Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach
3. Sonntag nach Trinitatis, 21.06.2015
Predigt zu Lukas 15:1-10, verfasst von Niels Henrik Arendt
- Warum verlässt der Hirt die 99 Schafe, um nach dem einen zu sehen, das er verloren hat? Er tut es, weil dieses Schaf verschwunden ist. Und der Mensch, der die Orientierung im Leben verloren hat und nicht ein und aus weiß, soll wissen, dass Gott ihm nahe ist – gerade dort, wo er sich befindet. Zwischen Gott und den Ratlosen und Ausweglosen besteht eine besondere Gemeinschaft. Draußen in der Wildnis ist Gott unablässig aktiv, sagt Jesus, weil er Gott für die sein will, die ihn am meisten brauchen.
- So dachte man nicht zur Zeit Jesu. Vielleicht tun wir dies heute auch nicht. Damals aber scheute man sich nicht, direkt zu sagen, dass nur die Frommes wagen konnten, sich Gott zu nähern. Sie sollten sich von anderen Menschen nach Betragen und Wesen unterscheiden. Wenn sie zu Gott und über Gott sprachen, hatte dies in Ehrfurcht zu geschehen, denn Gott war ganz anders als Menschen, besonders anders als gewöhnliche Menschen. Einmal am Ende der Zeiten würden die Heiligen zusammen mit dem Heiligen speisen, und während sie darauf warteten, gehörte es sich nicht, mit den weniger Heiligen gemeinsam zu essen. Es konnte ja nicht auch Gemeinschaft bestehen zu der Seite, wenn sie einmal die Gemeinschaft mit Gott erleben sollten.
- Jesus war nicht so pingelig bei der Auswahl seiner Tischgenossen. Er aß mit denen zusammen, die sich am meisten von Gott entfernt hatten, mit denen, deren Verhältnis zu Gott mehr als zweifelhaft war, mal ein enges Verhältnis, mal weit weg, aber jedenfalls ohne die geringste Andeutung von Heiligkeit im Urteil der Menschen. Das ist seine Sache, könnte man natürlich sagen. Aber Jesus ließ durchblicken, dass es Gott war, der bei solchen Gelegenheiten mit denen aß, die er auserwählt hatte. Leute, die meinten, Gott am nächsten zu stehen, bekamen zu hören, dass Gott bei denen war, die für sie ganz außerhalb der Gemeinschaft standen.
- Wenn Jesus dann, veranlasst durch den tonangebenden Zorn, von Gott spricht, tut er dies in denselben Worten, die er schon in die Tat umgesetzt hatte. Er erzählt von Gott in Gleichnissen, d.h. er vergleicht Gott mit ganz gewöhnlichen einfachen Menschen. Manchmal vergleicht er ihn zwar auch mit einem König oder großem Herren, aber dann ist es fast immer ein König, der sich höchst unköniglich benimmt – oder königlich in einer ganz unerwarteten Weise.
- Meist vergleicht Jesus Gott mit einfachen Menschen - wie im Gleichnis vom Hirten oder dem Gleichnis vom verlorenen Groschen, wo die Hautperson eine Hausfrau ist. Wir verbinden etwas Idyllisch-romantisches mit einem Hirten, aber bei den Menschen zur Zeit Jesu sah man es als ein schmutziges, einfaches Stück Arbeit, Tiere zu hüten, ja in den Augen vieler frommer Leute war es gar eine sündige Beschäftigung. Ihnen muss es unsäglich plump, fast blasphemisch erschienen sein, wenn Jesus in dieser Weise von Gott sprach. Aber eines war4 ihnen klar: Das war nicht, um die Leute zum Narren zu halten, Jesus meinte es ernst. Er war der Auffassung, dass Gott nicht der Erhöhte war, dem man sich kaum zu nähern wagte, sondern dass Gott ohne Rücksicht auf seine eigene Heiligkeit sich den Menschen genähert hatte, und dass er nicht die auserwählt hatte, die ihm wenigstens am nächsten standen, sondern die, die am äußersten Rande existierten. Jesus durchbrach die Heiligkeit Gottes, wie man sie bis dahin verstanden hatte.
- Dies ist auch der Fall, wenn Jesus im Gleichnis vom verlorenen Groschen Gott in der Gestalt einer Frau abbildet. Wenn es um Gott ging, kamen die Frauen ganz entschieden erst in zweiter Reihe. Die häusliche Arbeit und der Kaffee mit der Nachbarin als Bild für das Verhältnis Gottes zu den Menschen – das war schockierend. Aber Jesus ging gar noch einen Schritt weiter: Er erzählte nicht nur, dass Gott uns in unserem ganz gewöhnlichem Alltag folgt (und dass deshalb Ereignisse aus eben diesem Alltag als Bilder für Gott dienen können), er sagte auch, dass Gott dem Menschen bis ganz dahin folgt, wo das Leben für ihn kaputt geht. Gott ist nicht nur außerhalb des geschlossenen Zirkels, er ist weit, weit weg von dem Himmel der Unberührbarkeit, außerhalb der äußersten Zirkel, draußen in der Wildnis, wo es keine Gemeinschaft gibt, keine Ganzheit, kein Einverständnis, keine Geborgenheit, wo alle Wege Abwege sind.
- Dort ist Gott nicht, sagten die Frommen, denn das ist die Öde der Verdammnis. Doch, sagt Jesus – denn dort brauchen Menschen Gott mehr als irgendwo sonst, deswegen ist er dort – so ist Gott, bereit, das zu finden, was verloren ist, bereit zu heilen, was zerbrochen ist. Dort draußen, an dem unheiligsten aller Orte, entsteht eine Gemeinschaft, eine Gemeinschaft des verlorenen Menschen mit dem Gott, der seine eigene Heiligkeit durchbrochen hat, aus ihr ausgewandert ist, um nicht von denen getrennt zu sein, die ihn brauchen. So geht Gott mit uns aus der Kirche hinaus. So wie Jesus die Häuser der Ausgestoßenen aufsuchte und Gott mit sich hineinnahm, so geht er mit Menschen heute auf ihren Wegen, auch mit denen, von denen man vielleicht glauben sollte, dass sie ihm am meisten fern standen. Nicht um alle menschlichen Abwege gutzuheißen, sondern um diese Menschen nicht im Stich zu lassen. Und auch wenn wir uns vielleicht einbilden, dass wir auf dem rechten Weg sind, zum, Kreis der Glücklichen, Erfolgreichen und Starken gehören, so enden wir auch da draußen, wo das Leben entweder für uns zerstört wird und wir weder ein noch aus wissen – oder wo wir das der anderen zerstören. Das Letztere ist vielleicht mehr die Regel.
- Es gibt für uns alle eine Wildnis, in der alle Wege Abwege sind, die nirgendwo hinführen. Wir versuchen es vielleicht auf dem Wege der Selbstbehauptung – oder wir richten den Hass gegen uns selbst und finden es völlig gleichgültig, ob wir uns in der einen oder anderen Weise verhalten. Oder wir tun, was man so tut, leben so ordentlich wie möglich – und erfahren dennoch, dass echte Gemeinschaft nicht in der gemeinsamen Jagd nach Dingen besteht. Alles geht auf in Berechnung, auch unser Verhältnis zu anderen Menschen. Die Wildnis kann sich selbst in den engsten Beziehungen zwischen Menschen ausbreiten, zwischen Eheleuten oder Eltern und Kindern. Vielleicht scheint es uns, dass unser Leben eben so ist, vielleicht haben wir noch nicht entdeckt, wie sehr wir von dem abgewichen sind, was eigentlich der Sinn unseres Lebens ist.
- Aber nun sagt Jesus also, dass Gott auf den Abwegen der Menschen ist, dass er dort nach uns sucht. Er hält sich nicht für zu heilig, er hält sich nicht für zu erhaben. Die Wüste, dort wo alle Gemeinschaft zerbrochen ist, wo Geborgenheit, Ganzheit und Sinn verschwunden sind, wird zum heiligen Ort, weil Gott uns dort aufsucht. Gott ist ganz anders, sagten die Tonangebenden zur Zeit Jesu – aber die Art und Weise, wie sie über Gott dachten, war vielleicht doch nicht so anders, sie passte allzu gut zu ihrer eigenen Einteilung der Menschen. Gott ist wirklich anders, als die Leute glaubten, ja bestimmt auch anders als diejenigen glaubten, unter denen Jesus lebte. Gott ist dort, wo man es nicht erwartet, immer.
- Er kann uns verlorengehen, aber wir können ihm nicht verlorengehen, denn wenn wir uns von dem entfernen, was der Sinn des Lebens ist, so sind wir dennoch dort, wo er uns sucht. Warum verlässt der Hirte die 99 Schafe und sucht das eine, das er verloren hat? Er tut es, weil dieses Schaf verloren Und der Mensch, der die Orientierung im Leben verloren hat und weder ein noch aus weiß, soll wissen, dass Gott ihm nahe ist – gerade dort, wo er sich befindet. Ich glaube, das ist genau unsere Situation jetzt. Und deshalb ist dies eine heilsame Botschaft. „Was kann uns kommen an für Not, so uns der Herre weidet“[1]. Amen
[1] Dän. Gesangbuch 662, dt. Andreas Knöpken 1527 – siehe http://matthaeusglyptes.blogspot.dk/2010/06/was-kann-uns-kommen-fur-noth.html
Pastor, ehem. Bischof Niels Henrik Arendt
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