Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 21.06.2015

Predigt zu Lukas 15:1-3.11b-32, verfasst von Rainer Stahl

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

 

 

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

 

Ein so bekanntes Gleichnis predigen zu müssen, beziehungsweise zu dürfen, stellt eine besondere Chance, aber auch eine besondere Versuchung dar. Wir alle – ich als Prediger, Sie als Leserinnen und Leser, die Sie vielleicht auch vor der Aufgabe stehen, dieses Gleichnis zu predigen – kennen das so genannte „Gleichnis von verlorenen Sohn“ schon sehr lange und über verschiedenste Wege: Christenlehre oder Religionsunterricht, Präparanden- und Konfirmandenzeit, Gottesdienste und Predigten anderer, Kunst und Kultur. Immer wieder ist uns dieses Gleichnis begegnet. Vielleicht zum Beispiel in Form des Spätwerks Rembrandts, des großen Gemäldes, das uns den Sohn von hinten zeigt, wie er in die liebenden Arme seines Vaters fällt, das in einem der letzten Räume – wenn ich mich recht an meinen Besuch im August 1986 damals noch in Leningrad erinnere – der Eremitage, des kaiserlichen Schlosses in St. Petersburg, des „Winterpalastes“, hängt. Da haben wir die „Lösung“ vor Augen: Der Sohn mit abgerissener Kleidung, wird doch aufgenommen vom Vater in Liebe und Barmherzigkeit! Über diese „Lösung“ will ich heute nachdenken.

 

 

(Quelle: Joachim Schäfer - Ökumenisches Heiligenlexikon)

 

Liegt auf der Tatsache Bedeutung, dass der Sohn, der in die Ferne gegangen war, dort seinen Lebensunterhalt durch Schweinehüten verdienen muss? Ich denke: Ja, eine sehr große Bedeutung!

 

Damit verlässt der ausgewanderte Jude endgültig den Bereich seiner Identität. Er ist bereit, letzte Grenzen zur Unreinheit hin zu überschreiten. Nur, um ein in jüdischen Augen beinahe „unwertes“ Leben zu führen. Sein Weg hinaus war in Etappen erfolgt. Schon das Auszahlen des Erbes ist ein erster Schritt: Das, was seine Identität ausmachte – Leben in der eigenen Religionsgemeinschaft und dadurch unter den Augen Gottes, des Vaters –, hatte er verlassen. Das Leben mit falschen Freunden und Freundinnen war Ausdruck der Suche nach Leben, nach neuer Identität jenseits der traditionellen Grenzen. Und, nachdem die Lebenshoffnungen auf diesem Weg enttäuscht waren, nun der Schritt in eine ganz andere Kultur, die von den eigenen Voraussetzungen her nur als endgültiger Abstieg und letztes Scheitern empfunden werden konnte. Das ist der Weg dieses Sohnes: Verleugnen der eigenen Identität und Verlust jeglicher Identität. Nun musste er sich von der Voraussetzung „Schweinhirt“ her eine neue Identität aufbauen. Kann das gelingen?

 

Jede und jeder von uns hat Veränderungen und Brüche der eigenen Identität erlebt. Wie ist das gewesen? Wie läuft das gerade ab?

 

Zum Beispiel gibt es in den Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland manche, die ihre Namen gewechselt haben, weil sie einer angestammten nationalen Identität bewusst wurden und diese nun mit dem neuen, nicht mehr russischen Namen zum Ausdruck bringen – was jetzt in der multinationalen Kultur in Russland problemlos möglich ist. Zum Beispiel gab es im Osten Deutschlands Menschen, die, aus kommunistischem Elternhaus kommend, erkannten, dass sie eigentlich jüdische Wurzeln haben, und deshalb nach Israel gegangen sind und nun bewusst als Juden leben. Solche und ähnliche Identitätsveränderungen und -wechsel gibt es immer wieder. Eigentlich erfahren wir von ihnen nur, wenn die Betroffenen sie als Erfolgsgeschichte bewerten, wenn sie mit dem Ergebnis zufrieden sind, wenn sie die alte Identität hinter sich gelassen haben. Was aber, wenn dieser Weg ins Scheitern führt? Darauf gibt unser Gleichnis Antwort. Und zwar eine überraschende Antwort:

 

Oberflächlich betrachtet, kehrt der Sohn, der in die Fremde gegangen war, nach Hause, in seine alte Identität zurück. Genauerer Betrachtung erschließt sich aber eine besondere Erkenntnis: Der Sohn macht sich in der Haltung des Rückkehrers auf den Weg. Er sieht sich als einer, der gesündigt hat, der die Regeln seiner Identität verletzt hat, der die Reinheitszäune bis zu letzter Unreinheit durchbrochen hat: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.“ Deshalb kann er sich auch nur vorstellen, als Niedrigster im alten Bereich wieder aufgenommen zu werden: „Mache mich zu einem deiner Tagelöhner!“ Was in der Fremde sein Schicksal gewesen wäre – sich wieder langsam eine Identität aufzubauen –, das kann er sich auch nur für das Zuhause vorstellen: Langsam wieder hineinzuwachsen in die frühere Identität.

 

Und da hat er ein Erlebnis, das die angestammte Identität grundlegend verändert: Der Vater, Gott, nimmt ihn ohne jede Leistung auf. Keinerlei Maßnahmen zur Wiederherstellung der Reinheit sind nötig. Keine Vorstellung bei Priestern, wie in vielen Heilungsberichten Jesu. Gar nichts. Ohne jede Vorbedingung wird er aufgenommen in die vollen Rechte als „Sohn“.

 

Die Orientierung an identitätsstiftenden Regeln war also ein Missverständnis. In der entscheidenden Herausforderung – der Wiederbegegnung mit dem Vater – sind sie alle unwichtig. Jetzt bestimmt etwas ganz anderes:

 

Hier wird das Wesen unseres christlichen Glaubens erkennbar. Gottes „Ja“ gilt ohne jede Voraussetzung. Wir brauchen keinerlei Leistung mitzubringen. Wir werden von ihm aufgenommen.

 

Das ist das Bild Gottes, das Jesus verkündigt hat. Hier hören wir wirklich Jesus selbst. Und genau dieses Bild Gottes hat Rembrandt gemalt: Einer, der die Arme ausbreitet und aufnimmt, wer zu ihm kommt!

 

Wir haben von dieser Stelle aus in Kirchen- und Theologiegeschichte darum gerungen, wie dieses „Kommen“ aussieht. Was wir doch „machen müssen“, um in den Bereich der Aufnahme durch Gott zu kommen. Zum Beispiel, „wiedergeboren zu werden“. Zum Beispiel, um „Heiligung“ sich zu bemühen. Zum Beispiel, kirchliche Regeln zu befolgen. Und vieles mehr.

 

Jesus äußert sich zu all’ dem nicht. Er betont die Hauptbotschaft: Gott nimmt auf – ohne Voraussetzungen. Evangelisch-lutherisch gesagt: Allein aus Gnaden. Auch römisch-katholisch gesagt: Allein aus Gnaden. Das ist das Evangelium. Das ist frohe Botschaft. Dies ist uns aufgegeben. Mehr aber auch nicht.

 

Nur auf eine Folge macht Jesus aufmerksam: Diese frohe Botschaft zu leben, bedeutet, andere zu verunsichern:

 

Die große Lektion über das Wesen der Identität vor Gott – dass sie uns ohne jede Voraussetzung geschenkt wird – müssen auch diejenigen lernen, die scheinbar die eigene Identität nie verlassen haben. Wie der Sohn, der zu Hause geblieben war. Diese haben noch nicht begriffen, dass die Regeln von Glauben, Gottesdienst und Reinheit nur vorläufig sind. Sie gar nicht wichtig sind, wenn es wirklich darauf ankommt. Dass Gott nur vordergründig ein Gott von Regeln und Geboten ist, sondern eigentlich ein Gott der Barmherzigkeit und des Erbarmens.

 

Diese Wahrheit zeichnet Jesus mit einem Bild. Das ist das eigentliche Ziel-Bild des Gleichnisses:

 

Der Vater, Gott, steht da mit ausgebreiteten Armen und wartet auf den Sohn, der scheinbar immer zu Hause geblieben war: „Mein Sohn […], du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein!“

 

Das wahre Bild des verlorenen Sohnes wäre nicht das, das Rembrandt hinterlassen hat, es wäre das Bild des Vaters, der mit ausgebreiteten Armen dasteht und auf seinen zu Hause gebliebenen Sohn, auf seine zu Hause gebliebene Tochter wartet. Der Sohn und die Tochter, die noch nicht in die Arme des Vaters fallen, sind für diese Zeitspanne des Zögerns, der Dickköpfigkeit, des Beharrens in früher Gelerntem, die verlorene Tochter, der verlorene Sohn. Aber gerade für sie und für ihn sind die Arme Gottes geöffnet. So ist unser Gott. Das sagt uns Jesus auch im Jahr 2015!

 

 

Ich halte es für eine große Versuchung, wenn wir dieses Gleichnis so deuten, dass wir uns selbst verpflichten, andere aufzunehmen, Gemeinschaft zu gestalten, die Identitätssuchenden zu bestärken. Das mag Folge der Erfahrung werden, von Gott Angenommene und Angenommener zu sein. Heute aber, an diesem Sonntag, steht die Glaubenseinsicht im Vordergrund, dass Gott so ein Gott ist, der bereit steht zur Aufnahme, zur Hilfe, zur Rettung. Dass er bereit steht mit offenen Armen.

 

Das gilt uns allen: Sei es, dass wir eigene Wege gegangen, gestolpert, geflohen waren und das Ziel aus den Augen verloren hatten. Sei es, dass wir unhinterfragt und selbstverständlich in der eigenen Identität geblieben waren – und sie doch verloren hatten.

 

Gott schenkt uns allen eine neue Identität. Als seine geliebte Tochter, als sein geliebter Sohn.

Amen.

 

 

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“



Pfarrer Dr. Rainer Stahl
Erlangen
E-Mail: rs@martin-luther-bund.de

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