Liebe Ostergemeinde: Hab keine Angst, fürchte dich nicht – können Sie sich erinnern, wann Ihnen das zuletzt gesagt worden ist? Oder wann Sie es selbst zu einem Menschen gesagt haben? Damit diese Worte glaubwürdig sind, muss ein Unterschied bestehen zwischen dem, der sie spricht, und dem, zu dem sie gesagt werden. Wenn beide Angst haben, dann ist diese Aufforderung ein bisschen wie das Pfeifen im Walde: Dem Trost fehlt die Autorität. Wenn beide keine Angst haben, dann sind die Worte überflüssig. „Fürchte dich nicht“, das sagt man zu jemandem, der noch von einer Sorge gefangen ist. Wie das Mädchen, das noch das Bild der verstorbenen Freundin vor Augen hat. Und spenden kann den Trost nur jemand, der überlegen ist. Wie die Mutter, die weiß, dass ihre Tochter ja nur geträumt hat.
Zwei Mal, liebe Gemeinde, heißt es in unserem Predigttext „Fürchte dich nicht“. An zwei entscheidenden Stellen. Hören Sie selbst. Ich lese aus dem letzten Kapitel des Matthäusevangeliums: [Mt 28,1-10]
Doch ganz so eindeutig ist das nicht. Manchmal könnte man sogar meinen, es wäre genau umgekehrt. An keinem Tag ist uns Gott wohl so nahe gekommen, wie an Karfreitag. Eigentlich Kind weiß doch jedes den Unterschied zwischen Göttern und Menschen: Die Götter sind unsterblich! Gerade diese Kinderweisheit wurde an Karfreitag durchkreuzt: Wodurch könnte uns Gott näher sein, als dass er sogar unsere Sterblichkeit mit uns teilt? Verborgen unter all dem Schrecken ist also Karfreitag auch ein Tag der Freude über Gottes Nähe.
Ostern dagegen fängt völlig anders an, als man es vom fröhlichen Fest der Schmunzelhasen erwarten sollte. In der Erzählung vom Ostermorgen bei Matthäus wird dies überdeutlich: Als die Frauen beim Grab ankommen, beginnt der Tag mit einem Erdbeben. Der Boden unter ihren Füßen schwankt, die Welt gerät aus den Fugen. Haben Sie auch Fernsehbilder vor Augen von Menschen, die durch ein Erdbeben überrascht werden und in Panik geraten? In Japan, in Südostasien. Für die beiden Marias begann der Ostersonntag mit Angst und Schrecken.
Und dann schlägt der Blitz ein, direkt neben ihnen. Vom Himmel herab direkt auf den Stein vor dem Grab, der umfällt und das Grab freigibt. Die Wachen am Grab brachen bei diesem Erlebnis zusammen. Sie waren zu Tode erschrocken und fielen in Ohnmacht. Aus dem Licht hören die beiden Marias eine Stimme, die Stimme des Engels: „Fürchtet euch nicht.“
Aber damit nicht genug: Nach der Begegnung mit dem Engel erzählt Matthäus auch noch davon, dass die beiden Frauen dem Auferstandenen selbst begegneten. Diesmal verzichtet der Evangelist auf jede Ausschmückung. Ganz nüchtern heißt es: Jesus grüßte sie, und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Aber stellen wir uns diese Szene nicht zu abgeklärt vor. Wie mag für die Frauen die Begegnung gewesen sein mit dem, den sie am Kreuz hatten sterben sehen?
Sollten sie sich etwa in stiller Freude gesagt haben: Gott sei Dank, es ist doch alles in Ordnung. Jetzt können wir ja in Ruhe heimkehren und dankbar das Osterfest feiern? Nein, liebe Gemeinde! Denken Sie an das Mädchen, von dem ich Ihnen am Anfang der Predigt erzählte. An ihr Grausen, wenn sie im Traum ihre verstorbene Freundin sah. Den Toten zu begegnen, muss etwas alptraumhaft Schreckliches sein.
Seit es Religion gibt, versuchen Menschen, die unruhig umherschweifenden Seelen zu besänftigen. Von den antiken Schauerromanen bis in die neuesten Gruselfilme gibt es kaum ein Thema, das mehr unter die Haut geht als die gräßliche Begegnung mit lebendigen Toten. Ich glaube, das liegt an der Angst, durch solche Begegnungen selbst in die Sphäre des Todes gezogen zu werden. Wenn der Tod so aktiv im Leben auftaucht, ist nichts und niemand mehr in Sicherheit. So gruselig begann der Ostermorgen damals in Jerusalem.
III. Liebe Gemeinde, nun stehe ich natürlich nicht hier oben auf der Kanzel, um Ihnen Horrorgeschichten zu erzählen. Es war jedoch nötig, dass wir uns an das Erschrecken am Ostermorgen erinnern. Denn ohne dem können wir nicht verstehen, was das „Fürchtet euch nicht“ für die Frauen bedeutete.
Zunächst zielte dieser Trost ganz auf ihre Situation: Obwohl die Erde bebte und der Blitz einschlug, ja sogar obwohl sie in Jesus scheinbar einem lebendigen Toten begegneten, sollten sie nicht erschrecken: Fürchtet euch nicht. Denn Jesus ist kein lebendiger Toter, sondern ein Lebender. Einer, der zwar tot war, aber den der Tod nicht halten konnte. Einer, der Stärker als der Tod ist, weil er aus Gottes Kraft lebt. Fürchtet euch nicht, denn ich habe den Tod besiegt.
Dadurch wird deutlich, dass der Trost nicht nur auf das Erschrecken am Morgen zielte. Jesus tröstet alle diejenigen, die durch die Endlichkeit des Lebens in Angst versetzt werden. Nicht nur die beiden Marias. Auch nicht nur die Jünger, denen er sich in Galiläa zeigen will. Sein Trost gilt allen, die einen Menschen verloren haben oder die Angst vor dem eigenen Sterben haben: Fürchtet euch nicht. Denn so wie mich der Tod nicht halten konnte, so wird von heute an niemand mehr für immer sterben. So wie ich auferstanden bin, so werde ich in Zukunft alle auferwecken.
Am Anfang der Predigt hatte ich gesagt: Trost kann nur derjenige geben, der dem überlegen ist, den er trösten will. So wie die Mutter, die weiß, dass ihre Tochter nur geträumt hat. Gerade das macht den Trost so schwierig, wenn es um die Trauer geht. Denn wer wäre dem Tod so überlegen, dass er uns die Angst vor ihm nehmen könnte? Nur derjenige, der ihn selbst überwunden hat. Darin liegt die Autorität des Evangeliums. Denn es stammt vom Auferstandenen. Überall, wo die christliche Hoffnung verkündigt wird, können wir uns darauf berufen: Wir glauben an den Lebendigen, der den Tod überwunden hat.
Stellvertretend für alle, die solche Erfahrungen machen mussten, wird den beiden Marias von Jesus gesagt: Fürchtet euch nicht. Drei gute Gründe gibt es am Ostermorgen für diesen Trost.
Zum einen: Wenn das Schlimmste überwunden worden ist, dann hat auch das weniger Schlimme seine Macht verloren. Wer zu Christus gehört, der braucht den Tod nicht mehr zu fürchten. Mit ihm dürfen wir auf Gottes Gnade und das ewige Leben hoffen. Von dieser Sorge befreit, verlieren auch die anderen Sorgen viel von ihrer Bedrohlichkeit.
Zum anderen: Gott ist uns Karfreitag nahe gekommen. Er ist nicht nur Mensch geworden. Sondern er teilt auch die schweren Seiten des Lebens mit uns. Das er diese Solidarität mit uns zum Guten wendet, hat er uns am Ostermorgen bewiesen. Er ist der Immanuel, der Gott, der mit uns ist. Wie groß auch unsere Sorgen sind: Wir sind nicht auf uns allein gestellt. Wir können uns an Gott wenden, mit all unseren Bitten, unseren Fragen und auch mit unserer Klage.
Und dann gibt es noch einen Grund des Trostes: Der Ostermorgen war die Gründungsstunde der christlichen Gemeinschaft. Jesus fordert – wie zuvor der Engel – die beiden Marias auf: Sagt den anderen, dass ich lebe. Das ist der österliche Anfang des Christentums: Die den Auferstandenen gesehen haben, erzählten es weiter. Zunächst den Jüngern, die sich in den Tagen zuvor zerstreut hatten. Dann anderen Menschen, die Jesus selbst nie gesehen hatten. Bis nach Deutschland. Auch uns gilt das „Fürchtet euch nicht“. Und wir sollen uns gegenseitig trösten und beistehen, wenn einer oder eine von uns dessen bedarf. Nicht anonym, sondern teilnahmsvoll. Nicht cool, sondern engagiert. Wer von Sorgen bedrückt ist, soll bei uns offene Ohren finden. Und jemanden, der ihm sagt: Hab keine Angst. Fürchte dich nicht. Amen.