Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Okuli, 08.03.2015

Keine Angst vor Veränderung
Predigt zu Lukas 9:57-62, verfasst von Güntzel Schmidt

“Als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu Jesus: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.

Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!

Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.”

 

 

Liebe Gemeinde,

 

als Kinder spielten wir “Plumpsack”. Wir saßen im Kreis, das Gesicht nach innen gerichtet, hinter uns ging eine oder einer als Plumpsack um, und wir sangen:

         “Dreht euch nicht um,

         denn der Plumpsack geht um ...”

Der Plumpsack legte hinter einer oder einem von uns einen Gegenstand ab und lief dann los. Der, hinter dem der Gegenstand lag, musste ihn aufheben und den Plumpsack fangen, bevor der an seinem Platz angekommen war. Aber meistens war der Plumpsack schneller, und man war selber dran, als Plumpsack seine Runden zu drehen.

Plumpsack wollte niemand sein; deshalb hatte das Spiel für uns Kinder einen heimlichen Schauder, wenn man den Plumpsack hinter sich gehen fühlte – umdrehen durfte man sich ja nicht. Die Versuchung war groß, sich doch umzusehen, oder wenigstens über die Schulter zu schielen … Deshalb sangen wir: „Dreht euch nicht um …!“

 

I

“Dreht euch nicht um …!” - schon als Kind lernt man spielerisch, dass man nicht zurückschauen soll.

Und zugleich erlebt man, welchen Reiz das Zurückschauen besitzt: Man entdeckt z.B., dass die Welt ganz anders wirkt, wenn man rückwärts geht. Dass, wenn man beim Autofahren aus dem Rückfenster sieht, Straße und Landschaft immer kleiner werden, bis sie schließlich verschwinden.

Als Erwachsener erlaubt man sich diese spielerischen Rückblicke nicht mehr – beim Autofahren ist es gefährlich, zu lange in den Rückspiegel zu schauen. Trotzdem blickt man um so häufiger zurück, je älter man wird. Man erinnert sich an Vergangenes und fühlt dabei einen heimlichen Schauder, wie damals, beim Plump­sackspielen. Man taucht noch einmal in die Zeit der Kindheit, der Jugend, der ersten Liebe ein; taucht noch einmal ein in einen schönen Augenblick. Manchmal geschieht es dann, dass man sich in diese Erinnerung versenkt, bis das Vergangene nah an die Oberfläche kommt und man beinahe spüren kann, was man damals fühlte. Dann ist die Erinnerung wie eine Spiegelung auf einem Teich, in dessen schwankendem Bild man die verlorene Vergangenheit sieht, in dessen Tiefen man eintaucht und die Welt um sich herum vergisst. Mancher flüchtet auf diese Weise vor den Einschränkungen des Alters, vor dem verwirrenden und belastenden Alltag in die Erinnerung an ferne und bessere Tage, zieht sich wie eine Schnecke allmählich aus der Welt, die ihn umgibt, in die eigene, innere Welt zurück.

 

“Dreht euch nicht um ...” - die Versuchung ist groß, zurückzu­schauen. Und warum sollte man es auch nicht, wenn sich dabei angenehme Erinnerungen einstellen, wenn man sonnige, heitere Momente vor Augen hat, Erlebnisse voller Glück, voller Stolz, voller Freude?

 

II

Von der Versuchung, zurückzuschauen, erzählt auch die griechische Sage von Orpheus. Orpheus war ein Sänger, so begnadet, dass er mit seiner Musik sogar Steine erweichen konnte. Er war unsterblich verliebt in Eurydike, seine Braut. Aber der Tod entriss ihm seine junge Frau. Da machte sich Orpheus auf in die Unterwelt, um Eurydike zurückzuholen. Seine wunderbare Musik rührte sogar das Herz des Hades, des Gottes der Unterwelt. Er ließ Eurydike gehen, allerdings unter einer Bedingung: Orpheus durfte sich nicht nach ihr umdrehen, bis sie ans Sonnenlicht gelangt wären. Wie Sie vielleicht ahnen oder wissen, geht die Geschichte tragisch aus: Orpheus blickt sich kurz vor dem Ziel nach Eurydike um – und verliert sie für immer.

 

Warum blickt er zurück, fragt man sich unwillkürlich. Was hat ihn da bloß geritten? Hätte er nicht noch diesen Augenblick warten können?

 

Der Blick zurück ist offenbar mehr als das Schwelgen in vergangenem Glück, denn Orpheus hatte sein Glück ja wiedergefunden. Der Blick zurück geschieht auch aus Angst vor dem Unbekannten, das vor einem liegt. Die Ver­gangenheit kennt man; da weiß man, was man hatte. Aber was wird die Zukunft bringen? Orpheus mag sich gefragt haben, ob Eurydike noch die ist, die sie vorher war; die, in die er sich ver­liebt hatte. Er wollte sich vielleicht vergewissern, ob sie noch genauso aussah, wie er sie in Erinnerung hatte. Er konnte oder wollte offenbar den Gedanken nicht zulassen, dass sie sich verändert haben könnte. Er hatte Angst vor einer neuen, einer anderen Eurydike – und so hat er sie verloren. Denn wir bleiben nicht die, die wir einmal waren.

 

Auch das Bild vom Pflug erzählt von der Versuchung, zurückzuschauen: “Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes”, sagt Jesus.

Früher, als man noch mit Pferden oder Ochsen pflügte, war das Pflügen eine mühselige und anstrengende Arbeit. Pferd oder Ochse gingen voran und zogen den Pflug; der Pflüger musste Pflug und Pferd zugleich führen und lenken. So ging es den ganzen Tag ackerauf, ackerab.

Wer so pflügt, darf nicht zurückschauen. Sonst gerät der Pflug aus der Furche, und die Schollen werden nicht sauber gewendet und nebeneinander gelegt, sondern liegen wie Kraut und Rüben durch­einander, als hätten Wildschweine den Acker umgewühlt. Auf einem derart zerfurchten Acker kann man nichts aussäen – die mühevolle Arbeit wäre vergeblich. Und dennoch möchte man, wenn man den ganzen Tag hinter so einem Pflug her läuft, zu gern auch mal wissen, wie viel man bereits geschafft hat; möchte sein vollbrachtes Werk beschauen und stolz auf das Geleistete sein. Aber das ist nicht möglich, ohne dass man das Ergebnis seiner Arbeit ruiniert.

 

Der Blick zurück braucht den richtigen Moment, braucht Zeit und Gelegenheit. Selbst der größte Acker ist irgendwann umgepflügt. Am Ende des Arbeitstages, wenn der Pflug abgeschirrt ist, kann man sich in Ruhe sein Werk besehen, Genugtuung, Befriedigung und Stolz über die geleistete Arbeit empfinden – vorher nicht.

 

Aber es gibt Tätigkeiten im Leben, deren Ende man nicht so schnell erreicht – wenn überhaupt je. Dazu gehören Beziehungen – zu unseren Partnern, zu unseren Kindern, unseren Freunden und Nachbarn. Sie haben kein Ende; jedenfalls keines, das man irgendwie absehen könnte. Sie sind niemals “fertig” - auch wenn wir manchmal meinen, mit einem Menschen “fertig” zu sein. Solange wir diesen Menschen noch begegnen, solange wir noch mit ihnen zu tun haben, solange ist, bildlich gesprochen, der Pflug noch auf dem Acker, wird Furche um Furche gezogen. Solange wir mit einem Menschen noch auf dem Wege sind, wird er sich verändern. Und selbst wenn ein Mensch gestorben ist, verändert sich der Blick auf ihn im Laufe der Zeit; entdeckt man Seiten, die man vorher nicht sah; versteht man, was man früher nicht verstand; kann man vergeben, was man zu Lebzeiten nicht verzeihen konnte.

Menschen verändern sich. Niemand bleibt, was er, was sie war. Nur der Rückblick, die Erinnerung kann diese Veränderung aufhalten. Vielleicht blickt man deshalb so gern zurück: da war der andere, die andere noch so, wie man ihn oder sie gern hatte: so schön, so jung, so liebenswert; so unkompliziert, so folgsam, so abhängig …

 

III

Wir Christen sind Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu. Berufen meist, ehe wir selbst uns entscheiden konnten, durch unsere Taufe. Und dann haben wir uns, irgendwann im Leben, auch bewusst entschieden, es mit der Nachfolge zu versuchen.

Wenn wir heute hören, dass Jesus von seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern erwartet, nicht zurückzuschauen, nicht am Alten zu hängen, sondern sich auf Veränderungen einzulassen, dann kann man schon den Mut verlieren, oder auch die Lust auf ein solches Leben in der Nachfolge. Veränderungen verunsichern. Neues ist unheimlich - wer weiß, was es bringt, was es mit einem macht? Viel schöner ist es doch, wenn alles so bleibt, wie es immer war.

 

Nachfolge Jesu geschieht und ereignet sich im Umgang mit Menschen, geschieht und ereignet sich in einer Gemeinschaft, einer Gemeinde. Ganz gleich, wie ernst man es mit der Nachfolge meint: Ob man sich entschließt, sein Leben ganz und gar an Jesus auszurichten und ins Kloster zu gehen, oder ob man sich im Alltag hin und wieder fragt, wie man als Christin oder Christ leben soll – immer geschieht das im Miteinander, in einer Gemeinschaft, in einer Gemeinde. Nachfolge Jesu geschieht dadurch, dass man jemandem vergibt, der einen verletzte; dadurch, dass man selbst einen Fehler eingesteht; dadurch geschieht sie, dass man auf einen Menschen zugeht, einem Menschen hilft, sich um ihn oder sie kümmert; dadurch, dass man bei der Wahrheit bleibt, auch, wenn sie unangenehm ist.

 

Ein solches Miteinander von Menschen, die Nachfolge, funktioniert nicht im Rückwärtsgang. Sie funktioniert nicht, wenn man einen Menschen so behalten will, wie er einmal war – im Guten nicht, und erst recht nicht im Bösen. Sie funktioniert auch nicht, wenn man sich aus Angst vor dem Plumpsack duckt und hofft, dass es einen nicht trifft. Nachfolge kann nur funktionieren, wenn man bereit ist, Veränderungen zuzulassen und zu akzeptieren - bei seinen Mitmenschen, aber auch bei sich selbst. Dabei geht es nicht darum, Altes um jeden Preis hinter sich zu lassen, jede Mode mitzumachen. Es geht vielmehr darum, die Tatsache, das Menschen, Dinge sich verändern, nicht als ein Übel anzusehen und der “guten alten Zeit” nachzutrauern, sondern - wenn man sich schon nicht darüber freuen kann - sie zumindest als etwas Naturgegebenes hinzunehmen. Man selbst verändert sich ja auch im Laufe seines Lebens durch Erfahrungen, Einsichten und den Einfluss anderer Menschen. Diese Veränderung heißt im Griechischen übrigens Metánoia, wörtlich übersetzt: Sinneswandel. Mit diesem Wort wird im Neuen Testament die Umkehr bezeichnet: Umkehr, die die Gute Nachricht von Gottes Reich bei den Menschen bewirkt.

Veränderungen anzunehmen und zuzulassen bedeutet, zu etwas Neuem bereit zu sein: bereit zu sein für Gottes Reich, das bereits im Kommen ist. Gottes Reich verändert Vieles, was uns unumstößlich scheint: “Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden” (Jesaja 40,4) - “eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen” (Joel 3,1) - “die Gewaltigen werden vom Thron gestoßen und die Niedrigen erhoben. Die Hungrigen mit Gütern gefüllt, und die Reichen gehen leer aus” (Lukas 1,52-53).

Vor allem aber schenkt dieses Reich Gottes uns und allen, die darauf warten, ein neues Leben, das befreit ist von der belastenden Vergangenheit. Dieses neue Leben anzunehmen und auf es zuzugehen, nennt das Neue Testament Metánoia, Umkehr. Umkehr bedeutet also, sich und anderen Menschen die Chance zu geben, ein anderer, eine andere zu werden, sie und sich nicht auf ihre Fehler, ihre Schuld festzulegen. So, wie Gott auch uns nicht auf unsere Fehler, unsere Schuld festlegt, sondern uns jeden Tag neu das Recht einräumt, ein anderer, eine andere zu werden.

 

Wir Christen sind Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu. Wer nachfolgt, ist im Wortsinne unterwegs – und da kann viel passieren. Nicht umsonst heißt es: “Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben”. Eine Reise verändert einen, und wenn man zurückkehrt, hat sich auch zuhause etwas verändert.

Wir sind Reisende auf dem Weg zu Gottes Reich. Wir werden es in diesem Leben nicht erreichen, und das ist gut so. Wir sehen an den Glaubensfanatikern in anderen Ländern, wie mörderisch es wird, wenn man Gottes Herrschaft um jeden Preis erzwingen will.

Wir können nichts dazu tun, dass das Reich Gottes kommt - es wächst von selbst, mitten unter uns, wie ein Senfkorn, wie Sauerteig. Was wir tun können ist, die Augen offen zu halten für das Neue, das unter uns wachsen will. Es nicht auszureißen und zu bekämpfen, sondern es zu begrüßen und es aufwachsen zu lassen, wie es will. Wir wir tun können ist, die Angst abzulegen vor dem Fremden, vor dem Neuen, vor der Veränderung, indem wir uns in der Metánoia üben, in der Umkehr unserer Gedanken und unserer Taten.

Amen.



Pfarrer Güntzel Schmidt
Meiningen
E-Mail: guentzel.schmidt@gmx.de

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