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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 28.06.2015

Predigt zu Lukas 6:36-42, verfasst von Erika Reischle-Schedler

Liebe Gemeinde, lassen Sie mich gleich neben den biblischen Text

einen lyrischen des 20. Jahrhunderts stellen, natürlich Bezug

nehmend auf das im Evangelientext angeschlagene Thema:

 

Franz Werfel:

            Was ein jeder sogleich nachsprechen soll

 

Niemals wieder will ich

Eines Menschen Antlitz verlachen.

Niemals wieder will ich

Eines Menschen Wesen richten.

Wohl gibt es Kannibalen-Stirnen.

Wohl gibt es Kuppler-Augen.

Wohl gibt es Vielfraß-Lippen.

Aber plötzlich

Aus der dumpfen Rede

Der leichthin Gerichteten,

Aus einem hilflosen Schulterzucken

Wehte mir zarter Lindenduft

Unserer fernen seligen Heimat

Und ich bereute gerissenes Urteil.

Noch im schlammigsten Angesicht

Harret das Gott-Licht seiner Entfaltung.

Die gierigen Herzen greifen nach Kot -.

Aber in jedem

Geborenen Menschen

Ist mir die Heimkunft des Heilands verheißen.

 

Soweit Franz Werfel. Das Thema ist brisant, liebe Gemeinde. Urteilen

und Verurteilen - wie schnell sind wir womöglich damit bei der

Hand. Wir setzen unser Leben, unsere Fähigkeiten, unsere

Weltanschauung, unsere Erziehung absolut und nennen unseren

Standpunkt: "man". So etwas tut man doch nicht. So viel Geld gibt

man doch nicht für Unnützes aus. Und wie schnell zeigen dann

unsere Finger auf den oder die: "Seht Ihr, dahin kommt es, wenn

man so ist oder so wird oder sich so gibt." Und so verspritzen

wir Gift, Gift, das in unser eigenes Leben zurckfließt: Die

Atmosphäre ist vergiftet, Vertrauen zerstört, der andere spürt,

daß wir nichts von ihm halten, er wird durch uns verunsichert und

gibt uns seinerseits zu spüren, daß er von uns nichts hält. Streß

ohne Ende, wo soll es hinführen?

 

Fragen wir uns einen Augenblick, wie das kommt, daß es, offenbar

zu allen Zeiten, so sehr in uns Menschen lag und liegt, auf

andere herunterzusehen, andere zu verurteilen. Es gibt, denke

ich, eine ganz einfache Erklärung: Je kleiner wir andere machen,

umso größer stehen wir selber da. Und wir fühlen uns so wenig

wertvoll, daß wir nur, indem wir den Wert des anderen mindern,

unseren eigenen Wert meinen steigern zu können. Und da allerdings

setzen ein erstes Mal mit Macht die Worte Jesu ein: "Auch Euer

Vater ist barmherzig. Er ist barmherzig zu Euch. Er schätzt Euch

hoch, jeden und jede einzelne. Deshalb habt Ihr es nicht nötig,

auf Kosten anderer zu leben. Nein, Ihr seid wertvoll, weil Gott

Euch wert achtet. Weil Gott sein Erbarmen Euch zuwendet. Und

darum: Seid auch Ihr barmherzig. Schätzt auch Ihr den anderen

hoch, wie Gott Euch hoch schätzt". Der Weg Jesu geht weg von dem

Bild, das wir ja heute allerorten in unserer

Konkurrenzgesellschaft vorgespiegelt bekommen: "Nur, wer die

beste Leistung bringt, kommt weiter, alle anderen bleiben zurück.

Also bitte: Wenn Du nicht zurückbleiben willst, dann strenge Dich

an, gib Dir keine Blöße. Und wenn Du Dich nicht anstrengst, und

wenn Du Dir doch eine Blöße gibst, dann wundere Dich nicht

darüber, daß andere auf Dich herunterschauen - sie haben allen

Grund dazu!" - Dies ist das Gift unseres Zeitgeistes, aber nicht

die Lehre Jesu. Die Lehre Jesu lautet anders: "Jeder Mensch ist

ein Geschöpf Gottes, geliebt vom Vater aller Menschen, den wir

Gott nennen. Und darum soll", sagt Jesus, "diese Liebe Gottes zu

allen Menschen auch Euer Verhältnis zu Euren Mitmenschen

bestimmen. Begegnet ihnen mit Achtung und Wertschätzung, wie Ihr

wollt, daß man auch Euch mit Achtung und Wertschätzung begegnet."

 

"Ihr macht Euch", sagt Jesus, "Euer eigenes Leben dadurch nicht

etwa schwerer, sondern leichter. Denn die Maßstäbe, die Ihr an

andere anlegt, die wird man auch an Euch anlegen. Das müßt Ihr

dann tragen. Könnt Ihr denn selber so leben, wie Ihr es von

anderen fordert?" fragt Jesus. "Und wenn nein, welches Recht habt

Ihr, von anderen etwas zu verlangen, was Ihr selbst nicht leben

könnt? Geht freundlich mit Euch selber um und mit den Forderungen

an Euch, und geht genauso freundlich auch mit anderen und den

Forderungen an sie um. Brecht nicht gleich den Stab über

jemandem, bevor Ihr nicht seine Geschichte, seine Lebensumstände

kennt!"

 

Warum geht eine Mutter so unfreundlich, so lustlos, so hart und

streng mit ihren Kindern um? Ist sie vielleicht selbst am totalen

Ende ihrer eigenen Kraft angelangt? Kann sie vielleicht selbst

einfach nicht mehr, muß ja aber doch immer noch weiter? Wird sie

deshalb so lieblos, so mürrisch, so abweisend, so ungerecht gegen

ihre Kinder, die sie doch eigentlich lieb hat? So gesehen, könnte

ich ja beispielsweise sagen: "Liebe Frau, ich nehme Dir einmal

die Kinder ab, mach Dir einen schönen Tag, tu etwas Gutes für

Dich!" Es wird eine ganz andere Wirkung haben, als wenn ich sie

anfahre: "Wie gehen Sie eigentlich mit Ihren Kindern um, schämen

Sie sich denn gar nicht?"

 

Und dann steht zum Schluß in unserer Sammlung von Sprüchen Jesu

die Sache mit dem Splitter und dem Balken im Auge. Ich habe

diesen Spruch lange total mißverstanden, so, als würde Jesus

grundsätzlich verbieten, dem anderen "einen Splitter aus dem Auge

zu ziehen." Bleiben wir im Bild: Ein Splitter im Auge muß von

außen entfernt werden, wir können ihn nicht selber herausziehen,

das geht nicht, wir brauchen fremde Hilfe. Und wenn wir die nicht

bekommen, ist unser Auge, schlimmstenfalls sogar unser Leben in

Gefahr. Was Jesus sagen will mit diesem Spruch, etwas allgemeiner

formuliert: "Du bist nur dann ein guter Arzt, der dem Patienten

wirklich zu helfen vermag, wenn Du sehr wohl weißt, wie tief die

Krankheit auch in Dir selber steckt, und wie sehr Du selber immer

wieder der Hilfe des anderen bedarfst." Ein Arzt, der sagt: "Ich

helfe allen, brauche aber selber niemals Hilfe", der ist ein

schlechter Arzt. Und ein Mensch, der sagt: "Ich kann dem anderen

alle Hilfe geben, die er braucht, brauche aber selber niemals

Hilfe", der ist kein guter Mensch. Der gute Mensch weiß um den

tiefen Zusammenhang von Nehmen und Geben und wieder Nehmen und

wieder Ggeben. Und nur in einem solchen Fluß geschieht sinnvoller

Austausch der Kräfte, nach dem Motto: "Ich verstehe Dich doch nur

zu gut, mir geht es ja selber auch oft so, aber darf ich Dir

sagen, was mir an dieser oder jener Stelle bei Dir auffällt?" Nur

in dem Maße, wie ich an mir selber arbeite, habe ich das Recht,

mich mit Fehlern anderer zu befassen. Da die Fehler anderer für

diese aber u. U. lebensgefährlich werden können, und da ich als

Christ verpflichtet bin, das Leben des anderen zu schützen, werde

ich an mir arbeiten müssen, um die Fähigkeit und das Recht zu

erhalten, dem anderen in seinen Fehlern beizustehen und ihnen

womöglich herauszuhelfen.

 

Franz Werfels unübertrefflichen Worten ist nichts hinzuzufügen:

"in jedem Geborenen Menschen Ist mir die Heimkunft des Heilands

verheißen." In jedem Menschen begegnet mir Christus, begegnet mir

ein Funke der göttlichen Liebe, ohne den kein Mensch in diese

Welt hineingestellt ist. Allein, daß Du bist, ist Erweis der

göttlichen Liebe, ob Du es glauben kannst, ob Du es noch weißt,

ob Du es gar spürst oder nichts von alledem. Das spielt letztlich

keine Rolle.

 

Wenn es uns gelingt, im Umgang mit Menschen diesen Funken

göttlicher Liebe, der in jedem Menschen ist, zum Leben zu

erwecken wenigstens ein Stückweit, dann leben wir heilsam, für

unsere Mitmenschen und für uns selber. Gott helfe uns, jedes

Urteil, das wir im Begriff sind, in aller Stille oder

öffentlich-lautstark zu fällen, zu verwandeln in einen Gedanken,

ein Wort, eine Tat helfender Liebe. Amen.

 

 

Lieder:

EG454,1-6 Auf und macht die Herzen weit

EG495,1-4 O Gott Du frommer Gott

EG235,1-4 O Herr, nimm unsre Schuld

EG195,1-3 Allein auf Gottes Wort

(In manchen Gesangbuchanh„ngen zu finden und direkt auf den

Evangelientext bezugnehmend: "Ach komm, fll unsre Seelen ganz")

 

Eingangsgebet:

Du unser Gott und Vater, wir kommen aus der Unruhe des Alltags in

diesen Gottesdienst. Laá uns still werden vor Dir und Dich h”ren.

Mach uns bereit fr das, was Du uns sagen willst. Wir bekennen

Dir, daá wir schuldig> geworden sind in Gedanken, Worten und

Werken. Wir haben Deine Erwartungen nicht erfllt und unsere

Mitmenschen immer wieder entt„uscht. Wir haben geredet, wo wir

h„tten schweigen sollen, und geschwiegen, wo wir h„tten reden

sollen. Wir sind lieblos gewesen und vorschnell in unserem Urteil

ber andere. Wir bitten Dich: Bringe Du zurecht, was wir vers„umt

und worin wir versagt haben. Durch Jesus Christus, unseren Bruder

und Herrn, amen.

 

 

Kollektengebet:

Treuer Gott, Du hast zugesagt, daá Du barmherzig mit uns umgehen

willst. Wir bitten Dich: Hilf uns, nicht kleinlich und

selbstgerecht mit unseren Mitmenschen umzugehen, sondern zu

vergeben, zum Guten zu reden und die Liebe weiterzugeben, mit der

Du uns t„glich beschenkst. Durch unseren Herrn Jesus Christus,

Deinen Sohn, der mit Dir und dem Heiligen Geist lebt und Leben

schenkt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

 

 

Psalm 42 EG723

AT-Lesung Genesis 50,15-21

Epistellesung R”mer 14,10-13



Erika Reischle-Schedler
Göttingen
E-Mail: e.reischle-schedler@t-online.de

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