts und überhaupt allen Leidens, aber dahinter die Suche nach einer unverstellten, bejahenden Menschlichkeit. Deshalb war mir der Gedanke Rudolf Bultmanns unmittelbar einleuchtend, den er in anderer Zeit formuliert hatte und den ich in meiner Zeit verkürzt so aufgenommen hatte: von Gott redet die Theologie, indem sie vom Menschen redet. Doch Jesus hatte zu Petrus gesagt:„Geh hinter mich, Satan! denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“( Mk 8,33).

Wie: Ist also das, was menschlich ist, des Teufels, der Ausdruck des Fürst dieser Welt und seines Machtbereiches? Mit anderen Worten: Wird das Menschliche, Allzumenschliche durch unseren Herrn hintangestellt?

In diesen Wochen und Monaten, in dieser Zeit, in der es einem oft genug schwer fallen kann, sich Nachrichtensendungen anzusehen oder Meinungen und Analysen über das Geschehen in der Welt zu verfolgen, in dieser bleiernen Zeit habe ich Thomas Mann gelesen, Dr. Faustus, bin den langen Sätzen und kunstvoll verwobenen Gedanken und Anspielungen nachgestiegen, um zu verstehen, warum der der deutsche Tonsetzer Adrian Leverkühn, dargestellt durch die Beobachtungen seines Schulfreundes Senerus Zeitblom, diesen Teufelspakt eingeht, sei es durch fiebrige Wahnsvorstellung in Palestrina, sei es durch den inneren Zwang, durch die Ausdrucksfülle neu zu komponierender Musik sich der Welt als Klangraum zu bemächtigen, also um die ganze Welt zu gewinnen, auch wenn die Seele daran schaden nimmt... Es ist der Versuch der Beschreibung einer Innenseite Deutschlands, deren Ausdruck die zerstörerische Gewalt des Nationalsozialismus gewesen ist. Lesend begegnend man jener Macht, die der Herr bei Petrus hintan gestellt wissen will. Doch sie ist da, und so geht Adrian Leverkühn als Student der Theologie in Halle zunächst zum Professor Ehrenfried Kumpf, um bei ihm Dogmatik und Ethik zu hören, sicherlich dadurch fasziniert, wie der gelahrte Professor der sich gern mit scheinbar lutherischer Beredsamkeit und Sprache sich der Rationalität bibelkritischer Vernunft öffnen und die Bedeutung des Widersachers für eher symbolisch halten konnte, andererseits aber selbst den „Schädling mit Teubel und Meister Klepperlin“ zum Ausdruck bringen konnte, also ironisch distanziert, so dass alles lachte, halb fasziniert von der Unheimlichkeit dämonischer Mächte war. Vor allem aber faszinierte er den Studiosus den Studiosus durch die Imitation lutherischer Tischreden, die er mit Gelagen und entsprechenden Reden zu verbinden wusste. So fasst er „eine Frau um die Hüften… und wies mit dem gepolsterten Zeigefinger in einen schattigen Winkel: Seht, da steht er im Eck, der Speivogel. Soll uns aber nichts anhaben. Age“. Er schmeißt zur Bekräftigung und zur scheinbaren Befreiung nun nicht gerade ein Tintenfass, wohl aber einen Semmel gegen die Wand, um „danach in die Saiten zu greifen und zu singen: Wer recht in Freunden wandern will“(Thomas Mann, Dr. Faustus, S.146). Ziemlich menschlich kommt dieser Ehrenfried Kempf daher, fast fröhlich-pfiffig und lebensbejahend .Er ist eingebunden in der Sprache der Tradition und bekennt sich zu den Grundbedürfnissen des Lebens: „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, bleibt ein Narr sein Leben lang“ (a.a.O).Wenn aus Steinen Brot würde, wäre es ihm gewiss recht. Thomas Mann hat mit Kempf nicht Martin Luther karikiert, sondern einen dumpfen deutschen Nationalismus männlich-sexistischer Ausprägung als Voraussetzung für die Macht des Nationalsozialismus. Es ist das Bedrückende an unserer Zeit, das Nationalismus wieder plausibel erscheint, als Suche nach Einheit, scheinbar religiöser Vergewisserung durch Abgrenzung und Dominanzsicherung gepaart mit Symbolen männlicher Macht: dass ein Präsident dem anderen zum Staatsbesuch eine Kalaschnikow schenken kann! Dass panhellenistische Träume genauso möglich sind wie die Idee eines rein türkischen Istanbul wie in Dresden die Warnungen vor der scheinbaren Überfremdung Deutschlands: Es ist so wie im 19. Jahrhundert. Menschliches, das in Katastrophen führte. Der Terror des IS ist Gegenwart. Dr. Faustus ist der Erklärungsroman einer Weltzeit, die noch nicht abgeschlossen und hintan gestellt ist.

Mir geht Dr. Schleppfuß durch den Kopf, der Religionspsychologie lehrt, aber die dialektische Einheit von Gut und Böse nachweist, weil Heiligkeit ohne Versuchung nicht denkbar ist. Diese Logik gegenseitigen Bedingens produziert ein geschlossenes System, in dem möglich und alles erlaubt ist. Die mitgedachte Gegenteiligkeit hat eine diabolische Dimension. Das Kalkül des Versuchers: Wenn der Sohn Gottes sich zum Erweis seiner Herkunft von den Zinnen des Tempels stürzt, verliert er seine Macht, weil er auf einen Beweis angewiesen ist. Das Kalkül der Kriegsparteien in der Ukraine: durch die Angriffshandlungen der Gegner sich in der Anwendung von Gewalt gerechtfertigt zu sehen.

Schließlich begegnet zum Ende des Romans ein gewisser polyglotter Weltmann namens Fitelberg, der als Konzertagent Leverkühn reizt, als Komponist die Welt zu gewinnen: er sagt zu dem im abgeschiedenen Kirchdorf lebenden Leverkühn: „Wie lange leben sie schon hier? Ich bin gekommen, sie zu entführen, sie auf meinem Mantel durch die Lüfte zu führen und Ihnen die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit zu zeigen, mehr noch, ihnen zu Füßen zu legen…Ich werde sie nach Paris führen, nach Brüssel, Antwerpen, Venedig, Kopenhagen. Man wird sie mit dem intensivsten Interesse empfangen. Ich stelle ihnen die besten Orchester und Solisten zur Verfügung“(579.583). Der Traum vom globalen Erfolg. Das diabolische Angebot aller Reiche der Welt und ihrer Herrlichkeit ließ laut einher grölen:„Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“. Der narzistische Erfolgswunsch ist der Grund für die schrankenlose Ausweitung. Es ist menschlich, wenn das Kind sagt: ich kann alles. Und meint: ich will alles. Es wird lernen müssen, dass es Grenzen gibt. Und dass es selbst begrenzt ist. Die Erwachsenen müssen es erst recht lernen. Der (kindlichen) Maxime ‚Verwirkliche dich selbst’ wird der Herr die Ankündigung seiner Passion und den Aufruf zur Nachfolge gegenüberstellen: „Folge mir nach“. So verändert sich unsere Perspektive: Er geht uns voran durch die Zeit voran; wir sind aufgefordert, ihm nachfolgen, damit wir endlich erkennen, wo wir stehen: der Mensch vor Gott. (Übrigens: so hatte Bultmann es gesagt). Oder mit Paulus: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind. Da ich ein Mann war, legte ich ab, was kindlich war. Jetzt erkenne ich stückweise“ (1.Kor 13,12). Leben in der in der Begrenztheit und Partikularität. Wie lernt man eigentlich Grenzziehungen? Wie lernt man, sie zu respektieren? Abzugrenzen ohne zu verletzten. Diese Aufgabe wird lösen sein, wenn die Menschen in der Ukraine sicher leben wollen.

Leben in begrenzter Existenz. Noch einmal der Tonsetzer Adrian Leverkühn. Er, der sich ganz menschlich, um sich auszuweiten, den diabolischen Mächten verschrieben hatte, kann nicht mehr. Sein letztes Werk, D.Fausti Wehklag, kann nicht mehr groß aufgeführt werden. Vielleicht nur ein paar Freunde, die hören sollen und mit ihm wachen.. Er bittet: „Hört nur den Schluss, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrig bleibt , womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr -Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem die Seele noch nachlauscht, und der der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht“. (711)

So ist es mit der Zeit. Mit uns und mit ihm. Es kann was werden. Denn es ist klar: Er allein ist der Herr. Amen

 



Pastor i.R Wolfgang Petrak
Göttingen
E-Mail: w.petrakgmx.de

Bemerkung:
Rudolf Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: ders., Glaube und Verstehen, Bd. 1, S.25, 1966²).
Thomas Mann, Doktor Faustus, Frankfurt 2012



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