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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 28.06.2015

Seinem Mitmenschen auf Augenhöhe begegnen
Predigt zu Lukas 6:36-42, verfasst von Anders Kjærsig

”Es geht darum, seinem Mitmenschen auf Augenhöhe zu begenen, auch wenn er am Boden liegt”. So sagte der frühere Chef der Sozialarbeit der dänischen Kirche Bjarne Lenau Henriksen vor einigen Jahren in einem Interview, als er nach seiner Auffassung vom Menschen gefragt wurde. Sie hiess in kurzer Form: ”Es geht darum, seinem Mitmenschen auf Augenhöhe zu begenen, auch wenn er am Boden liegt”.

Als der Filmregisseur Per Fly das Interview las, nahm er Kontakt auf zu Bjarne Lenau Henriksen, um mit ihm über seine Auffassung vom Menschen zu reden. Daraus wurde dann der Film ”Die Bank”, der sich mit den sozialen Problemen der reichen Welt und den Menschen am Rande der Gesellschaft beschäftigt.

Fly schildert in dem Film ein verkommenen und alkoholisierten Subsistenzlosen, der auf der Strasse lebt und auf Bänken schläft. Daher der Titel: ”Die Bank”. Die Hauptperson wird in dem Film als jemand geschildert, der an die Gesellschaft gebunden ist und auch so behandelt wird. Niemand sieht ihn auf gleicher Höhe, auf der er sich befindet. Und das ist die Botschaft von Fly.

Wenn ein Pastor und Chef der sozialen Arbeit davon reden kann, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, und wenn ein Filmregisseur einen Film machen kann, der die selbe Thematik behandelt, dann handelt es sich nicht um Worte und Themen, die aus der Luft gegriffen sind. Es sind Worte, die in einer Auffassung vom Menschen gegründet sind, die aus dem Christentum stammen. Nicht wahr?

Man könnte auch die Frage stellen: Was ist Barmherzigkeit. Ist Barmherzigkeit nicht, seinem Mitmenschen auf Augenhöhe zu begegnen – auch wenn er leidet und einem nicht einmal zum Lächeln zumute ist? Und was, wenn es der Leidende ist, der Barmherzigkeit zeigt? Wie verstehen wir das?

Ich denke in diesem Zusammenhang an Dostojevskis grossen Roman Der Idiot. Er handelt vondem blauäugigen Fürsten Myschkin, der sich in Sankt Petersburg niederlässt, wo sich die Handlung abspielt.

Dostojewski schildert Myschkin als einen Menschen mit einem durch und durch guten, gerechten und schönen Gemüt. Er ist eine Christusgestalt und steht im Gegensatz zuall den übrigen Personen, die im Roman auftreten. Kein egoistischer Hintergedanke verbirgt sich hinter Myschkins Worten und Taten. Er ist barmherzig zu denen, denen er keine Barmherzigkeit erweisen sollte. Er begegnet seinen Mitmenschen mit kindlichem Vertrauen, vergibt alle Kränkungen und entschuldigt alle Schwächen. In seiner grenzenlosen Liebe zum anderen Menschen kann er deshalb nur als Idiot aufgefasst werden.

”Es geht darum, seinem Mitmenschen auf Augenhöhe zu begenen, auch wenn er am Boden liegt”, um nun Henriksens Wort zu wiederholen. Der Idiot liegt mehrmals in dem Roman am Boden, während er zugleich viele Male andere aufrichtet, damit sie weiterkommen können. Auch während er selbst festsitzt.

Eine liegen danieder, um andere aufzurichten. Andere stehen, um nach denen zu treten, die am Boden liegen. Die Logik kan zuweilen merkwürdig und zynisch sein.

Goya hat ein Bild mit dem Titel ”Die Hinrichtung” gemalt. Es ist während des spanischen Bürgerkriegs gemalt. Es zeigt einen Mann, der vor einem Felsen oder einem Berg steht, so dass er keine Chance hat zu fliehen. Er ist ein Feins und ein Saboteur. Vor ihm stehen vier Soldaten mit erhobenem und geladenem Gewehr, bereit, den tödlichen Schuss abzugeben.

Das Bild ist ein existenzielles Bild, das schonungslos das menschliche Grauen schildert. Hier bedeutet ein Leben nichts. Wir sehen die Entschlossenheit in den Gesichtern der Soldaten, die Art und Weise, wie sie ihr Gewehr halten, und die zusammengekniffenen Augen, die sich af das Herz des entsetzten Mannes richten. Da ist keine Barmherzigkeit in ihren Blicken. Sie machen nur ihren Job.

Das Gesicht des Mannes entspricht dem Bild “Der Schrei” von Eduard Munch. Es ist frei von allen Nuancen, die ein Gesicht sonst enthält. Es drückt nur Angst aus. Das ist der eigene Ausdruck der Angst: Grauen, Einsamkeit, Ausgeschlossensein, Fremde, Finsternis und Tod.

Jesus vergab seinen Peiniger: den sie wissen nicht, was sie tun. Die Soldaten wissen, was sie tun, aber den Hingerichtete: Was tut er? Vergibt er und bittet für die, die ihn er schiessen? Ist das der Plan Gottes mit den Menschen? Ist da keine Barmherzigkeit in diesem Bild? Ist das der reine Zynismus, der nur schonungslos und ohne bDie Guten halten die Gewehre. Aber ist der Hingerichtete den durch und durch böse? Wir wissen es nicht. Das Bild sagt darüber nichts. Und trotzdem: “Es geht darum, seinem Mitmenschen auf Augenhöhe zu begenen, auch selbst wenn er am Boden liegt”. Aber wer bestimmt, wer liegt und wer steht?

Die, die andere in gute und böse Menschen aufteilen, zählen sich in der Regel selbst zu den. Dasselbe gilt für die, die nach dem Pronzip richtig und verkehrt aufteilen, sie rechnen sich selbst zu den Richtigen. Und das könnte man auch zu dem Begriffspaar Kluge und Dumme oder Idioten und Nicht-Idioten sagen. Auch für die, die am Boden liegen und aufstehen, kann das Begriffspaar verwendet werden. Wer am Boden liegt, tritt selten nach dem, der steht.

Es ist selten der Böse oder der Verkehrte, der Idiot, der am Boden liegt, oder der Dumme und Blinde, der unterscheidet zwischen Guten und Bösen, Richtigen und Verkehrten, Klugen und Dummen, Idioten und Nicht-Idioten, dem Gefallenen und dem, der sich erhoben hat. Es ist schwer, den Splitter i meigenen Auge zu sehen. Essei denn man gleicht eine Ostfriesen, von denen Witze gemacht werden. In Dänemark gibt es da zwei Versionen, Molbo-Witze und Aarhus-Witze.

Ein Witz geht so: Was ist der Unterschied zwischen einem Molbo-Witz und und einem Aarhus-Witz, fragt ein Molbo einen Aarhusianer, der selbstsicher antwortet: Die ersten Witze sind wirklich. Aber das ist eine Ausnahme.

“Es geht darum, seinem Mitmenschen auf Augenhöhe zu begenen, auch wenn er am Boden liegt”. Das könnte in Kurzform das sein, worum es im Christentum geht. Jesus geht zu Boden, um andere aufzurichten. Das liegt in der Spannung zwischen Kreuzigung und Auferstehung. Jesus wurde am Kreuz erhöht.

Daraus sollen wir lernen. Wir können nicht das tun, was Jesus getan hat, aber wir sollen ujns tief verneigen, damit wir unsere Mitmenschen aus der Perspektive sehen können, wo man am Boden liegt. Amen.

 

 



Pastor Anders Kjærsig
DK-5792 Årslev
E-Mail: Ankj@km.dk

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