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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 11.11.2007

Predigt zu Lukas 18:1-8, verfasst von Wolfgang Vögele

„Jesus sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, daß sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten, und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir soviel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage. Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott nicht Recht schaffen seinen Auswerwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er's bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?"

Liebe Gemeinde,
Lukas erzählt keine Geschichte über Richter, die Gerechtigkeit schaffen wollen. Er will auch nicht Mitleid wecken für Witwen, die das Rechtssystem benachteiligt. Im Grunde will Lukas Werbung machen für eine bestimmte Haltung, für eine bestimmte Gebets-Haltung. Er fordert die Christen auf: Seid hartnäckig! Seid stur bis zur Halsstarrigkeit!
Lassen wir den Zusammenhang zwischen Halsstarrigkeit und Gebet für einen Moment beiseite.
Es ist zunächst einmal überraschend, wozu Lukas die Christen auffordert. Denn beides, Hartnäckigkeit und Halsstarrigkeit schätzen wir nicht als angenehme Eigenschaften von höflichen Menschen ein. Wer einen harten Nacken besitzt, der kann zwar Schläge aushalten. Und er kann immer in eine, nämlich dieselbe Richtung blicken, aber es fehlt ihm doch an Spannkraft  und Flexibilität der Halsmuskeln. Und wer seinen Hals nicht trainiert und dehnt, dessen Sehnen und Muskeln verkürzen sich erst. Und dann verkümmern sie immer mehr. Zum harten Nacken der Hartnäckigkeit kommt noch der steife Hals des halsstarrigen Menschen hinzu.
Der Liedermacher Wolf Biermann  hat vor Hartnäckigkeit und Hartleibigkeit ausdrücklich gewarnt und mit heiserer Sprechstimme unvergeßlich gesungen: „Du, laß dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit/ Die allzu hart sind brechen - die allzu spitz sind stechen/ Und brechen ab sogleich." Und Generationen von Pfadfindern, Konfirmanden, Studenten und anderen jugendlichen Wandervögeln haben das mit Eifer im Herzen nachgesungen, an den Lagerfeuern der Zeltfreizeiten und Kanutouren, begleitet von der schlecht gestimmten Klampfe.
Es gibt zwei Arten von Hartnäckigkeit. Die eine verbindet sich mit Unbeweglichkeit, die andere mit Schläue. Hartnäckigkeit plus Unbeweglichkeit führt zu Verspannungen, das soll uns hier nicht weiter interessieren.
Wer aber bei der Verfolgung seiner Interessen Hartnäckigkeit mit Schläue (und Beweglichkeit) verbindet, der erscheint klug im Geist und beweglich im Körperbau. Er setzt die Energie seines Willens erfolgreich in Interessen und Ziele um. Hartnäckigkeit paart sich mit Willenskraft. Sie ist dann der Gegensatz zu Verzagtheit und Resignation, zu Unentschlossenheit und Wehleidigkeit.
Ich will Ihnen das an mehreren Beispielen zeigen. Kinder und Jugendliche, Schüler und Konfirmanden haben ein besonderes Talent für diese schlaue, wirksame Hartnäckigkeit. Jedes Elternpaar und jeder Lehrer, jede Kindergartenerzieherin und jede Großmutter könnte Ihnen allen davon stundenlang Geschichten erzählen.
Der Fünfjährige, der am Abend eigentlich um 20.00 Uhr im Bett liegen soll, entwickelt eine Fülle von Strategien, um den Zeitpunkt, da er das Licht ausschalten soll, hinauszuzögern. Er zieht sich nicht aus, er wartet bis 19.59, bevor er anfängt, sich die Zähne zu putzen. Und wenn er das getan hat, dann holt er - ganz unschuldig - den wichtigen Zettel aus seiner Kindergartentasche. Den Zettel der Kindergärtnerinnen müssen die Eltern erst lesen, dann unterschreiben, und so sind schon ein paar wichtige Minuten Wachzeit gewonnen, die man weiter ausdehnen kann.
Und wenn dann die Eltern streng sagen: Nun geh aber endlich ins Bett!, dann kann man es immer noch mit ausgesuchter Freundlichkeit, mit charmantem Lächeln oder mit dem Bedürfnis nach Kuscheln probieren. Wir haben heute noch gar nicht gekuschelt, lautet dann die mit unschuldigem und arglosem Lächeln vorgetragene Bitte.
Und wenn Freundlichkeit und Liebe nichts mehr helfen, dann hilft es den Kleinen vielleicht zornig zu werden, ein bißchen herumzubrüllen. So entsteht ohne weiteres ein langwieriger Konflikt, der seinen wichtigsten Zweck erfüllt: Er lenkt vom Schlafengehen ab. Oder man stiftet Verwirrung unter den eigenen Geschwistern, so daß die Eltern die Übersicht verlieren und sich um die anderen Kinder kümmern. Oder man verhält sich ganz unauffällig und leise, daß die Eltern es nicht merken. Vielleicht sind die Eltern ja so unaufmerksam, daß sie vergessen, daß sie schon vor 5, vor 10 und vor 20 Minuten die Kinder aufgefordert haben, nun aber endlich und endgültig ins Bett zu gehen.
Kinder und Jugendliche sind Virtuosen in allen möglichen Techniken der Hartnäckigkeit. Sie kennen jeden Kniff, jede List und jede Finte, wenn es darum geht, länger als erlaubt aufzubleiben, wenn es darum geht, auch noch die vierte Kugel Zitroneneis zu bekommen, wenn es darum geht, in der Schule doch nicht die fünfte Klassenarbeit zu schreiben, wenn es darum geht, zur Kinokarte noch die große Tüte Popcorn zu bekommen.  
Kein Erwachsener kann so konsequent sein, daß er diesen Techniken der Hartnäckigkeit nicht nachgeben würde. Vollständige Konsequenz, um daran zu erinnern, wäre auch nichts anderes als Halsstarrigkeit.
Die Lebenserfahrung in Mehrgenerationen-Familien zeigt: Als erste erliegen stets die Großeltern dem hartnäckigen Werben der Enkel. Eltern sind da schon ein wenig konsequenter. Und in der Schule und im Kindergarten handhaben Lehrer und Erzieher Konsequenz erfolgreicher und ausdauernder. Das leuchtet auch ein: Denn Lehrer und Erzieherinnen stehen stets Gruppen von Kindern und Jugendlichen gegenüber. Ihnen wird der pädagogische Erfolg versagt bleiben, wenn sie nicht wenigstens den Versuch machen, Kinder und Schüler auf gleiche Weise zu behandeln.
Denn vermeintliche oder wirkliche Ungerechtigkeit ist ein ganz hervorragendes Einfallstor für die Techniken der Hartnäckigkeit. Den Peter hast Du aber machen lassen, was Du mir jetzt verbieten willst. So lautet der in leicht weinerlichem Ton vorgetragene Vorwurf, und der Ton der Weinerlichkeit kann sich bis zum Heulkrampf steigern.
Falls ich das bisher noch nicht so gesagt haben: Was Kinder und Jugendliche sich bewußt und unbewußt an Strategien der Hartnäckigkeit angeeignet haben, das praktizieren später auch - raffinierter und subtiler - die Erwachsenen.
Und damit komme ich - langsam, aber sicher - wieder zu der Geschichte aus dem Lukasevangelium. Denn auch die Witwe, die mit ihrem Anliegen den Richter bedrängt, benützt virtuos und unbeirrt die intellektuellen und emotionalen Techniken der Hartnäckigkeit. Die Geschichte schweigt sich darüber aus, welche Techniken das waren; sie verbreitet sich ausführlich darüber, wie unabhängig und unbestechlich der Richter war. Zweimal wird das betont: Der Richter war ein Mensch, der sich weder vor Gott noch vor anderen Menschen fürchtete. Er war unabhängig, unbeeinflußbar in seinem Urteil, nur dem Gesetz verpflichtet. Und dennoch schafft es die Witwe in ihrer Hartnäckigkeit, daß die Richter ihr Recht gibt, obwohl er - so wird es nahegelegt - nach der Sach- und Faktenlage ein ganz anderes Urteil hätte sprechen müssen. Offensichtlich überschreitet der Richter den Spielraum, der ihm bei der Interpretation von Gesetzen und beim Fällen von Urteilen stets bleibt. Er gibt der Witwe Recht, obwohl sie kein Recht hat.
Das kann man moralisch verwerflich finden. Und selbstverständlich erwarten wir heute von Richtern, daß sie sich nicht von Klage oder Anklage beeinflussen lassen, daß sie ihr Urteil unabhängig von fremden Interessen entsprechend der Rechtslage fällen, welche die Gesetze vorgeben. Wir erwarten von Richtern, daß sie Gerechtigkeit schaffen, so sehr diese Suche nach Gerechtigkeit in komplizierten und undurchsichtigen Fällen, manchmal schwerfallen mag. Richter haben keine leichte Aufgabe, denn es fällt oft schwer zu formulieren, was Gerechtigkeit ist.
Aber Lukas erzählt keine Geschichte für die Juristenausbildung oder die Richterpraxis. Nicht die Gerechtigkeit der Richter, sondern die schlaue Hartnäckigkeit der Witwe stellt Lukas in den Mittelpunkt. Und etwas zweites kommt hinzu: Die Geschichte zielt - jenseits der Sphären des Juristischen und Gerechten - auf den Glauben. Wer wie die Witwe in schlauer Hartnäckigkeit betet, der erreicht irgendwann bei Gott sein Ziel. Das ist die Botschaft.
Es war ein moralischer Skandal, daß Lukas den ungerechten Richter nicht tadelt. Es könnte ein theologischer Skandal sein, daß Lukas sagt: Gott wird dem hartnäckigen Beter in jedem Fall Recht geben.
Denken wir darüber einen Moment nach: Lukas mißt dem Gebet eine außerordentlich große Bedeutung zu, größer als das heutiger Gebetspraxis vielleicht deutlich wird. Es hat manchmal den Anschein, als seien viele Menschen der Gebete müde geworden.
Manchen läßt vielleicht der Gedanke nicht los: Vielleicht wirkt es doch nicht. Und wenn es nicht wirkt, brauche es auch nicht zu praktizieren. Lukas denkt da anders: Er hält das Gebet für eine der vornehmsten und wichtigsten Tätigkeiten der Christenmenschen.
Eine amerikanische christliche Gemeinde lädt mit diesen Worten zum Gebet ein: The most powerful position is on your knees.  Frei und im Gefälle dieser Predigt ins Deutsche übersetzt: Auf den Knien sind Sie am hartnäckigsten.
Niemand soll nun beim Beten zum Knien aufgefordert werden. Wichtiger ist: Niemand sollte das Gebet unterschätzen. Es kommt bei Gott an. Wir können darauf vertrauen, daß er unsere Worte hört.
Selbst dann, wenn man das einräumt, daß Gebete bei dem ankommen, der sie hört, heißt das noch lange nicht: Gott erfüllt alle unsere Wünsche, die wir ihm im Gebet vorbringen. Entscheidend ist die vertrauende Gewißheit, daß Gott eine Antwort gibt auf unsere gebeteten Worte. Auch die Geschichte des Lukas sagt nicht: Wer hartnäckig genug ist, dessen Wünsche erfüllt Gott. Sondern die Geschichte: Seid auf eine schlaue Weise hartnäckig, denn Gott wird auch für euch sein Recht schaffen. Auf dieses letzte „sein Recht" kommt es an.
Gott hat uns verheißen, Gerechtigkeit zu schaffen. Und diese Gerechtigkeit ist eine andere Gerechtigkeit als das Recht, das Richter sprechen. Es ist eine Gerechtigkeit, die bestimmt ist von Barmherzigkeit und Gnade, von einem tieferen Blick in die Wirklichkeit, als Menschen ihn zu werfen vermögen, und vom Willen des Schöpfers der Welt, diese und die Menschen, die darauf wohnen, zur Erlösung zu bringen.
Das ist die Gerechtigkeit Gottes. Das ist, worauf das Handeln Gottes in der Welt zielt. Das ist, worauf die Gebete sich richten können. Sie richten sich an den Gott, der SEINE Gerechtigkeit schafft. Sie richten sich an den Gott, der SEINE großen Verheißungen erfüllt.
Amen.

Der Text des Liedes von Wolf Biermann findet sich im Internet zum Beispiel unter: http://www.lyricsarchiv.de/songtext.php?Id=612

Den Hinweis verdanke ich Frank Michael Lütze (Predigtstudien V/2, 2006-2007, Zweiter Halbband, Stuttgart 2007, 222. Vgl. http://www.encircling.us/photoplog/index.php?n=1192


PD Dr. Wolfgang Vögele
Christuskirche - Nordpfarramt
Riefstahlstr.2
76133 Karlsruhe
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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