Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 18.11.2007

Predigt zu Matthäus 9:18-26, verfasst von Eva Meile

Wunder auf Wunder. Das könnte die Überschrift des Evangeliums von heute sein, und es könnte die Überschrift für das Christentum überhaupt sein.

             Jetzt erstmal das Evangelium von heute:Die Erzählung von einer wunderbaren Heilung umkränzt von der Erzählung einer noch wunderbareren Totenauferweckung. Jedoch: Erzählung ist zuviel gesagt. Der Bericht über die Frau mit den abnormen Blutungen beschränkt sich auf das Augenblicksbild ihrer vorsichtigen Annäherung an Jesus - sie berührt nur den Zipfels seines Gewandes - und auf eine ebenso kurze Beschreibung der Reaktion Jesu: er wendet sich um und sagt zu ihr: Sei getrost, dein Glaube hat dir geholfen. Und da war die Frau gesund, steht da. Fünf oder sechs Linien, und die Geschichte ist erzählt - die Geschichte von einem Menschen, der im Lauf einer Sekunde auf wunderbare Weise ein neues Leben verehrt bekommt.

             Ebenso kurz wird von dem toten Mädchen berichtet, das von Jesus wieder ins Leben gerufen wird. Ihr Vater bittet Jesus zu kommen und seine Hand auf das Mädchen zu legen - dann wird sie lebendig, sagt er. Genauso einfältig und vertrauensvoll wie die Frau mit den Blutungen. Jesus geht mit ihm, jagt die jammernden Menschen aus dem Haus mit dem Worten: Geht hinaus, das Mädchen ist nicht tot, es lebt. Und dann greift er sie bei der Hand, und sie lebt.

             Das eine Wunder nach dem andern. Erzählt, als wäre das Wunder das Selbstverständlichste von der Welt. Und genau das ist es gerade nicht. Das Wunder ist von einer andern Welt. In unserer Welt herrscht nicht das Wunder, sondern es herrschen Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit. Man kann den Leuten also nicht verdenken, dass sie bitter lachten, als Jesus sagte: Sie ist nicht tot, sie schläft nur.

             Sie schläft nur! Was für ein sentimentales Gerede, mögen sie gedacht haben. "Tod ist nur ein Nickerchen, den wir vom Schlafe kennen", sagt der Liederdichter (N.F.S. Grundtvig), und das kann ein Dichter sagen, weil seine Sprache die Sprache einer andern Welt ist als die der Notwendigkeit, es ist die Sprache der Poesie. Und die Poesie ist mit dem Märchen verwandt, mit dem Universum, in dem alles denkbar ist und in dem man es wagt, die kühnsten Bilder zu verwenden.

             Aber in Wirklichkeit, in der Wirklichkeit dieser Welt, sind die Worte vom Tod wie ein Schlaf ein Kliché. Wer jemals am Sterbebett eines geliebten Menschen gestanden hat, weiß nur zu gut, dass es hier keinen Weg zurück gibt, hier wacht der Tote nicht wieder auf, erfrischt nach einem erquickenden Schlummer. Hier erstarrt der liebe Körper, er vergeht und wird in die dunkle Erde gesenkt. Und was sollen wir - hier in der Welt - zu der Frau sagen, die sich so abergläubisch und primitiv benimmt wie die kranke Frau im Evangelium? Sie, die dachte: Wenn ich nur den Saum seines Gewandes berühre, werde ich gesund. Nein, denken wir: So leicht geht das nicht. Es wäre nicht schlecht, wenn es so wäre! Wenn der Glaube tatsächlich alle unsere Krankheiten heilen könnte. Dann wären die Kirchen nicht so leer, wie die meisten es doch sind!

             Ja, aber wenn in unserer Welt keine Wunder geschehen, was sollen wir denn mit diesen Berichten? Berichte aus der Kindheit unserer Religion, aus einer Zeit, da man das Magische, das Mirakulöse ganz anders und vorbehaltlos anerkannte als heute?

             Ja, was sollen wir mit ihnen? Wir sollen von dem Universum hören, wo das Wunder wirklich hingehört. Wo nicht die Notwendigkeit herrscht, sondern Gott. Das Evangelium von heute ist ein Bild der Wirklichkeit Gottes. Und da ist alles auf den Kopf gestellt, was wir als natürlich und unumgänglich betrachten.

             Wenn Jesus von dem toten Mädchen sagt: Sie ist nicht tot, sie schläft, dann sagt er die Wahrheit. Weil er von der Wirklichkeit Gottes aus spricht. Das Mädchen ist für Gott nicht tot, er kann sie jederzeit an die Hand nehmen, sie aufrichten, zu ihr sprechen und ihre Antwort bekommen. Er kann sie von den Toten so leicht auferwecken, wie wir in unserer Welt einen Schlafenden wecken. Für Gott ist nichts unmöglich, deshalb ist das Wunder seine Domäne. Ja, Gott ist gleich dem Wunder, gleich dem Tod der Notwendigkeit, gleich der Geburt des ganz Neuen, des ganz Unerwarteten, des Undenkbaren.

             Und wenn Jesus zu der kranken Frau, die sein Gewand berührt, sagt: Dein Glaube hat dir geholfen - ja, dann geschieht das, weil er sieht, was Menschen nicht sehen. Sie - oder wir - sehen vielleicht nur eine etwas überspannte gutgläubige Frau, aber Jesus sieht einen Menschen, der seinen Fuß auf heiligen Boden gesetzt hat. Der die Welt der Notwendigkeit verlassen und sich in die Welt Gottes begeben hat. Sie zweifelt nicht daran, dass dort, wo Gott ist, auch das Wunder ist.

             Wenn das nicht so wäre, dann wäre das Wort Gott sinnlos. Auch für uns. Was sonst wäre der Sinn unseres Glaubensbekenntnisses? Wir glauben an die Vergebung der Sünden, sagen wir. Ja, wenn wir das wirklich meinen, dann bedeutet das, dass wir an das größte aller Wunder glauben: Dass ein Mensch, der Gott den Rücken gekehrt und seine Gaben: die Schönheit der Natur, die Liebe und Güte anderer Menschen undankbar und als eine Selbstverständlichkeit empfangen hat, - dass ein solcher Mensch, vielleicht bist du es oder bin ich es, von Gott in Gnaden angenommen wird, sobald sich ein Seufzer der Reue, hörbar oder unhörbar, seinem Herzen entringt. Dass derjenige, der alle Gebote Gottes übertreten hat, nur sagen kann "Erbarme dich!", und Gott sich dann seiner erbarmt, ihn oder sie in das Reich seiner Liebe hineinnimmt - das ist Wunder über Wunder.

             Und wir sagen: Wir glauben an die Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben. Wir wiederholen m.a.W. das Bekenntnis, das der Vater des toten Mädchens im Evangelium ablegte: Wenn du deine Hand auf sie legst, dann wird sie leben. Wenn du, Gott, deine Hand auf uns legst - dann werden wir leben, im Leben und im Tod werden wir leben. Hier auf Erden werden wir in dem Glauben leben, nicht nur in die Welt der Notwendigkeit hineinzugehören, sondern auch in die Welt, in der Wunder geschehen, in der alles geschehen kann, in der Verwandlung möglich ist, sogar in der furchtbarsten Lebenssituation, weil du, Gott, alles und alle verwandeln und erneuern kannst, wo und wann immer du willst.

             Und im Tod werden wir leben, weil dein Wille und deine Kraft zur Verwandlung keine Grenze kennt. Wir selbst können dem Tod nicht entrinnen, aber du kannst unseren Tod in einen Schlaf verwandeln, und unseren Schalf in ewiges Leben.

             Welch eine Freiheit liegt in diesem Glauben. Welch ein Heil! Amen

 



Pastorin Eva Meile
Frederiksberg, Dänemark
E-Mail:

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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