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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 28.06.2015

Werdet barmherzig, wie euer (himmlischer) Vater barmherzig ist!
Predigt zu Lukas 6:36-42, verfasst von Thomas Bautz

Liebe Gemeinde!

In einem Abschnitt der Feldrede bei Lukas - analog zur Bergpredigt bei Matthäus - fordert der Nazarener: „Werdet barmherzig, wie euer (himmlischer) Vater barmherzig ist!“ Das Gewicht dieser Erwartungshaltung wird erst deutlich, wenn wir sie mit der Aufforderung bei Mt (5,48) vergleichen: „So seid nun vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Bovon, 322; Eckey, 315) Die Vollkommenheitsforderung entspricht der Aussage aus der Septuaginta: „Du sollst vollkommen sein vor dem Herrn, deinem Gott“ (Dtn 18,13 LXX).

Im Altenberger Dom wohnte ich einst einem der alljährlichen feierlichen Gottesdienste der Militärseelsorge bei. Ich saß mit einigen Kollegen hinter dem Altar, weil wir später das Mahl austeilten. Es war recht kalt und zugig. Die Predigt, traditionshalber mit deutlich politischem und gesellschaftskritischem Zungenschlag, vermochte mich aber zu erwärmen. Eine Aussage werde ich nie vergessen: „In unserem Land wurde die Barmherzigkeit abgelöst von der öffentlichen Meinung, und die ist allemal unbarmherzig!“

Offenkundig bedürfen nach wie vor Menschen der Aufforderung, barmherzig zu werden. Nur lautet dazu die bange, wenn auch selten gestellte Frage: Wer geht mit bestem Beispiel voran? Barmherzigkeit gilt als Richtmaß für alle. Das lässt sich an den Konkretisierungen erkennen, die Jesus oder Lukas vornehmen. Der Barmherzige handelt unkonventionell; schwimmt gegen den Strom; wird aktiv und geht dabei Risiken ein.

Hilfreich scheint mir ein Vergleich zwischen Barmherzigkeit und Warmherzigkeit. Ich bin immer dankbar und sehr erfreut, wenn ich warmherzigen Menschen begegne. Sie bringen die Eigenschaft einfach mit: Sie schauen ihre Mitmenschen mit warmen, freundlichen Augen an; sie sind feinfühliger Gesten fähig; einfühlsam, aber keineswegs aufdringlich; Empathie ist bei ihnen nichts Angelerntes. Warmherzige Menschen versuchen wahrhaftig zu sein; sie stellen sich nicht in den Vordergrund, wollen nicht im Mittelpunkt stehen; sind nicht rechthaberisch oder gar streitsüchtig. Die Warmherzigen sind den Sanftmütigen sehr ähnlich; sie freuen sich an allem, was lebt und sind dankbar und zufrieden. Sie sind gütig und großzügig; gelassen und ausgeglichen. Sie sind denen nah, die Nähe zulassen können. Sie wirken auf dem ersten Blick etwas weltfremd, weil wir uns ihrer Welt entfremdet haben.

Sprachgefühl und Menschenkenntnis sagen mir, dass es sinnlos wäre, jemanden aufzufordern: „Werde warmherzig!“ oder „Sei warmherzig!“ Entweder man ist warmherzig oder nicht, aber man kann sich nicht einmal selbst dazu entschließen, warmherzig zu werden. Ich weiß nicht, ob Warmherzigkeit in einer Gesellschaft oder Kultur mehr verbreitet ist als in einer anderen.

Da wir nun - wenn meine Vermutung stimmt - nicht warmherzig werden können, uns also in dieser Hinsicht nicht umzukrempeln vermögen, möchte ich mit Ihnen darüber nachdenken, was es für uns bedeuten könnte, barmherzig zu werden. Dabei erlangen wir keine Eigenschaft oder eine emotional aufgeladene Grundstimmung; vielmehr erlernen wir Handlungsweisen, neue Handlungsmaximen, die fortan unser Leben bestimmen können.

Keiner von uns soll ein „barmherziger Samariter“ werden, selbst wenn er dem Samariterbund angehört (humorvoll gemeint!). Aber wir dürfen uns von Lukas zu neuen Verhaltensweisen anregen lassen. Bis heute spricht man vom barmherzigen Samariter, einer Figur aus einer Beispielerzählung, die auch auf den Rabbi Jesus zurückgeht (Lk 10,30-37). Der Nazarener reagiert damit auf die Provokation eines Schriftgelehrten. Es geht um die Frage, wie man „ewiges Leben“ erlange; Jesus verweist auf die Tora, auf die Weisung „Gottes“. Sein Gesprächspartner rezitiert eine zentrale Stelle (verkürzt): „Gott“ von ganzem Herzen lieben und den Nächsten wie sich selbst! Rabbi Jesus lobt ihn: „Du hast richtig geantwortet. Tu das! So wirst du leben.“ Der Gelehrte, indem er sich rechtfertigt, stellt die Suggestivfrage: „Nun, wer ist mein Nächster?“ (10,25-29)

Mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigt Jesus, dass es weniger auf die Frage ankommt, wer mein Nächster ist, sondern vielmehr, wem ich zum Nächsten werde: „Wer ist der Nächste dessen geworden, der von den Räubern überfallen wurde?“ - „Der das Werk des Erbarmens an ihm getan hat.“ - „Geh und tu auch du desgleichen!“

Verblüffend einfach scheint die Ethik des Nazareners. Sie bestätigt, dass sich barmherziges Verhalten an Notleidenden, Elenden, sozial Schwachen, Benachteiligten orientiert, auch an denen, die ungerecht behandelt oder zu Unrecht verurteilt werden. Sie sind die Zielpersonen des Erbarmens. Der Aufruf zur Barmherzigkeit hat ein gewisses Pendant zur sog. Goldenen Regel (Lk 6,31; Mt 7,12): „Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt sein wollt.“ - Deshalb heißt es im Folgenden (Lk 6,37-38):

„Und richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Und verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Sprecht frei, dann werdet auch ihr freigesprochen werden. Gebt, dann wird euch gegeben werden. (…) Denn mit welchem Maß ihr messt, wird euch wieder zugemessen werden.“ Diese Entsprechungen bewahren im konkreten Einzelfall vor geistlichem Hochmut, vor der Arroganz des Besserwissens, vor der Selbsttäuschung zu meinen, man hätte eine hochwertigere Moral, man wäre weltanschaulich auf dem richtigeren Weg, oder man wäre einfach ein besserer Mensch.

Diese einseitigen Einschätzungen unserer selbst sind meist unbewusst und deshalb auch die missbilligende Geringschätzung vieler Mitmenschen. Erst wenn man uns mit einer solchen Haltung begegnet, wird mitunter das eigene Verhalten offenbar, es sei denn es mangelt schon erheblich an selbstkritischem Bewusstsein.

Ohne diese Konkretionen wäre man allzu leicht geneigt, barmherziges Verhalten gegenüber Schwächeren oder Schuldiggewordenen misszuverstehen. Barmherzigkeit hat - ähnlich wie Gnade - nämlich einen Beigeschmack des Herablassens, des Großmütigen, Großzügigen, Gönnerhaften. Das setzt ein hierarchisches Gefälle und entsprechende Wertungen voraus.

Sind Denken und Sprachgebrauch in Theologie und Kirche seit der Reformation über diese negative Seite hinausgelangt, oder bleiben wir vom Gottes- wie vom Menschenbild her jenen Vorstellungen von Erbarmen verhaftet? Mag sein, dass ich Luther falsch verstehe. Aber das von ihm vertretene Gottesbild begegnet bis heute, und das Menschenbild gestaltet sich dementsprechend: Der Mensch als elender Sünder bedarf der Gnade und Barmherzigkeit „Gottes“, dessen ewige Güte und Erbarmen zwar unter ewigem Zorn, dessen Gerechtigkeit zwar unter Ungerechtigkeit verborgen liegen, an den zu glauben, ihm zu vertrauen, aber „ein gar süßer Trost“ sei. Ohne den Glauben könne man diesen „Gott“ nicht begreifen: „Wenn ich also auf irgendeine Weise verstehen könnte, wie dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der so viel Zorn und Ungerechtigkeit an den Tag legt, wäre der Glaube nicht nötig.“

Martin Luther: Vom unfreien Willen (1525). Martin Luther: GW, S. 2022, (vgl. Luther-W Bd. 3, S. 194)

http://www.digitale-bibliothek.de/band63.htm

 

Mit solchen Glaubensvorstellungen wird man eher unbarmherzig. Vielmehr müsste es heißen: Werdet barmherzig gegen euch selbst, dann werdet ihr auch barmherzig anderen gegenüber sein. Viele Menschen schleppen eine Riesenlast von religiösem Ballast, abstrusen Ideen und verwirrenden Gedanken herum. Ihnen gilt das Wort des Rabbi Jesus (Mt 11,28): „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“; „heran zu mir alle, die ihr euch abmüht und überbürdet seid: Ich werde euch aufatmen lassen“ (cf. F. Stier).

 

Gewisse Fragen, nämlich gerade solche wie die nach der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit „Gottes“, dürfen im Grunde nicht gestellt und schon gar nicht in der Tiefe diskutiert werden; sie werden permanent verdrängt, und das belastet - unmerklich oder sogar spürbar: „Ich kann es nicht verstehen, aber ich muss es doch glauben, Herr Pfarrer!“ - Manchmal hilft Humor zur Eröffnung eines echten Gesprächs, in dem das Ergebnis nicht unbedingt von vornherein fest steht: „Ach, wissen Sie, einmal müssen wir alle dran glauben!“

 

Aber im Ernst: So treffend und wirksam die Aufforderung auch auf dem ersten Blick sein mag: „Werdet barmherzig, wie euer (himmlischer) Vater barmherzig ist!“, so fraglich oder zweideutig erscheint sie bei näherer Betrachtung. Die Vorstellung vom barmherzigen Gott ist in keiner Weise ein stimmiges Gottesbild. Will man wie Luther daran festhalten, dass hinter „Gottes“ Zorn und Ungerechtigkeit doch letztlich seine Barmherzigkeit und Gerechtigkeit verborgen sei, überfordert das menschliches, wahrhaftiges Denken und Vertrauen.

 

Was bleibt, entspricht eher steiler, mittelalterlicher Dogmatik: „Credo quia absurdum“ - „Ich glaube, (gerade) weil es widersinnig (gegen die Vernunft) ist“! Auch das „Glaubens“- oder besser: Denkmodell vom „Deus revelatus“ und „Deus absconditus“, vom offenbarten versus verborgenen „Gott“ übersteigt das geistige Fassungsvermögen vieler Menschen. Zusätzlich verführen diese intellektuellen Entwürfe, unsägliches Leid, herrschende Ungerechtigkeit - all die Gräueltaten unter Menschen und die fortwährende Zerstörung der Natur genau dieser dogmatischen, pseudo-religiösen Geisteshaltung unterzuordnen:

 

Was auch geschehen ist, was auch geschieht - es widerspräche nicht der Barmherzigkeit und Güte „Gottes“! Wenn ein Mensch von Kind auf diese Anschauung vermittelt bekommt und sich als Erwachsener damit identifiziert, ist er vielleicht nicht mehr in der Lage, die Szenarien weltweiter Gewalt als solche wahrzunehmen. Es ist allzu leicht, sich damit zu beruhigen oder zu trösten, dass „Gott“ letztlich gütig und barmherzig ist und Leben, Friede und Heil schenkt, („denen die ihn lieben“). Es besteht die Gefahr, dass ich dann unempfindlich werde gegenüber dem Bösen: gegenüber Folter, Vergewaltigung, Mord; unsensibel gegenüber unverschuldetem Leid: die tiefe, untröstliche Trauer einer Mutter, die ihr Kind durch einen Unfall aufgrund fahrlässiger Tötung durch einen angetrunkenen Autofahrer verloren hat, oder eines Mannes, der aufgrund eines ärztlichen Versagens den Tod seiner aufrichtig geliebten Ehefrau betrauert.

Schwerer ist es, das Leid anderer Menschen auszuhalten, wenigstens zu einem kleinen Teil mitzutragen: Einer trage des anderen Lasten, so werdet ihr die Weisung Christi erfüllen (Gal 6,2)! Manchmal ist vorübergehendes Schweigen angebrachter als ein frommer Spruch, der sich peinlicherweise schnell als frommes Geschwätz erweisen kann. Wo man einander bereits kennt, wo Vertrauen oder sogar eine gewisse Vertrautheit besteht, ist es unter Umständen nicht verfehlt, durch eine spürbare Geste Mitgefühl zu zeigen. Wenn die berüchtigte Frage aufkommt, warum „Gott“ das erfahrene Leid zulässt, wäre es barmherziger, zu der eigenen Ohnmacht zu stehen, nämlich, keine befriedigende Antwort geben zu können - wesentlich besser, als mit einer vorgefertigten, einstudierten Scheinlösung aufzuwarten.

Barmherzig nenne ich es auch, wenn wir Kinder ohne ein geschlossenes Weltbild erziehen, von dem sie später einmal merken würden, dass es hinten und vorne nicht einleuchtet. Wenn ich die kindliche Neugier fördere und das Staunen angesichts der vielfältigen Schönheit in der Natur; wenn wir aufmerksam und sorgsam den Fragen der Sprösslinge lauschen und danach trachten, sie nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten, wäre das keine barmherzige Erziehung? Dazu gehört auch, dass ich dem Kind sage: Das weiß ich nicht! Wenn ich mein Denken offen halte, offen für neue Erkenntnisse, wenn ich lernbereit bleibe und Zweifel an scheinbar sicherem Wissen zulasse, dann bin ich dem Kind Vater oder Mutter, Freundin und Gefährte zugleich. So versuche ich, den Vertrauensvorschuss einzulösen, den es mir gewährt.

Unbarmherzig wäre in meinen Augen eine Erziehung, die dem Kind Antworten auf nicht gestellte Fragen vermittelt oder gar traditionelles Gedankengut und religiöse Rituale aufnötigt und deren Inhalte einimpft, weil das eben zu einem guten (bürgerlichen) Leben (als Christ) gehöre. Die Folge ist, dass diese Menschen dann später als Erwachsene nicht in der Lage sind, ihren „Glauben“ zu reflektieren, geschweige denn darüber Auskunft zu geben oder ihn nur zu diskutieren vermochten. Ich bin auf diese Erfahrung seit meiner eigenen Konfirmandenzeit in allen Bereichen kirchlichen Lebens leider immer wieder gestoßen. Es ist kein Wunder, wenn Menschen sich allmählich vermehrt von der sog. Volkskirche abwenden und allenfalls noch die sog. Amtshandlungen oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen, was schließlich als Kirchensteuerzahler ihr gutes Recht ist.

Wir müssen den Menschen zeigen, dass wir uns für sie interessieren, dass wir am Schicksal Einzelner Anteil nehmen. Dazu gehört auch, dass sich Mitarbeiter in der Kirche öffnen, dass wenigstens die Möglichkeit besteht, sie ein wenig kennenzulernen. Okay, es gibt Leute, die sind zufrieden damit, wenn sie nur mit Amtspersonen und Würdenträgern zu tun haben, die ihnen dann auch nicht zu nahe treten. Aber es gibt Menschen an den Rändern, die sich über warmherzige (!) Begegnungen freuen. Insbesondere ausländische Mitbürger vermissen solche menschlichen Kontakte; sie zu ermöglichen, wäre auch ein Akt der Barmherzigkeit.

Dies alles schließt keineswegs die Notwendigkeit aus, dass Kinder Erziehung und Ausbildung, Erwachsene Weiterbildung und Führung, sowie Gemeinschaft ein Leitungsorgan brauchen. Es kommt aber nicht nur auf die Inhalte an, die vermittelt werden; es hängt mehr von der Art und Weise des Weitergebens ab, als es gemeinhin eingeschätzt wird. Lukas kommt darauf nun in Form einer Gleichnisrede Jesu zu sprechen (6,39-42).

Da ist zunächst vom „blinden Blindenführer“ die Rede; dieses Wort ließ mich sogleich an das berühmte Gemälde von Pieter Brueghel d.Ä. denken: „Der Blindensturz“, 1568 (Tempera auf Leinwand, 86 x 154 cm, Museo Nazionale di Capodimonte; Datenbank: HeidICON - Europäische Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Universitätsbibliothek).

Mit dem Bild vom „blinden Blindenleiter“ übt Lukas scharfe Kritik an Gemeindesituationen: Gemeindeglieder, Leitungsorgane eingeschlossen, meinen, sie seien „sehend“, d.h. sie hätten in ihrer Meinung nach wichtigen Belangen die richtige Erkenntnis, das erforderliche Wissen, nehmen aber selbst nicht wahr, wie sehr sie danebenliegen, sind faktisch „blind“. Ihnen darf man keine leitende Funktion und Position mehr anvertrauen, weil sonst die Gefahr besteht, dass sie folgenreiche Entscheidungen zum Schaden der Gemeinde treffen, beteiligte Personen vor den Kopf stoßen und in der Öffentlichkeit dem Ansehen der Kirche beträchtlich schaden.

Anhand von Pieter Brueghels „Blindensturz“ sieht man darüber hinaus noch, was geschieht, wenn sich mehrere Blinde einem Blindenleiter anschließen. Ich verstehe das Bild einmal im Zusammenhang mit der Gleichnisrede bei Lukas als eine Warnung davor, sich womöglich der Gemeindeglieder zu entledigen, die sich mit Scharfsinn und Weitblick konstruktiv einbringen wollen. Wer die wahren Motive gewisser Emporkömmlinge und dubioser Gemeindevertreter nicht erkennt und sich von ihnen blenden lässt, bleibt in einer Gemeinschaft der Blinden:

Bei Brueghel sind die Blinden wie an einer Kette aufgereiht unterwegs, jeder hat die Schulter des Vorangehenden oder dessen nach hinten gereichten Blindenstab erfasst, den Kopf mit den blinden Augen emporgehoben - während wohl jeder Sehende den Blick auf den unebenen Boden gerichtet hätte. Der vorderste der Männer ist gestürzt. Er liegt mit dem Rücken in dem Gewässer am rechten Bildrand, die angewinkelten Beine dem Betrachter entgegen gestreckt und die Arme hilflos emporgehoben. Der zweite in der Reihe wurde von dem Gestürzten mitgerissen und ist im Moment des Fallens dargestellt. Sein Körper ist bereits um 45 Grad nach vorn (im Bild nach rechts) gekippt, er hat den Kopf dem Betrachter zugewandt - der Schrecken ist ihm ins Gesicht geschrieben. Der Dritte folgt auf den Zweiten nach einer kleinen Lücke und befindet sich in der vorderen Bildmitte. Er hält den Stock des Zweiten mit der nach vorn gestreckten Linken fest, kommt dadurch ins Stolpern und ist bereits ein wenig nach vorn (im Bild nach rechts) geneigt. Sein Gesicht zeigt die Verwunderung über das Geschehen vor ihm, das er wohl nur erahnen kann. Die drei anderen, in der linken Bildhälfte, ahnen noch nicht, was ihnen blüht, sie tappen, einander an den Schultern haltend, von links im Gänsemarsch hinterher.

Lukas verbindet das Bildwort vom blinden Blindenführer mit dem Lehrer-Schüler-Verhältnis: In einer (christlichen) Gemeinde kann man nicht auf Lehrer verzichten; junge und erwachsene Gemeindeglieder sollen unterrichtet werden. Nur darf sich der Unterrichtende nicht einbilden, alles zu wissen, was für das geistliche Leben relevant ist; er ist nicht der Alleinsehende - die Schüler sind aber auch nicht die Alleinsehenden. Das Sozialverhalten in der Gemeinde sollte also - wie beim Urteilen - keiner Überheblichkeit und keiner Anmaßung Raum geben.

Vielleicht stehen Lehrer oder Leiter einer Gemeinde manchmal in der Gefahr, keine andere Meinung außer ihrer eigenen (mehr) gelten zu lassen, während diejenigen, welche die Chance hätten, noch etwas über ihren Horizont hinaus zu lernen oder zu erkennen, Gefahr laufen, sich genau demgegenüber zu verschließen. Lehre ist nicht gleich Belehrung. Wissensvorsprung ist nicht zwangsläufig damit verbunden, dass sich ein Akademiker über Menschen mit einfacher Bildung erhebt und blind wird für ihre oft hilfreichen Beiträge, unabhängig vom Lesen kluger Bücher. Ich habe mich oft gefragt, warum sich das hochqualifizierte, kostspielige Studium der Pfarrerschaft in den Gemeinden vergleichsweise wenig auswirkt oder niederschlägt.

Stattdessen degenerieren Geistliche, Seelsorger und Lehrer einer Gemeinde zu Spezialisten in Fragen der Organisation und Verwaltung, des Bau- und Finanzwesens, der PR-Arbeit, der Personalführung und der Teilhabe an kommunalpolitischen Entscheidungen. Welcher Pfarrer nimmt sich dann noch Zeit für persönliche Kontaktpflege (z.B. Hausbesuche)?!

Ohne ehrenamtliche Mitarbeiter, ohne ihr treues, zuverlässiges Engagement stünde es um die Präsenz und die Bedeutung der Kirchen in unserer Gesellschaft noch schlechter als ohnehin.

Weil in der Gesellschaft wie leider auch in Kirchengemeinden anstelle des barmherzigen Handelns oder Verhaltens Phänomene wie üble Nachrede, Rufschädigung und Rufmord in der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz grassieren, wäre es sicher angebracht, Barmherzigkeit neu aufkeimen zu lassen, gegen den Strom zu schwimmen und ein leuchtendes Beispiel dafür zu geben, dass wir einfühlsam und einigermaßen gerecht oder fair miteinander umgehen können.

Amen.



Pfarrer Thomas Bautz
Bonn
E-Mail: thomas.bautz@ekir.de

Bemerkung:
Literatur
François Bovon: Das Evangelium nach Lukas, EKK III/2 (1996), 306ff, 322-335. Wilfried Eckey: Das Lukasevangelium unter Berücksichtigung seiner Parallelen (2004), 315-326. Hans Klein: Das Lukasevangelium, übersetzt und erklärt, KEK (2006), 259-264. Michael Wolter: Das Lukasevangelium, HNT 5 (2008), 260-263. Detlev Dormeyer: Das Lukasevangelium. Neu übersetzt und kommentiert (2011), 74-80. TRE 5 (1979): Art. Barmherzigkeit, 215-238. Das Neue Testament. Übersetzt von Fridolin Stier (1989).



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