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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 28.06.2015

Betriebsblind
Predigt zu Lukas 6:36-42, verfasst von Güntzel Schmidt

Jesus sprach: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet; und verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt. Gebt, und euch wird gegeben. Ein Maß, gut, festgedrückt, gerüttelt und nach allen Seiten überfließend, wird man in eure Tasche geben. Denn mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird euch wieder zugemessen werden.

Er erzählte ihnen aber auch ein Gleichnis: kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen?

Der Schüler steht nicht über dem Lehrer. Ganz vollendet, wird er wie sein Lehrer sein.

Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken im eigenen Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, lass mich den Splitter in deinem Auge herausziehen, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann kannst du genau zusehen, dass du den Splitter im Auge deines Bruder ausziehst.

(Eigene Übersetzung, vgl. http://offene-bibel.de/wiki/Lukas_6)

 

 

Liebe Schwestern und Brüder,

 

"mit dem Zweiten sieht man besser" - so warb das ZDF in Fernsehspots und auf Plakatwänden für sein Programm. Aber sieht man tatsächlich besser, wenn man sich ein Auge zuhält? Natürlich nicht! Der Werbespot besagt: Verlass dich auf das, was das ZDF dir zeigt. Damit siehst du sogar besser als mit deinen eigenen Augen.

Ich weiß nicht, ob diese Werbung bei Ihnen gefruchtet hat und sie jetzt alle ZDF sehen. Bei Werbung sind wir ja immer etwas skeptisch - wie jedes mal, wenn wir das Gefühl haben, jemand wolle uns etwas weismachen. Da halten wir es mit dem ungläubigen Thomas: "Wenn ich's nicht mit eigenen Augen sehe, kann ich's nicht glauben!" (vgl. Joh 20,25). Abseits solcher Glaubensfragen haben wir allerdings wenig Probleme, die Sicht anderer zu übernehmen. Solange die anderen Ansicht unsere eigene bestätigt oder ins Bild passt, das wir uns von einer Sache gemacht haben, sehen wir keinen Grund, die Sache mit eigenen Augen zu sehen.

Manchmal drücken wir auch bewusst ein Auge zu, sehen nicht so genau hin oder über etwas hinweg. Wenn es um sog. "Kavaliersdelikte" geht. Oder um einen Menschen, den wir mögen. Da kann man schon mal etwas durchgehen lassen.

 

II

Das Sehen ist der Sinn, auf den wir uns am stärksten verlassen, dem wir am meisten trauen. Wir achten darauf, dass wir auch im Alter noch alles ganz genau und möglichst scharf sehen. Zugleich aber sind wir ziemlich gelassen, wenn sich Sehfehler bei uns einschleichen. Unsere gar nicht so seltenen Sehfehler nimmt Jesus im heutigen Evangelium auf's Korn:

"Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken im eigenen Auge bemerkst du nicht?"

Ein sehr bekanntes und vertrautes Wort Jesu, dieser Satz vom Splitter und vom Balken; wenn man sich aber vorstellt, wie so ein Splitter im Auge aussieht, und wie es sich wohl anfühlt, einen Splitter im Auge zu haben, dann wird dieser Satz befremdlich. Jede und jeder hat sich schon mal einen Splitter eingerissen, ist in einen Dorn getreten. Aber wie soll man sich einen Splitter ins Auge einreißen (von einem Balken ganz zu schweigen)? Allein bei der Vorstellung wird einem ganz anders …

Offenbar meint Jesus seinen Satz vom Splitter und Balken nicht wörtlich. Was aber meint er dann?

Ein Splitter - das ist etwas Widerständiges: etwas, das von der ansonsten glatten Oberfläche absteht. Als Dorn einer Rose, als Bruchstück eines Glases steht der Splitter für eine andere, schmerzhafte, hässliche Seite.

Hans-Christian Andersen erzählt in seinem Märchen von der Schneekönigin von einem Zauberspiegel, der zerbricht und dessen Splitter den Menschen in die Augen fliegen, sodass sie die Wirklichkeit verzerrt wahrnehmen. Auch dem kleinen Karl, dem Held dieses Märchens, fliegt ein solcher Splitter ins Auge, sodass er nichts Schönes mehr wahrnehmen kann; er muss es zerstören.

 

III

Auch wir haben solche Splitter im Auge. Auch wir wollen manches nicht sehen, nicht wahrhaben. Anderes können wir nicht sehen, nicht wahrnehmen, weil ein Splitter im Auge uns daran hindert. Wir sind dafür blind. Wenn Jesus das Gleichnis von den beiden Blinden erzählt, die miteinander in die Grube fallen, dann meint er uns damit.

Wir sind manchmal blind - vor Hass oder vor Zorn; aber auch die Liebe kann blind machen. Wir sind für manches blind, was anderen wichtig ist. Das nehmen wir nicht einmal wahr. Wenn man genauer darüber nachdenkt, fallen einem viele Beispiele ein, wofür wir blind sind. Dann fällt auf, dass unsere Blindheit oft Dinge betrifft, bei denen wir uns besonders gut auskennen. "Betriebsblindheit" nennt man das, und sie besagt: Was man hundertmal sah, sieht man sich nicht mehr genau an. Weil man glaubt, es genau zu kennen.

Betriebsblindheit kann überall auftreten, nicht nur in der Fabrik oder der Firma, wo sie für Produktionsfehler oder Fehlentscheidungen verantwortlich ist. Man kann auch in der Beziehung betriebsblind werden, wenn man die Partnerin, den Partner nicht mehr wahrnimmt; nicht mehr sieht, wie es ihr oder ihm geht, wie er oder sie sich verändert. Betriebsblind kann man auch im Glauben werden: Z.B. wenn man meint, eine Bibelstelle so oft gehört zu haben, dass man sie auswendig kennt und sie einem nichts Neues mehr zu sagen hat.

 

IV

Diese Betriebsblindheit kritisiert Jesus, wenn er vom Splitter und vom Balken spricht. "Splitter" und "Balken" bezeichnen dabei nicht unterschiedlich schwere Grade von Betriebsblindheit. Vielmehr ist es so: was sich von Weitem als Splitter ausnimmt, wirkt aus nächster Nähe wie ein Balken. Anders gesagt: Ein Splitter, ein Blinder Fleck wirkt sich auf unsere Sicht der Dinge wie ein ganzer Balken aus.

Jeder Mensch hat einen solchen Splitter im Auge. Niemand sieht die Welt, sieht seine Mitmenschen völlig unvoreingenommen. Etwas versperrt immer unsere unbefangene, objektive Sicht auf Dinge und Menschen. Wir wissen bereits vorher, was wir sehen werden - zumindest glauben wir das. Jeder Mensch ist voreingenommen: je mehr man es abstreitet, es nicht wahrhaben will, desto dicker schwillt der Balken, den man im Auge trägt, an.

Aber wenn es so ist, dass jede und jeder einen Splitter im Auge trägt, warum kritisiert Jesus uns dann dafür? Ist es nicht ungerecht, etwas zu tadeln, das wir gar nicht ändern können?

Jesus tadelt uns nicht für den Splitter im Auge. Jesus kritisiert, dass wir trotz unseres Splitters im Auge meinen, wir sähen besser als andere. Nicht nur so scharf und genau, dass wir die kleinen Splitter in ihren Augen auch aus der Entfernung erkennen. Sondern vor allem meinen wir zu wissen, dass sie gerade da einen Splitter, einen blinden Fleck haben, wo wir ganz genau und ganz scharf sehen. Dass andere etwas falsch sehen, was wir richtig sehen.

 

V

"Der Schüler steht nicht über dem Lehrer. Ganz vollendet, wird er wie sein Lehrer sein."

Niemand hat die Wahrheit für sich gepachtet. Niemand kann die Wirklichkeit besser erkennen als die anderen. Weil alle einen Sehfehler haben, kann niemand die Welt so sehen, wie sie wirklich ist.

Was aber folgt daraus?

Jesus schlägt vor, wir sollten uns den Balken aus dem eigenen Auge ziehen. Aber wie zieht man einen Balken aus dem Auge, der gar nicht wirklich da ist, der nur virtuell existiert, als blinder Fleck, als Betriebsblindheit?

Ich fürchte, den Balken im Auge werden wir niemals los. Die Betriebsblindheit gehört zu unserem Menschsein dazu. Es wäre schön, wenn wir die Dinge so sehen könnten, wie sie wirklich sind; wenn wir jedem Menschen vorurteilsfrei und aufgeschlossen begegnen könnten. Aber das ist nicht möglich. Und so wäre es bereits ein großer Schritt, wenn wir uns eingestehen könnten, dass wir einen Balken im Auge haben. Dass wir die Welt nicht so wahrnehmen, wie sie ist, sondern wie wir sie sehen wollen. Damit haben wir zwar den Balken nicht aus dem Auge heraus. Aber wir wissen jetzt, an welchen Stellen wir blind sind.

 

VI

Wer so weit gekommen ist, sich einzugestehen, dass er einen Sehfehler hat, dem gibt Jesus einen weiteren Rat:

"Sei barmherzig".

Nach dem, was wir jetzt über die Betriebsblindheit wissen, können wir seine Aufforderung so verstehen: Kein Mensch kann die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind. Jede und jeder hat irgendwo einen blinden Fleck, den man niemals los wird. Aber man hat die Wahl, wofür man blind sein will. Man kann sich seinen Sehfehler aussuchen.

Jesus schlägt deshalb vor, öfter mal ein Auge zuzudrücken. Nicht für die "Amigos", nicht bei den sog. "Kavaliersdelikten". Sondern immer dann, wenn wir im Begriff sind, zu richten oder zu verurteilen. Wenn wir z.B. darüber befinden, wer es verdient, in unser Land zu kommen, und wer nicht. Wenn wir Menschen für ihre Lebensweise verurteilen, für ihre Art, sich zu kleiden, oder für die Art ihrer Partnerschaft.

Jedes Mal, wenn wir neidisch oder missgünstig sind, wenn wir anderen ihr Glück nicht gönnen können, ihren Wohlstand, ihren Erfolg, ihren Arbeitsplatz oder bloß den Aufenthalt bei uns, sollen wir uns das überquellende Maß vorstellen, mit dem Gott uns misst. Gott drückt bei uns immer wieder ein Auge zu, und manchmal sogar beide Augen. Gott hat nämlich keinen Balken im Auge, nicht mal einen Splitter. Deshalb sieht Gott ganz genau, wie wir sind. Und trotzdem leistet auch Gott sich einen Sehfehler: Gott sieht uns nicht auf das hin an, was wir sind, was wir getan haben. Sondern Gott sieht, wer wir sein könnten, was wir tun könnten. Gott sieht unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten und ist barmherzig mit unseren Fehlern.

Mit diesem Maß, mit dem Gott uns misst, sollen wir auch unsere Mitmenschen messen. Oder, um im Bild zu bleiben: Wir sollen die Menschen mit Gottes Brille sehen, mit Gottes Sehfehler, mit dem auch wir von Gott angesehen werden. Wir kennen nicht die traurige Geschichte hinter dem vermeintlichen Wohlstand; wir wissen nicht, welche Mühen der Erfolg kostete; wir haben keine Ahnung von dem Leid, das dem Glück vorausging. Wir - zumindest wir nach dem Krieg Geborenen - mussten keine Todesängste ausstehen, die Menschen heute dazu treiben, ihr Zuhause, ihre Heimat zu verlassen, ihr Leben Kriminellen anzuvertrauen und die lebensgefährliche Flucht über's Meer anzutreten.

 

VII

Wir können es uns nicht aussuchen, ob wir betriebsblind sein wollen oder nicht. Aber durch Christus haben wir die Freiheit, uns die Brille auszusuchen, durch die wir die Welt sehen wollen. Wir haben die Freiheit der Wahl, wo unser blinder Fleck sitzen soll: Wollen wir kleinliche, unbarmherzige Erbensenzähler sein, die anderen nichts gönnen, die sich für andere nicht freuen können? Oder wollen wir großzügig und barmherzig sein?

In Andersens Märchen von der Schneekönigin schwemmen am Ende Tränen den Splitter aus Karls Auge; er kann die Schönheit der Welt wieder erkennen und sieht, was wirklich wichtig ist. Manchmal muss uns erst Leid widerfahren, dass wir unsere eigenen Grenzen erkennen, dass wir den Balken in unserem Auge wahrnehmen und den anderen Menschen als Schwester oder Bruder. Gebe Gott, dass wir lernen, uns unsere Betriebsblindheit einzugestehen, ohne dass erst bittere Tränen fließen müssen!

Amen.



Pfarrer Güntzel Schmidt
Meiningen
E-Mail: guentzel.schmidt@gmx.de

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