Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Ostersonntag, 05.04.2015

Er rollt uns den Stein
Predigt zu Markus 16:1-8, verfasst von Wolfgang Schmidt

Liebe Gemeinde!

Die Frauen waren die ersten, denen es dämmerte. Am ersten Tag der Woche, sehr früh! Morgendämmerung. Die Stunde, in der der neue Tag anbricht. Nach der Finsternis der Nacht bricht sich das Morgenlicht zaghaft Bahn und kündet einen neuen Tag. Nach der Totenstille der Nacht regt sich das Leben. Etwas Neues beginnt! Morgendämmerung!

Die Frauen waren die ersten, denen es dämmerte auf ihrem Weg zum Grab, in das man drei Tage zuvor Jesus zu den Toten gebetet hatte. Das Grab Jesu, eine in den Fels getriebene Grabeshöhle, wie man sie im Gartengrab an der Nablusroad und an anderer Stelle in Jerusalem noch heute bestaunen kann. Innen waren an den Wänden Steinbänke ausgehauen, auf die man die Toten bettete. Wurden die Bänke erneut besetzt, so wurden die zusammengefallenen Knochen abgeräumt und in eine mit der Grabanlage verbundene Grube geworfen oder in eigenen Behältern gesammelt. Solche sogenannte Ossuarien kann man in großer Auswahl in der Himmelfahrtskirche auf dem Ölberg betrachten. Verschlossen wurde der Zugang zur Grabhöhle durch einen schweren mühlsteinartigen Rollstein.

"Und wer rollt uns den Stein von des Grabes Tür?" Diese Frage ist es, die jene drei Frauen auf ihrem Weg in der Morgendämmerung beschäftigt. „Wer rollt uns den Stein von des Grabes Tür?“ Nichts sonst überliefert uns der Evangelist aus dem Mund der Frauen in dieser morgendlichen Dämmerstunde. Nichts liegt ihnen schwerer auf dem Herzen, als der Stein und die Frage: „Wie bekommen wir Zugang zu dem Mann, der am Kreuz gestorben ist, wie bekommen wir Zugang zu Jesus?“ Eine brennende Frage. Eine Frage mit Aktualität – seit sie diese drei Frauen damals gestellt haben bis zum heutigen Tag: Wie bekommen wir Zugang zu Jesus? Wer räumt uns die Hindernisse aus dem Weg? Über drei Millionen Menschen reisen jedes Jahr als Pilger und Touristen hierher in die Stadt. Viele suchen hier den Ort auf, wo man Jesus zu Grabe legte; Menschen suchen sich zu verbinden mit Jesus und seiner Geschichte, suchen die unmittelbare Anschauung vor Ort, wollen etwas von seinem Geist spüren an den Orten seines Wirkens, suchen die Zweifel auszuräumen, die ihnen den Zugang zu ihm verbauen.

Ich denke, es ist diese Frage der Frauen am Ostermorgen, die uns heute so tief wie seit je bewegt und beschäftigt: „Wie bekommen wir Zugang zu Jesus? Wie erschließt sich uns der Gekreuzigte, der Zimmermannssohn aus Nazareth, der Wanderprediger und Wunderheiler, der zuletzt als Aufrührer an den Balken geschlagen wird?“

„Wie bekommen wir Zugang zu Jesus?“ Mit dieser Frage auf den Lippen wandern die Frauen am Ostermorgen dem Grab zu – ohne noch zu ahnen, was da auf sie zukommt, ohne noch zu ahnen, dass ihnen bald der Atem stocken wird, Zittern und Entsetzen sie packen wird, und sie am Ende furchterfüllt das Weite suchen werden. Denn auf erschreckende Weise wird den Frauen nun deutlich, ja überdeutlich, dass angesichts Gottes diese ihre Frage falsch gestellt war! Denn noch bevor sie selbst auch nur das Geringste hätten tun können, sich Zugang zu dem Gekreuzigten zu verschaffen, müssen sie feststellen: Er ist uns längst voraus. Er hat sich Zugang verschafft zu uns! Er hat den Zugang frei gemacht: herauf aus der Gruft, herein ins Leben, herauf aus den Höhlengängen eines palästinensischen Steingewölbes in unser Leben! Herauf aus den Tatsachen oder Legenden seiner irdischen Geschichte, die längst Vergangenheit geworden ist, hinein in die Gegenwart des Lebens, unseres Lebens mit seinen Momenten der Erfüllung und der Enttäuschung, der Gewissheit und der Ratlosigkeit, des Vertrauens und der Zweifel – dort hinein hat er sich schon längst den Zugang verschafft noch bevor wir je Zugang zu ihm gewinnen könnten. Er ist der Gruft entstiegen, der Gruft des Historischen, der Gruft einer ereignishaften Abfolge historischer Tatsachen; entstiegen ist er der Gruft unserer menschlich-irdischen Denkkategorien, die von sich aus nicht weiter reichen als von der Geburt bis zum Tod. Spätestens seit Einstein wissen wir, dass menschliches Denken nur einen Teil der Dimensionen unserer Wirklichkeit erfasst. Und seit Kant ist uns bewusst, dass menschliches Denken unentrinnbar an die Kategorien von Raum und Zeit gebunden ist. Ohne die Abfolge von Vorher und Nachher und ohne die Vorstellung eines Raumes lässt sich mit unserem Gehirn nichts denken. In das Grab solch irdischer Gesetzmäßigkeiten passt Jesus nicht! Man bringt ihn nicht zum Schweigen. Er ist kein Mann der Grabesruhe. Die Gruft kann ihn nicht halten und ist der Stein auch noch so schwer. Er ist der Sicherheitsverwahrung menschlicher Rationalität entkommen und hat sich aufgeschwungen ins Leben, in unser Leben, es zu durchdringen – unsere Worte, unsere Taten, unser Miteinander in der Gemeinschaft. „Jesus lebt, mit ihm auch ich“, dichtet Christian Fürchtegott Gellert im Jahr 1757 sein Osterlied. Jesus lebt mit ihm auch ich.

All die Fragen, die nach dem äußeren Hergang der Auferweckung fragen, all die Spekulationen und Diskussionen über ein leeres oder ein volles Grab von Lessing über Gerd Lüdemann bis heute bleiben in der Gruft des Historischen zurück, die Jesus nicht halten kann. Darüber ist er in der Morgendämmerung jenes Tages längst hinaus. Wie mag das erst werden, wenn die Sonne vollends aufscheint und der Tag seiner Höhe nah ist!

„Wie bekommen wir Zugang zu Jesus, zu dem Gekreuzigten?“ Mit dieser Frage auf den Lippen wandern die Frauen am Ostermorgen dem Grab zu – und sie müssen feststellen, dass angesichts Gottes diese Frage andersherum zu stellen wäre: „Wie bekommt Jesus Zugang zu uns?“ ...und dass Gott diese Frage schon längst beantwortet hat! „Darin besteht die Liebe“ schreibt der erste Johannesbrief, „nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt hat seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden.“ Und das Johannesevangelium überliefert uns als Ausspruch Jesu den Satz“ „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt.“

Ja, liebe Gemeinde, davon bin ich allerdings überzeugt: Die Beziehung zu Gott, der Glaube, ist eine Gabe Gottes, eine Gabe des Geistes. Gewiss schadet eine Bereitschaft dazu nicht, eine Offenheit. Der Boden kann bereitet werden, Samenkörner können gestreut werden, aber Wachstum und Gedeihen liegen in des Himmels Hand, wie das bekannte Erntedanklied uns singen lässt. Den entscheidenden Schritt tut ER: Herauf aus der Gruft, herein ins Leben, in unser Leben!

Und das gibt dem Leben eine neue Perspektive, eine Richtung, eine neue Zukunft! Das ist die Botschaft jenes weiß gewandeten jungen Mannes, auf den die drei Frauen im leeren Grab treffen: „Geht aber hin,“ so spricht er, „und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hin gehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.“ Den Frauen, die zunächst nur noch in eine Richtung dachten, nämlich hin zum Grab, hin zum Toten, dem sie ihren Dienst erweisen wollten, diesen Frauen wird am leeren Grab eine neue Richtung gewiesen: Hinauf nach Galiläa, dorthin, wo die Jünger ursprünglich herkommen, zurück in die Heimat, dort wo der ganz normale Alltag des Lebens sie erwartet, wo geboren wird und gestorben, wo gestritten wird und geliebt, wo unter der Last der Arbeit der Schweiß fließt und an den Festtagen der Wein die Becher füllt. Dort geht hin! Dort erwartet er euch! Nicht hier am Ort seiner Grablege, sondern dort in eurem Leben. Dort werdet ihr ihn sehen! Dort wird er sich zeigen, in der Profanität eures Alltags. „Jesus lebt, mit ihm auch ich“. Im Alltag. In der Gemeinde, in der Nachbarschaft, bei der Arbeit – Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit, Geist der Vergebung, Quelle der Hoffnung, fester Grund, auf dem ich stehe.

„Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hin gehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.“ Am Ende, liebe Gemeinde, am Ende schweigen sie wie ein Grab; aus Furcht, dass man sie auslacht, dass man ihnen nicht glaubt, dass man sie für verrückt erklärt; aus Entsetzen darüber, dass an diesem Ostermorgen alles auf den Kopf gestellt ist, Tod nicht mehr Tod ist und Leben nicht mehr Leben. So ist es doch wenn wir die Erzählung genau betrachten. Der Tote ist nicht mehr bei den Toten; stattdessen sitzt in der Gruft das blühende Leben, ein junger Mann wie es heißt mit weißen Gewand – reiner geht's nicht, festlicher geht's nicht, lebendiger geht's nicht am Ort des Todes. Ja, und zuletzt die Frauen, die zunächst noch ganz angeregt Ihre Sorge um den Stein berieten, am Ende aber schweigen wie ein Grab. Am Tag der Auferstehung hat Gott alles auf den Kopf gestellt. Sogar das! Denn hatte nicht Jesus das ganze Markusevangelium immer wieder die Menschen ermahnt zu schweigen? Von Heilungen und Wundern zu schweigen... Das taten sie nicht. Doch nun hier am Ende, wo es es aus ihnen herausplatzen müsste, wo ihnen der Mund über gehen müsste, da schweigen sie! Die alten Textfunde belegen, dass so das Evangelium einmal endete: mit diesem Schweigen der Frauen. Aber der Gott, der am Ostermorgen in die Totengruft das blühende Leben bringt und der den Gekreuzigten heraus aus der Gruft in unser Leben bringt, lässt sich auf Dauer nicht verschweigen! Er findet mit seiner guten Botschaft den Weg zu den Menschen trotz der drei Frauen, die am Ostermorgen das Geheimnis des leeren Grabes für sich behalten.

Amen



Propst Wolfgang Schmidt
Jerusalem
E-Mail: propst@redeemer-jerusalem.com

(zurück zum Seitenanfang)