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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Ostersonntag, 05.04.2015

Mit dem Entsetzen fängt es an
Predigt zu Markus 16:1-8, verfasst von Rainer Oechslen

Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß. Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich. Er  aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemanden etwas; denn sie fürchteten sich.

Markus 16, 1 – 8

 

Liebe Schwestern und Brüder!

 

Mit dem Entsetzen fängt es an.

„Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemanden etwas; denn sie fürchteten sich.“

Das ist die Ostergeschichte des Markus. Lieblich ist sie nicht. Eine „Explosion“ hat sich ereignet (Karl Barth), ein Meteor ist eingeschlagen – unbemerkt. Nun kommen die Menschen zur Einschlagstelle und erschrecken. Sie sind verstört und flüchten. Noch verstehen sie nicht, dass ihre Flucht zum Weg in die Freude wird.

 

Mit dem Entsetzen fängt es an.

„Und als der Sabbat vergangen war“ – am Samstagabend also – „kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben.“

 

Die Frauen wollten etwas nachholen. Sie wollen Jesus die letzte Ehre erweisen. Am Karfreitag war dafür keine Zeit mehr. Als Jesus gestorben war, kam Gott sei Dank ein gewisser Josef von Arimathäa, ein Ratsherr, der „ging zu Pilatus hinein und bat um den Leichnam Jesu“ (Mk 15, 43). Mit des Richters Erlaubnis nahm er Jesus vom Kreuz und legte ihn in ein Grab. Es musste schnell gehen. Schon kam der Sabbat, an dem solche Arbeit verboten war. Am Sonntagmorgen, so früh es geht, eilen die Frauen zum Grab, um den Leichnam zu waschen und zu salben – ein Liebesdienst, für den es im orientalischen Klima eigentlich schon zu spät ist. Kommen unsere Bemühungen um die Toten nicht immer zu spät? Aber die Frauen brauchen das jetzt. Jesus ist ihnen genommen. Da wollen sie wenigstens den Leichnam herrichten und damit zugleich ihre Erinnerungen konservieren. „Trauerarbeit“ nennt man das heute. Solche „Trauerarbeit“ ist nötig, wenn das Leben einigermaßen weitergehen soll, wenn die Wunde, die der Tod gerissen hat, wieder heilen soll. Die Frauen haben das verstanden – viel besser als die männlichen Jünger, die sich in irgendwelchen Jerusalemer Hinterhöfen verbarrikadiert haben. Zur Trauerarbeit, zur Gestaltung einer neuen Beziehung zu ihrem toten Meister, sind die Jünger nicht fähig.

 

Die Frauen sind weiter. Allerdings sind auch sie in ihrer Trauer ein wenig konfus. Erst unterwegs fällt ihnen ein, dass Josef von Arimathäa das Grab mit einem großen Stein verschlossen hat. So ein Stein damals glich einer großen Scheibe, einem Mühlstein, den man in eine feste Rinne einließ und vor das Grab rollte. Allein werden sie diesen Stein nicht bewegen.

 

Dass Martin Luther ein Mann ist, zeigt sich in seiner Predigt vom Ostersonntag 1529. Da sagt er über die drei Frauen: „Die Weiber sind gute törichte Dohlen. Sie denken: Wer wälzt uns den Stein hinweg, was sollen wir tun? Sie sind in Sorgen und meinen, nun seien sie umsonst gekommen. Dennoch hat sie die große Liebe zum Grabe getrieben.“

 

Der Spott ist unüberhörbar. Er ist ungerecht. Zugleich aber trifft Luther den wunden Punkt. Ich weiß nicht, ob ihr genau hingehört habt: „Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?“ fragen die Frauen. Sie stehen nun im Mittelpunkt, ihre Trauerarbeit, ihr Bedürfnis nach einem ordentlichen Abschied, ihr Wunsch nach Linderung ihres Schmerzes. Jesus ist tot. Er hat keine Bedürfnisse mehr – denken sie.

 

„Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?“ Der Stein ist weggewälzt, aber nicht für die Frauen. Deshalb erschrecken sie so.

 

Mit dem Entsetzen fängt es an.

„Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich.“ Wir sehen daran übrigens: Auch wenn der Pfarrer ein weißes Gewand anhat, kann die Gemeinde erschrecken. Aber weiter: „Er  aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier.“

Ich glaube kaum, dass die drei Frauen den Sinn dieser Worte gleich verstehen. Wer von uns dürfte sagen „Ich habe sie verstanden“? Zu ungeheuerlich ist ihre Botschaft.

 

Eines aber verstehen die Frauen: „Wir haben hier nichts mehr zu suchen.“ Hier hat niemand mehr etwas zu suchen. Über das leere Grab ist unendlich viel geredet und geschrieben worden in den 200 Jahren seit der Aufklärung. Sein „Sinn“ aber ist ganz einfach: Es gibt zu Jesus keine Beziehung wie zu irgendeinem verstorbenen Menschen. Bei Jesus ist „kein Ort“ für Trauerarbeit, kein Raum für die Pflege der Erinnerung, keine Zeit für das Konservieren einer vergangenen Beziehung.

 

Übrigens: Auch die Gegner Jesu haben die Tatsache des leeren Grabes nie bestritten, weil sie sie nicht bestreiten konnten. Sie streuten lieber das Gerücht aus, der Leichnam Jesu sei gestohlen worden.

 

Seit ein paar Jahren werden die Ungenauigkeiten und Widersprüche in den Ostergeschichten des Neuen Testaments wieder heftig diskutiert. Die alten Argumente der Aufklärungszeit werden noch einmal umgerührt. Waren’s drei Frauen, die am Ostermorgen zum Grab liefen oder zwei? Waren da zwei Engel oder einer? War’s Freitag oder Sabbat, da man das Lamm geschlachtet hat?

 

Was besagen solche Widersprüche? Ich denke, zweierlei: Einmal, dass am Anfang der Auferstehungsbotschaft ein großer Schrecken stand, eine besinnungslose Flucht weg von dem Grab. Zum andern, dass die Jünger und Jüngerinnen Jesu erfuhren: Jesus liegt nicht hinter uns. Jesus ist vor uns. Wenn wir auferstehen werden, meine Schwestern und Brüder, dann werden wir auch nicht mehr genau wissen, wie viele Leute bei unserer Beerdigung waren. Es wird uns auch nicht mehr interessieren. Denn das Leben liegt vor uns, nicht hinter uns.

 

Die Botschaft des Engels heißt: „Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn finden, wie er gesagt hat.“

 

Mit dem Entsetzen fängt es an – und die Flucht wird zum Weg in die Freude.

Wir Christen heute müssen nicht nach Galiläa reisen, um den Auferstandenen zu sehen. Wie wäre es mit Moskau? Sagen wir kurz nach der Oktoberrevolution? In den Jahren nach der großen Revolution gab es in Russland noch öffentliche kirchlich-politische Diskussionen. Da lud der sowjetische Unterrichtsminister Anatol Lunatscharski den Patriarchen der Russischen Orthodoxen Kirche zu einem Ausspracheabend mit Moskauer Arbeitern in eine Fabrik. Nach einer langen politischen Ansprache vom Minister Lunatscharski wurde dem Patriarchen Gelegenheit gegeben, in fünf Minuten zu antworten. „Fünf Minuten sind eine lange Zeit“, sagte Patriarch Tychon. Er trat zum Rednerpult und rief, wie es die russischen Priester in der Osternacht tun: „Christos woskresse!“ – „Christus ist auferstanden.“ Wie ein Mann antworteten die versammelten Arbeiter, wie die Gemeinde in den Ostergottesdiensten „wo istinû woskresse“ – Er ist wahrhaftig auferstanden.“ Der Patriarch verließ das Rednerpult und setzte sich zu den Versammelten.

 

Da hatte der Minister Lunatscharski gedacht, der Patriarch werde bestenfalls irgendwelche Geschichten aus der Vergangenheit erzählen. Aber der Auferstandene war auch im Sowjetstaat gegenwärtig und bezeugte sich durch den Mund von vielen hundert Arbeitern.

 

Inzwischen ist der Sowjetstaat Vergangenheit und der Unglaube hat neue, kapitalistische Formen. Da erscheint eine – durchaus kapitalstarke – Wochenzeitung zu Ostern mit der Schlagzeile „Ein christliches Dogma wackelt – Mythos Auferstehung.“ Seid getrost, meine Schwestern und Brüder, der Herr Chefredakteur ist nicht klüger, als der Genosse Lunatscharski es war. Der Auferstandene aber ist dem kapitalistischen Unglauben genauso voraus wie dem kommunistischen.

 

Wir sollten den Unglauben überhaupt nicht so schrecklich ernst nehmen. Hildegard Schaeder, der ich die Geschichte vom Patriarchen Tychon verdanke, saß am Ostermorgen 1945 im Konzentrationslager Ravensbrück. Eine mitgefangene Russin war eine überzeugte Bolschewistin, eine Mathematikprofessorin, die aus dem Bauernstand aufgestiegen war. Auf Hildegards Bitte setzte sie sich mit ihr hinter einen Schuppen und sang ihr trotz des strikten Verbots die altkirchlichen Osterchoräle, die sie als Kind im Kirchenchor gelernt hatte. Das ist der Glaube des Unglaubens.

 

Gehen wir weiter von der Fabrik in Moskau und vom Konzentrationslager Ravensbrück in ein fränkisches Dorf. Da starb im Januar vor ein paar Jahren die kleine Corinna. Fünf Jahre ist sie alt geworden, 1 ½ Jahre davon war sie krank. In den letzten Tagen ihres Lebens bekam sie immer wieder den Besuch von Engeln. „Sie waren auf meiner Bettdecke“, erzählte sie einmal beim Aufwachen – „20, 30, 40, 80 Engel – leicht wie eine Feder. Und sie haben gelacht, die Engel.“ Corinna sagte: „Morgen soll ich mitkommen“. Dann ist sie mitgegangen, mit zum Auferstandenen.

 

Und wir? Wir feiern nachher das Abendmahl. Da kommt der Auferstandene in unsere Mitte, wie er versprochen hat.

 

Ja – mit dem Entsetzen hat es angefangen, das Christentum – und wird zum Weg in die Freude.

 

Amen



Pfarrer Dr. Rainer Oechslen
Bichl
E-Mail: rainer.oechslen@elkb.de

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