Liebe Gemeinde, lassen Sie mich gleich neben den biblischen Text
einen lyrischen des 20. Jahrhunderts stellen, natürlich Bezug
nehmend auf das im Evangelientext angeschlagene Thema:
Franz Werfel:
Was ein jeder sogleich nachsprechen soll
Niemals wieder will ich
Eines Menschen Antlitz verlachen.
Niemals wieder will ich
Eines Menschen Wesen richten.
Wohl gibt es Kannibalen-Stirnen.
Wohl gibt es Kuppler-Augen.
Wohl gibt es Vielfraß-Lippen.
Aber plötzlich
Aus der dumpfen Rede
Der leichthin Gerichteten,
Aus einem hilflosen Schulterzucken
Wehte mir zarter Lindenduft
Unserer fernen seligen Heimat
Und ich bereute gerissenes Urteil.
Noch im schlammigsten Angesicht
Harret das Gott-Licht seiner Entfaltung.
Die gierigen Herzen greifen nach Kot -.
Aber in jedem
Geborenen Menschen
Ist mir die Heimkunft des Heilands verheißen.
Soweit Franz Werfel. Das Thema ist brisant, liebe Gemeinde. Urteilen
und Verurteilen - wie schnell sind wir womöglich damit bei der
Hand. Wir setzen unser Leben, unsere Fähigkeiten, unsere
Weltanschauung, unsere Erziehung absolut und nennen unseren
Standpunkt: "man". So etwas tut man doch nicht. So viel Geld gibt
man doch nicht für Unnützes aus. Und wie schnell zeigen dann
unsere Finger auf den oder die: "Seht Ihr, dahin kommt es, wenn
man so ist oder so wird oder sich so gibt." Und so verspritzen
wir Gift, Gift, das in unser eigenes Leben zurckfließt: Die
Atmosphäre ist vergiftet, Vertrauen zerstört, der andere spürt,
daß wir nichts von ihm halten, er wird durch uns verunsichert und
gibt uns seinerseits zu spüren, daß er von uns nichts hält. Streß
ohne Ende, wo soll es hinführen?
Fragen wir uns einen Augenblick, wie das kommt, daß es, offenbar
zu allen Zeiten, so sehr in uns Menschen lag und liegt, auf
andere herunterzusehen, andere zu verurteilen. Es gibt, denke
ich, eine ganz einfache Erklärung: Je kleiner wir andere machen,
umso größer stehen wir selber da. Und wir fühlen uns so wenig
wertvoll, daß wir nur, indem wir den Wert des anderen mindern,
unseren eigenen Wert meinen steigern zu können. Und da allerdings
setzen ein erstes Mal mit Macht die Worte Jesu ein: "Auch Euer
Vater ist barmherzig. Er ist barmherzig zu Euch. Er schätzt Euch
hoch, jeden und jede einzelne. Deshalb habt Ihr es nicht nötig,
auf Kosten anderer zu leben. Nein, Ihr seid wertvoll, weil Gott
Euch wert achtet. Weil Gott sein Erbarmen Euch zuwendet. Und
darum: Seid auch Ihr barmherzig. Schätzt auch Ihr den anderen
hoch, wie Gott Euch hoch schätzt". Der Weg Jesu geht weg von dem
Bild, das wir ja heute allerorten in unserer
Konkurrenzgesellschaft vorgespiegelt bekommen: "Nur, wer die
beste Leistung bringt, kommt weiter, alle anderen bleiben zurück.
Also bitte: Wenn Du nicht zurückbleiben willst, dann strenge Dich
an, gib Dir keine Blöße. Und wenn Du Dich nicht anstrengst, und
wenn Du Dir doch eine Blöße gibst, dann wundere Dich nicht
darüber, daß andere auf Dich herunterschauen - sie haben allen
Grund dazu!" - Dies ist das Gift unseres Zeitgeistes, aber nicht
die Lehre Jesu. Die Lehre Jesu lautet anders: "Jeder Mensch ist
ein Geschöpf Gottes, geliebt vom Vater aller Menschen, den wir
Gott nennen. Und darum soll", sagt Jesus, "diese Liebe Gottes zu
allen Menschen auch Euer Verhältnis zu Euren Mitmenschen
bestimmen. Begegnet ihnen mit Achtung und Wertschätzung, wie Ihr
wollt, daß man auch Euch mit Achtung und Wertschätzung begegnet."
"Ihr macht Euch", sagt Jesus, "Euer eigenes Leben dadurch nicht
etwa schwerer, sondern leichter. Denn die Maßstäbe, die Ihr an
andere anlegt, die wird man auch an Euch anlegen. Das müßt Ihr
dann tragen. Könnt Ihr denn selber so leben, wie Ihr es von
anderen fordert?" fragt Jesus. "Und wenn nein, welches Recht habt
Ihr, von anderen etwas zu verlangen, was Ihr selbst nicht leben
könnt? Geht freundlich mit Euch selber um und mit den Forderungen
an Euch, und geht genauso freundlich auch mit anderen und den
Forderungen an sie um. Brecht nicht gleich den Stab über
jemandem, bevor Ihr nicht seine Geschichte, seine Lebensumstände
kennt!"
Warum geht eine Mutter so unfreundlich, so lustlos, so hart und
streng mit ihren Kindern um? Ist sie vielleicht selbst am totalen
Ende ihrer eigenen Kraft angelangt? Kann sie vielleicht selbst
einfach nicht mehr, muß ja aber doch immer noch weiter? Wird sie
deshalb so lieblos, so mürrisch, so abweisend, so ungerecht gegen
ihre Kinder, die sie doch eigentlich lieb hat? So gesehen, könnte
ich ja beispielsweise sagen: "Liebe Frau, ich nehme Dir einmal
die Kinder ab, mach Dir einen schönen Tag, tu etwas Gutes für
Dich!" Es wird eine ganz andere Wirkung haben, als wenn ich sie
anfahre: "Wie gehen Sie eigentlich mit Ihren Kindern um, schämen
Sie sich denn gar nicht?"
Und dann steht zum Schluß in unserer Sammlung von Sprüchen Jesu
die Sache mit dem Splitter und dem Balken im Auge. Ich habe
diesen Spruch lange total mißverstanden, so, als würde Jesus
grundsätzlich verbieten, dem anderen "einen Splitter aus dem Auge
zu ziehen." Bleiben wir im Bild: Ein Splitter im Auge muß von
außen entfernt werden, wir können ihn nicht selber herausziehen,
das geht nicht, wir brauchen fremde Hilfe. Und wenn wir die nicht
bekommen, ist unser Auge, schlimmstenfalls sogar unser Leben in
Gefahr. Was Jesus sagen will mit diesem Spruch, etwas allgemeiner
formuliert: "Du bist nur dann ein guter Arzt, der dem Patienten
wirklich zu helfen vermag, wenn Du sehr wohl weißt, wie tief die
Krankheit auch in Dir selber steckt, und wie sehr Du selber immer
wieder der Hilfe des anderen bedarfst." Ein Arzt, der sagt: "Ich
helfe allen, brauche aber selber niemals Hilfe", der ist ein
schlechter Arzt. Und ein Mensch, der sagt: "Ich kann dem anderen
alle Hilfe geben, die er braucht, brauche aber selber niemals
Hilfe", der ist kein guter Mensch. Der gute Mensch weiß um den
tiefen Zusammenhang von Nehmen und Geben und wieder Nehmen und
wieder Ggeben. Und nur in einem solchen Fluß geschieht sinnvoller
Austausch der Kräfte, nach dem Motto: "Ich verstehe Dich doch nur
zu gut, mir geht es ja selber auch oft so, aber darf ich Dir
sagen, was mir an dieser oder jener Stelle bei Dir auffällt?" Nur
in dem Maße, wie ich an mir selber arbeite, habe ich das Recht,
mich mit Fehlern anderer zu befassen. Da die Fehler anderer für
diese aber u. U. lebensgefährlich werden können, und da ich als
Christ verpflichtet bin, das Leben des anderen zu schützen, werde
ich an mir arbeiten müssen, um die Fähigkeit und das Recht zu
erhalten, dem anderen in seinen Fehlern beizustehen und ihnen
womöglich herauszuhelfen.
Franz Werfels unübertrefflichen Worten ist nichts hinzuzufügen:
"in jedem Geborenen Menschen Ist mir die Heimkunft des Heilands
verheißen." In jedem Menschen begegnet mir Christus, begegnet mir
ein Funke der göttlichen Liebe, ohne den kein Mensch in diese
Welt hineingestellt ist. Allein, daß Du bist, ist Erweis der
göttlichen Liebe, ob Du es glauben kannst, ob Du es noch weißt,
ob Du es gar spürst oder nichts von alledem. Das spielt letztlich
keine Rolle.
Wenn es uns gelingt, im Umgang mit Menschen diesen Funken
göttlicher Liebe, der in jedem Menschen ist, zum Leben zu
erwecken wenigstens ein Stückweit, dann leben wir heilsam, für
unsere Mitmenschen und für uns selber. Gott helfe uns, jedes
Urteil, das wir im Begriff sind, in aller Stille oder
öffentlich-lautstark zu fällen, zu verwandeln in einen Gedanken,
ein Wort, eine Tat helfender Liebe. Amen.
Lieder:
EG454,1-6 Auf und macht die Herzen weit
EG495,1-4 O Gott Du frommer Gott
EG235,1-4 O Herr, nimm unsre Schuld
EG195,1-3 Allein auf Gottes Wort
(In manchen Gesangbuchanh„ngen zu finden und direkt auf den
Evangelientext bezugnehmend: "Ach komm, fll unsre Seelen ganz")
Eingangsgebet:
Du unser Gott und Vater, wir kommen aus der Unruhe des Alltags in
diesen Gottesdienst. Laá uns still werden vor Dir und Dich h”ren.
Mach uns bereit fr das, was Du uns sagen willst. Wir bekennen
Dir, daá wir schuldig> geworden sind in Gedanken, Worten und
Werken. Wir haben Deine Erwartungen nicht erfllt und unsere
Mitmenschen immer wieder entt„uscht. Wir haben geredet, wo wir
h„tten schweigen sollen, und geschwiegen, wo wir h„tten reden
sollen. Wir sind lieblos gewesen und vorschnell in unserem Urteil
ber andere. Wir bitten Dich: Bringe Du zurecht, was wir vers„umt
und worin wir versagt haben. Durch Jesus Christus, unseren Bruder
und Herrn, amen.
Kollektengebet:
Treuer Gott, Du hast zugesagt, daá Du barmherzig mit uns umgehen
willst. Wir bitten Dich: Hilf uns, nicht kleinlich und
selbstgerecht mit unseren Mitmenschen umzugehen, sondern zu
vergeben, zum Guten zu reden und die Liebe weiterzugeben, mit der
Du uns t„glich beschenkst. Durch unseren Herrn Jesus Christus,
Deinen Sohn, der mit Dir und dem Heiligen Geist lebt und Leben
schenkt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Psalm 42 EG723
AT-Lesung Genesis 50,15-21
Epistellesung R”mer 14,10-13